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Walter Lippmann - Die Öffentliche Meinung

Walter Lippmann • Schlüsselstellen aus Lippmanns Beitrag zur Demokratietheorie   (Last Update: 27.11.2019)

Was droht möglicherweise unserer individuellen Freiheit und unserer demokratischen Staatsform? Werden nicht z.B. durch die lückenlose Digitalisierung Wahlen immer manipulierbarer – sind sie das nicht vielleicht sogar längst – und wird der Bewegungsspielraum von jedem von uns nicht vielleicht kleiner statt größer? Und wird uns das alles nur abgekauft gegen ein Taschengeld an Bequemlichkeit, dass wir bestimmte Internetangebote wie GoogleMap kostenlos nutzen dürfen? Billige Annehmlichkeiten statt wertvolle Freiheiten?

Was ist mit den vielen Alarmismen und Hass-Mails, die uns neuerdings im Internet begegnen? Ist nicht auch die Zunahme des Populismus ein deutlicher Hinweis auf Desinformation und die leichte Beeinflussbarkeit der Menschen, uns selbst nicht ausgenommen, die um so unheimlicher wird, je weniger wir in der vernetzten Welt nachhalten können, wer im einzelnen dahintersteckt?


Was begrenzt unsere Urteilsfähigkeit? Hat individuelle Urteilskraft überhaupt noch eine Chance?


Zu dieser Frage lieferte Walter Lippmann bereits 1922 einen Beitrag, der bis heute aktuell und lesenswert ist. Walter Lippmann gilt in den USA als der am meisten gelesene politische Autor des 20. Jahrhunderts überhaupt. Er war Berater einer ganzen Reihe von Präsidenten von Woodrow Wilson bis Kennedy. Es ist gerade heute wieder spannend zu lesen, was er über „Die öffentliche Meinung“ und wie sie zustande kommt damals schrieb. „Die öffentliche Meinung“ ist ein aufklärerisches Buch über 'die Bilder in unserem Kopf', geschrieben im Format eines Machiavelli. Er stellt m.E. wesentliche Begriffe bereit, die wir uns heute in Internet-Zeiten erst wieder mühsam neu erarbeiten müssen und er erklärt sie ausgesprochen luzide.


Daraus entwickelt er allerdings eine kontroverse, diskussionsbedürftige Position zur Rolle der Informationseliten in modernen Demokratien.


Ich verdanke die Wiederentdeckung dem österreichischen Kulturwissenschaftler Walter Ötsch, der Lippmanns Buch mit einem ausgezeichneten Vorwort versehen und 2018 neu herausgegeben hat.






aus: Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung



Walter Lippmann beginnt Die öffentliche Meinung mit seinem Kerngedanken: Menschen verfügen über keinen einfachen und direkten Zugang zu der »äußeren Welt«, stattdessen ist eine »Pseudoumwelt« dazwischen angesiedelt. Allein auf diese Vorstellungswelt reagieren Menschen. Aber ihr Handeln hat Folgen, – nicht in der Vorstellungswelt, sondern in der Realität, der Handlungswelt. Aber die Welt, wie sie in der Vorstellung erscheint, ist nicht einfach nur einer Form des Individuell-Subjektiven im Menschen, sondern eine notwendige »Fiktionen«,

»ein Bild der Umwelt, wie es sich der Mensch mehr oder weniger selbst schafft. Die Reihe der Fiktionen beginnt bei der vollkommenen Halluzination und endet bei der völlig bewussten Anwendung eines schematischen Modells durch den Wissenschaftler oder bei dessen Folgerung, dass für sein besonderes Problem jenseits einer bestimmten Anzahl von Dezimalstellen Genauigkeit unwichtig ist.«



Im modernen Leben, so Lippmann, verfügen wir weder über die Kraft noch die Fähigkeit, unsere eigenen Vorstellungen in und mittels direkter Erfahrung auszubilden. Stattdessen leben wir in einer »sekundär erfahrenen Wirklichkeit«, in der wir über Vorstellungen von Dingen, Prozessen und Menschen verfügen, bevor wir ihnen überhaupt jemals begegnen und doch aufgrund dieser Bilder ein Urteil über sie fällen, das handlungsleitend wird. Wenn weder »Zeit noch Gelegenheit für eine nähere Bekanntschaft« ist, dann müssen wir nach Lippmann »den Rest des Bildes mittels der Stereotypen, die wir in unseren Köpfen herumtragen« füllen. Damit wird durch Bilder eine soziale Realität geschaffen, in der Menschen handeln.


Lippmanns Sorge ist, dass die »Demokratie in ihrer ursprünglichen Gestalt sich niemals ernsthaft mit dem Problem auseinandergesetzt hat, das daraus entsteht, dass die inneren Bilder der Menschen nicht automatisch mit der äußeren Welt übereinstimmen«.


Es folgt ein Exzerpt des Buches entlang der Schlüsselstellen, die heute m.E. noch die gleiche Relevanz haben wie in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als Lippmann das Buch schrieb:




Teil 1 (Die äußere Welt und die Bilder in unseren Köpfen)


„Im Jahre 1914 lebten ein paar Engländer zusammen mit Franzosen und Deutschen auf einer Insel inmitten des Meeres. Kein Funkspruch erreichte dieses Eiland, und der britische Postdampfer legte nur alle zwei Monate einmal hier an. Er war im Laufe des Septembers noch nicht eingelaufen, und die Inselbewohner unterhielten sich noch über die letzte Zeitung, in der von dem bevorstehenden Prozess gegen Madame Caillaux berichtet wurde, die Gaston Calmette1 erschossen hatte. Die ganze Kolonie versammelte sich daher an einem Tag Mitte September mit mehr als gewöhnlichem Interesse am Landesteg, um gleich vom Kapitän zu erfahren, wie nun das Urteil ausgefallen sei. Sie erfuhren stattdessen, dass ihre englischen und französischen Landsleute bereits seit mehr als sechs Wochen gegen die Landsleute der Deutschen kämpften. Sechs merkwürdige Wochen gingen die Inselinsassen in der Annahme, noch Freunde zu sein, während sie tatsächlich bereits Feinde waren.“


„Die einzige Empfindung, die jemand anlässlich eines Ereignisses haben kann, das er nicht selbst miterlebt, ist die Empfindung, die von seiner geistigen Vorstellung dieses Ereignisses hervorgerufen wird. Erst wenn wir wissen, was andere zu wissen glauben, können wir wirklich ihre Handlungen verstehen.“


Wir müssen „ein gemeinsames Element besonders hervorheben: die Einfügung einer Pseudoumwelt zwischen Mensch und Umwelt. Sein Verhalten ist die Reaktion auf diese Pseudoumwelt. Gerade weil es sich um eine Verhaltensweise handelt, zeigen sich die Folgen, sofern es sich um Handlungen handelt, nicht in der Pseudoumwelt, von der das Verhalten angeregt wird, sondern die Handlung vollzieht sich in der realen Umwelt. Ist das Verhalten nicht eine konkrete Handlung, sondern das, was wir grob Gedanken und Empfindungen nennen, so kann es lange dauern, bis im Gewebe der Phantasiewelt ein Riss erkennbar wird. Wenn jedoch der Anreiz der Pseudo-Tatsache zu Handlungen führt, die auf Dinge oder andere Personen einwirken, erhebt sich bald Widerspruch. Dann nimmt der Kopf wahr, dass er gegen eine Mauer stößt, dass er aus Erfahrung lernt, und erlebt an Herbert Spencers Tragödie von der Ermordung einer schönen Theorie durch eine Bande brutaler Fakten den Schmerz der Fehlanpassung. Zweifellos erfolgt die Anpassung des Menschen an seine Umwelt auf der Ebene gesellschaftlichen Lebens durch das Medium der Fiktionen.


Unter Fiktionen verstehe ich nicht etwa Lügen. Ich verstehe darunter ein Bild der Umwelt, wie es sich der Mensch mehr oder weniger selbst schafft. Die Reihe der Fiktionen beginnt bei der vollkommenen Halluzination und endet bei der völlig bewussten Anwendung eines schematischen Modells durch den Wissenschaftler oder bei dessen Folgerung, dass für sein besonderes Problem jenseits einer bestimmten Anzahl von Dezimalstellen Genauigkeit unwichtig ist. Ein fiktives Werk kann fast jeden Grad der Wirklichkeitstreue aufweisen, und solange man überhaupt den Grad der Wirklichkeitstreue rechnerisch bestimmen kann, führt die Fiktion nicht in die Irre. Tatsächlich ist die menschliche Kultur in sehr hohem Grade die Auswahl, die Wiederanordnung, die Aufstellung und Stilisierung von Mustern nach »dem zufälligen Ausstrahlen und der Wiederberuhigung unserer Ideen« (…). Die Alternative zur Anwendung von Fiktionen ist das unmittelbare Erleben des Auf und Ab der Sinneswahrnehmungen. Das ist jedoch keine echte Alternative, denn so erfrischend es sein mag, von Zeit zu Zeit mit völlig unschuldigem Auge in die Welt zu blicken, so ist doch Unschuld selbst keine Weisheit, wenngleich eine Quelle und ein Korrektiv der Weisheit.


Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht dafür ausgerüstet, es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen zu können. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können. Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben. Ihre beständige Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich Karten beschaffen müssen, die nicht bereits durch ihre eigenen Bedürfnisse oder die Bedürfnisse irgendeines anderen verfälscht worden sind.“


Schönes Eskalationsbeispiel in Kap 1.4


Zur Komplexität politischer Entscheidungen:

„Vielleicht gibt es fünfzig souveräne Parlamente, die aus mindestens hundert gesetzgebenden Körperschaften bestehen. Zu ihnen gehören mindestens fünfzig Hierarchien von Provinz- oder Stadtvertretungen, die mit allen ihren Legislativ-, Exekutiv- und Verwaltungsorganen die äußere Regierungsgewalt auf der Erde darstellen. Aber damit allein ist noch nicht die Komplexität des politischen Lebens erklärt. Denn innerhalb dieser zahllosen Regierungszentren bestehen Parteien, und diese Parteien stellen in sich selbst wiederum Hierarchien dar, die ihre Wurzeln in Klassen, Volksgruppen, Cliquen und Familien haben; und innerhalb dieser Gruppen lebt der Politiker, jeder der personale Mittelpunkt eines Gewebes von Beziehungen und Erinnerungen, Befürchtungen und Hoffnungen. Aus Gründen, die oft im Verborgenen bleiben – als Folge von Machtverhältnissen oder Kompromissen oder eines politischen Kuhhandels – treten aus diesen politischen Körperschaften Kommandos hervor, die Armeen in Bewegung setzen oder Frieden schließen, Soldaten einberufen, Steuern einziehen, Menschen ausweisen oder ins Gefängnis werfen, ihr Eigentum beschützen oder beschlagnahmen, die zu der einen Unternehmung ermutigen und von der anderen abraten, die Einwanderung erleichtern oder behindern, die Kommunikationsmittel verbessern oder zensieren, Schulen errichten, Flotten bauen, eine »Politik« und eine »nationale Bestimmung« proklamieren, Wirtschaftsschranken errichten, Eigentum schaffen oder vernichten, ein Volk unter die Herrschaft eines anderen bringen oder eine Klasse gegenüber einer anderen begünstigen und sich gegen eine dritte wenden. Bei jeder dieser Entscheidungen gibt eine bestimmte Betrachtungsweise der Tatsachen den Ausschlag, liegt eine bestimmte Auf-fassung der Umstände als Grundlage für das Eingreifen und als Gefühlsanreiz zugrunde.“


„Hier liegt also der Schlüssel zu unserer Untersuchung. Wir werden behaupten, dass alles, was der Mensch tut, nicht auf unmittelbarem und sicherem Wissen beruht, sondern auf Bildern, die er sich selbst geschaffen oder die man ihm gegeben hat. Wenn ihm sein Atlas sagt, die Erde sei flach, wird er nicht in die Nähe des Gebietes segeln, das er für den Rand unseres Planeten hält, weil er fürchtet hinabzufallen. (…) Die Art und Weise, wie der Mensch sich die Welt vorstellt, wird in jedem einzelnen Augenblick darüber bestimmen, was er tut. Sie wird aber nicht darüber bestimmen, was er tatsächlich erreicht. Sie bestimmt das Maß seiner Anstrengungen, seine Gefühle, seine Hoffnungen, nicht seine Leistungen und Ergebnisse. Worauf gründen die Menschen, die am lautesten ihren »Materialismus« und ihre Verachtung für »Ideologien« verkünden, die marxistischen Kommunisten, ihre ganze Hoffnung? Auf die Formung des Menschen durch die Propaganda für eine klassenbewusste Gruppe. Aber was ist Propaganda, wenn nicht die Bemühung, das Bild zu ändern, auf das die Menschen reagieren, das heißt ein Gesellschaftsmodell durch ein anderes zu ersetzen?“


„In dem Kapitel über die äußere Welt werden wir zuerst die Hauptfaktoren betrachten, die den Zugang des Menschen zu den Tatsachen behindern. Es sind die künstliche Zensur, die Begrenzung des gesellschaftlichen Kontaktes, die verhältnismäßig geringe Zeit, die man täglich für die Beachtung öffentlicher Angelegenheiten zur Verfügung hat, die Entstellung von Tatsachen infolge ihrer Komprimierung in sehr kurze Mitteilungen, die Schwierigkeit, mit einem kleinen Wortschatz eine komplizierte Welt auszudrücken, und schließlich die Furcht, sich den Tatsachen zu stellen, die die festgelegte Routine des menschlichen Lebens bedrohen.

Die Analyse wendet sich dann von diesen mehr oder weniger äußeren Begrenzungen zu der Frage, wie diese von außen hereinsickernden Botschaften von den auf Lager liegenden Bildern, vorgefassten Meinungen und Vorurteilen berührt werden, die jene Botschaften deuten, ausschmücken und ihrerseits kräftig das Spiel unserer Aufmerksamkeit und unserer Sicht lenken. Sodann untersucht die Analyse, wie in der Einzelperson die begrenzten Botschaften von außerhalb, in ein Stereotypenmodell gebracht, mit ihren eigenen Interessen identifiziert werden, so wie sie sie empfindet und begreift. In den folgenden Abschnitten untersuchen wir, wie Meinungen sich zu dem, was Öffentliche Meinung genannt wird, kristallisieren, wie ein nationaler Wille, ein Gruppengeist, ein soziales Ziel, oder wie immer man es nennen will, gebildet wird.“


„Ich behaupte, dass ein repräsentatives Regime weder in dem, was gewöhnlich Politik genannt wird, noch in der Industrie erfolgreich funktionieren kann, gleichgültig, wie das Wahlsystem aussieht, wenn es nicht eine unabhängige, sachkundige Organisation gibt, welche die ungesehenen Tatsachen für diejenigen verständlich macht, die die Entscheidungen zu treffen haben. Ich versuche deshalb darzulegen, dass nur die ernst gemeinte Übernahme des Prinzips der Ergänzung persönlicher Repräsentation durch die Repräsentation der ungesehenen Tatsachen uns eine befriedigende Dezentralisation und gleichfalls ein Entrinnen aus der unerträglichen und undurchführbaren Fiktion gestattet, dass jeder von uns eine kompetente Meinung zu allen öffentlichen Angelegenheiten erlangen müsse. Es wird vorgetragen, dass das Problem der Presse deshalb so verwirrend sei, weil ihre Kritiker und ihre Verteidiger von ihr erwarten, dass sie diese Fiktion erkennt, dass sie all das ausfülle, was in der Theorie von der Demokratie nicht vorgesehen ist, und dass die Leser dieses Wunder vollbracht zu sehen wünschen, ohne die Kosten dafür tragen zu müssen oder in ihrer Ruhe gestört zu werden. Die Zeitungen werden von den Demokraten als Universalheilmittel für ihre eigenen Fehler betrachtet, wohingegen die Analyse der Natur der Nachrichten und die wirtschaftliche Basis des Journalismus’ eher zu zeigen scheinen, dass die Zeitungen notwendig und unvermeidlich den mangelhaften Aufbau der öffentlichen Meinung widerspiegeln und daher mehr oder weniger noch verstärken. Meine Schlussforderung besteht darin, dass öffentliche Meinungen für die Presse organisiert werden müssen, wenn sie vernünftig sein sollen, und nicht von der Presse, wie es heute der Fall ist. Diese Organisation sehe ich als Aufgabe vor allem einer politischen Wissenschaft, die vor einer realen Entscheidung ihren eigenen Standpunkt gewonnen hat und formuliert, statt die Entscheidung im Nachhinein zu verteidigen, zu kritisieren, oder Berichterstatter zu sein. Ich versuche zu zeigen, dass die allgemeine Ratlosigkeit in Regierung und Industrie der politischen Wissenschaft die große Chance zur Selbstermächtigung und zum Dienst am öffentlichen Leben gibt.“


Teil 2 (Annäherungen an die äußere Welt)


„Ohne eine gewisse Form der Zensur ist Propaganda im strengen Sin-ne nicht möglich. Um Propaganda zu betreiben, muss eine gewisse Schranke zwischen Öffentlichkeit und Ereignis errichtet werden. Der Zugang zu der wirklichen Umwelt muss begrenzt werden, ehe jemand eine Pseudoumwelt errichten kann, die er für klug oder wünschenswert hält. Denn während Leute, die unmittelbaren Zugang haben, missverstehen können, was sie sehen, kann niemand sonst darüber bestimmen, wie sie es missverstehen sollen, es sei denn, jemand könnte bestimmen, wohin sie schauen und was sie sehen sollen. Die militärische Zensur ist die einfachste Form dieser Schranke, aber keinesfalls die wichtigste, weil man weiß, dass sie existiert und man ihr daher in gewisser Weise zustimmen oder sie ablehnen kann. “


„Es ist (...) oft aufschlussreich, sich selbst zu fragen, wie man zu den Fakten gelangt ist, auf denen die eigene Meinung basiert. Wer sah, hörte, fühlte, erzählte, erwähnte die Angelegenheit, zu der man eine Meinung hat? War es der Mann, der es einem selbst erzählte, oder der Mann, der es ihm wiedererzählte, oder jemand noch Fernerstehender? Und wieviel war ihm zu sehen gestattet? Wenn er einem erzählt, dass Frankreich dies und das denkt, welchen Teil Frankreichs hat er beobachtet? Wie konnte er ihn beobachten? Wo war er, als er ihn beobachtete? Mit welchen Franzosen konnte er sprechen, welche Zeitung hat er gelesen, und wo haben sie erfahren, was sie sagen? Man kann sich diese Fragen selbst stellen, aber man kann sie nur selten selber beantworten. Sie erinnern einen jedoch daran, wie weit oft die eigene »öffentliche Meinung« von dem Ereignis entfernt ist, mit der sie es zu tun hat. Und die Erinnerung ist selbst ein Schutz.“


„Wer oberflächliche Analogien klar voneinander zu trennen, Unterschiede zu beachten und Vielfalt zu würdigen vermag, besitzt Geistesklarheit. Es ist eine relative Fähigkeit. Indessen gibt es sehr große Unterschiede an Geistesklarheit, sagen wir, wie zwischen einem neugeborenen Kind und einem Botaniker, der eine Blume untersucht. Für das Kind besteht noch recht wenig Unterschied zwischen seinen eigenen Zehen, Vaters Uhr, der Lampe auf dem Tisch, dem Mond am Himmel und einer hübschen hellgelben Ausgabe von Guy de Maupassant. Für manches Mitglied des Union League Club besteht kein bemerkenswerter Unterschied zwischen einem Demokraten, einem Sozialisten, einem Anarchisten und einem Räuber, während sich für einen hochgebildeten Anarchisten ein himmelweiter Unterschied zwischen Bakunin, Tolstoi und Kropotkin auftut. Diese Beispiele zeigen, wie schwierig es sein kann, unter Kleinkindern eine gut fundierte öffentliche Meinung über Maupassant zu erlangen oder im Union League Club eine solche über die Demokraten. “


„So wird die Umwelt, mit der es unsere öffentlichen Meinungen zu tun haben, in mancherlei Weise gebrochen, von der Zensur und der Geheimhaltung an der Quelle, von physischen und sozialen Schranken am anderen Ende, von ungenügender Aufmerksamkeit, von Spracharmut, Ablenkungen, unbewussten Gefühlskonstellationen, natürlicher Abnutzung, Gewalt und Monotonie. Diese Einschränkungen unseres Zugangs zu dieser Umwelt verbinden sich mit der Dunkelheit und Komplexität der Tatsachen selbst und vereiteln so die Klarheit und Richtigkeit der Wahrnehmung, lassen irreführende Fiktionen als vernünftige Gedanken gelten und berauben uns der adäquaten Kontrollen derjenigen, die uns bewusst irreführen wollen.“


Teil 3 (Stereotypen)


„Jeder von uns lebt und arbeitet auf einem kleinen Fleck der Erdoberfläche, bewegt sich in einem kleinen Kreis und kennt innerhalb dieses Bekanntenkreises nur einige Menschen näher. Von jedem öffentlichen Ereignis von breiter Wirkung sehen wir bestenfalls nur einen Abschnitt und einen Aspekt. Das gilt ebenso für die großen Wissenden, die Verträge aufsetzen, Gesetze verfassen und Befehle ausgeben, wie für diejenigen, auf die die Verträge angewandt, denen die Gesetze verkündet und Befehle gegeben werden. Unsere Meinungen erfassen naturgemäß einen größeren Raum, eine längere Zeitspanne, eine größere Anzahl von Gegenständen, als wir mit eigenen Augen beobachten können. Sie müssen daher aus den Schilderungen anderer Leute und aus unseren inneren Vorstellungen zusammengesetzt werden.

Doch selbst der Augenzeuge bringt kein unvoreingenommenes Bild vom Schauplatz des Vorgangs mit. Die Erfahrung scheint zu zeigen, dass er bereits etwas zum Schauplatz mitbringt, was er später wieder mitnimmt, und dass das, was er für seinen Bericht von einem Ereignis hält, zumeist tatsächlich dessen Verklärung ist. Im Bewusstsein scheinen wenige Tatsachen bloß gegeben zu sein. Die meisten Tatsachen im Bewusstsein scheinen zum Teil konstruiert. Ein Bericht ist das gemeinsame Produkt des Kenners und des Bekannten, in dem die Funktion des Beobachters stets eine selektive und für gewöhnlich schöpferische ist. Die Tatsachen, die wir sehen, sind abhängig von unserem Standort und den Gewohnheiten unserer Augen.“


„Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, sondern definieren erst und schauen dann. In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat.“


„Hierin liegt natürlich Ökonomie. Denn der Versuch, alle Dinge frisch und im Detail zu sehen statt als Typen und Verallgemeinerungen, erschöpft und kommt bei eiligen Angelegenheiten praktisch überhaupt nicht in Frage. Im Freundeskreis und in Beziehung zu nahestehenden Partnern oder Konkurrenten gibt es keine Abkürzung und keinen Ersatz für individuelles Verstehen.“


„Die subtilsten und allgegenwärtigsten aller Einflüsse sind diejenigen, die das Stereotypenrepertoire schaffen und aufrechterhalten. Wir werden über die Welt bereits unterrichtet, bevor wir sie sehen. Wir stellen uns die meisten Dinge vor, bevor wir unsere Erfahrungen damit machen. Und diese vorgefassten Meinungen beherrschen aufs stärkste den ganzen Vorgang der Wahrnehmung, es sei denn, die Erziehung habe sie uns in aller Deutlichkeit bewusst gemacht. Sie heben gewisse Gegenstände als vertraut oder fremdartig heraus, betonen den Unterschied, so dass das oberflächlich Vertraute als besonders vertraut, das leicht Fremde als völlig fremdartig erscheint. Sie werden von kleinen Zeichen hervorgerufen, die von einem zuverlässigen Hinweis bis zu einer vagen unbestimmten Analogie variieren können. Einmal hervorgerufen, überfluten sie die frische Sicht mit älteren Bildern und projizieren in die Welt, was im Gedächtnis wiedererweckt wurde. Gäbe es in der Umgebung keine sinnvollen Gleichförmigkeiten, so würde es keine Ökonomie und nur Irrtümer in der menschlichen Gewohnheit geben, das Vorherwissen für den Anblick zu halten. Aber es gibt hinreichend exakte Gleichförmigkeiten, und die Notwendigkeit, mit der Aufmerksamkeit sparsam zu wirtschaften, ist so unabweisbar, dass der Verzicht auf alle Stereotypen um einer völlig unschuldigen Annäherung an Erfahrung willen das menschliche Leben arm machen würde.

Es zählt allein die Art der Stereotypen und die Leichtgläubigkeit, mit der wir sie anwenden. Im Endeffekt sind sie abhängig von jenen integrativen Mustern, die unsere Weltanschauung darstellen. Wenn wir in dieser Philosophie voraussetzen, dass die Welt nach einem Schlüssel, den wir selbst besitzen, kodifiziert ist, dann beschreiben wir in unseren Berichten über die Geschehnisse wahrscheinlich eine Welt, die nach unserem Code funktioniert. Wenn uns unsere Weltanschauung aber sagt, dass jeder Mensch nur ein Teilchen der Welt ist, dass seine Intelligenz bestenfalls Phasen und Aspekte in einem groben Vorstellungsnetz erfasst, dann neigen wir, bei Gebrauch unserer Stereotypen dazu, zu wissen, dass sie nur Stereotypen sind, um sie locker beizubehalten und bereitwillig zu modifizieren. Wir neigen auch dazu, immer klarer zu bemerken, wann unsere Vorstellungen ihren Ausgang nahmen, wo sie begannen, wie sie zu uns gelangten, warum wir sie übernommen haben. Der ganze verwertbare Werdegang wirkt in dieser Hinsicht antiseptisch. Wir wissen dann, welches Märchen, welche Schulbuchlektüre, welche Tradition, welcher Roman, welches Theaterstück, welcher Film, welche Phrase die eine Voreingenommenheit in diesen Kopf, die andere in jenen Kopf einpflanzte. “


„Jede Beschreibung mit Worten oder sogar jedes unbewegliche Bild erfordert eine Gedächtnisleistung, ehe das Bild in unserer Erinnerung haftet. Im Film dagegen ist der ganze Vorgang des Beobachtens, Beschreibens, Berichtens und dann des Vorstellens für den Zuschauer bereits geleistet. Ohne weitere Mühe außer der des Wachbleibens wird auf der Bildfläche das Ergebnis abgespult, nach dem deine Phantasie immer strebt. Die nebulöse Vorstellung wird lebendig; dein verschwommener Begriff, etwa vom Ku-Klux-Klan, nimmt dank Mr. Griffiths lebhafte Gestalt an, wenn du den Film »Geburt einer Nation« anschaust. (oben ist der Film in voller Länge eingebettet.) Geschichtlich mag es die falsche Gestalt sein, moralisch mag es eine gefährliche Gestalt sein, aber es ist doch immerhin eine Gestalt. Ich möchte bezweifeln, ob jemand, der den Film gesehen hat und selber nicht mehr als Mr. Griffiths über den Ku-Klux-Klan weiß, jemals den Namen wieder hört, ohne zugleich die weißen Reiter zu sehen. “


„Sie sind ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild, dem sich unsere Gewohnheiten, unser Geschmack, unsere Fähigkeiten, unser Trost und unsere Hoffnungen angepasst haben. Sie bieten vielleicht kein vollständiges Weltbild, aber sie sind das Bild einer möglichen Welt, auf das wir uns eingestellt haben. In dieser Welt haben Menschen und Dinge ihren wohlbekannten Platz und verhalten sich so, wie man es erwartet. Dort fühlen wir uns zu Hause. Dort passen wir hin. Wir gehören dazu. Dort wissen wir Bescheid. Dort finden wir den Zauber des Vertrauten, Normalen, Verlässlichen; seine Spuren und Gestalten sind genau dort, wo wir sie zu finden gewohnt sind. Und obwohl wir viel aufgegeben haben, was uns gereizt haben mag, ehe wir uns in diese Gussform hineinzwängten, sitzt sie nun, sobald wir einmal fest drinstehen, so behaglich wie ein alter Schuh.“


„Ein Stereotypenmuster ist nicht neutral. Es ist nicht nur eine Methode, der großen, blühenden, summenden Unordnung der Wirklichkeit eine Ordnung unterzuschieben. Es ist nicht nur eine Abkürzung. Es ist dies alles und noch etwas mehr. Es ist die Garantie unserer Selbstachtung; es ist die Projektion unserer eigenen Empfindung unseres eigenen Werts, unserer eigenen Stellung und unserer eigenen Rechte auf die Welt. Die Stereotypen sind daher in hohem Grade mit den Gefühlen aufgeladen, die ihnen angeheftet werden. Sie sind die Festung unserer Tradition. Hinter ihren Verteidigungsanlagen können wir uns weiterhin in der von uns gehaltenen Stellung sicher fühlen.“


„Widerspricht die Erfahrung jedoch der Stereotype, geschieht eines von zwei Dingen. Wenn der Mann nicht mehr elastisch genug ist oder ihm ein mächtiges Interesse davon abrät, seine Stereotypen umzugestalten, dann verwirft er den Widerspruch als eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, diffamiert den Zeugen, findet irgendwo eine Schwachstelle und schafft es, das Ganze zu vergessen. Ist der Betreffende aber noch wissbegierig und aufgeschlossen, so wird die neue Erfahrung in die vorhandene Vorstellung aufgenommen und darf diese abwandeln. Ist der Vorfall hinreichend eindrucksvoll und fühlt der Miterlebende ein allgemeines Unbehagen an seinem festgelegten Denkschema, so vermag das Erlebnis ihn so tief zu erschüttern, dass er allen überkommenen Arten, auf das Leben zu schauen, misstraut und damit rechnet, dass eine Sache normalerweise nicht das sein wird, wofür man sie gewöhnlich hält.“


„Sachverstand in einem Fach ist tatsächlich eine Vervielfältigung der Zahl der Aspekte, die wir zu entdecken vermögen, dazu die Gewohnheit, unsere Vorstellungen zu verringern. Wo dem Ignoranten alle Dinge gleich erscheinen und das Leben bloß ein Nacheinander der Erscheinungen ist, sind für den Spezialisten die Dinge in hohem Maße individuell“


„Was wir als vertraut erkennen, wollen wir, wenn wir nicht sehr vorsichtig sind, mit Hilfe von bereits in unserer Vorstellung vorhandenen Bildern sichtbar machen, so enthält die amerikanische Auffassung von Fortschritt und Erfolg ein genau festgelegtes Bild der menschlichen Natur und der Gesellschaft. Es ist diejenige Art menschlicher Natur und diejenige Art Gesellschaft, die folgerichtig die Art Fortschritt hervorbringen, die als ideal betrachtet wird. Wenn wir wirklich erfolgreiche Leute und Ereignisse, die sich tatsächlich zugetragen haben, zu beschreiben oder zu erklären suchen, lesen wir nachträglich die Eigenschaften in sie hinein, die in den Stereotypen vorausgesetzt werden.

Diese Stereotypen wurden in ziemlich unschuldiger Weise von den älteren Wirtschaftswissenschaftlern standardisiert. Sie begannen, das Gesellschaftssystem zu beschreiben, unter dem sie lebten, und fanden es zu kompliziert, um es in Worte zu fassen. Daher schufen sie ein, wie sie hofften, vereinfachtes Schaubild. Dies unterschied sich im Grundsätzlichen und in der Glaubwürdigkeit kaum von dem Parallelogramm mit Kopf und Füßen, das ein Kind von einer Kuh zeichnet. Das Schema bestand aus einem Kapitalisten, der emsig Kapital aus seiner Arbeit zusammengespart hatte, einem Unternehmer, der einen für die Gesellschaft wichtigen Auftrag erhalten und eine Fabrik errichtet hat, aus einer Gruppe von Arbeitern, die in freier Weise einen Arbeitsvertrag abschlossen mit Bedingungen, die sie selbst stellten, aus einem Grundbesitzer und einer Gruppe von Verbrauchern, die auf dem billigsten Markt die Waren kauften, die ihnen bei geschickter Anwendung des Vergnügen-Leid-Kalküls das größte Vergnügen bereiten würden. Das Modell bewährte sich. Die Art von Leuten, die das Modell voraussetzte, lebte in einer Art von Welt, die das Modell ebenfalls voraussetzte, und arbeitete in den Büchern, in denen das Modell beschrieben wurde, stets harmonisch zusammen.

Diese reine Fiktion, die Wirtschaftswissenschaftler verwendeten, um ihr Denken zu vereinfachen, wurde modifiziert, verbrämt und schließlich popularisiert, bis sie in weiten Teilen der Bevölkerung als Wirtschaftsmythologie des Tages die Vorherrschaft errang.“


»Niemand schaut tiefer in eine Verallgemeinerung, als seine eigene Kenntnis der Einzelheiten geht.«


„Diese Weltanschauung ist eine mehr oder minder gegliederte Reihe von geistigen Bildern zur Beschreibung der unsichtbaren Welt. Aber nicht nur zur Beschreibung, sondern auch zur Beurteilung. Daher sind die Stereotypen mit Präferenzen angereichert, von Zuneigung oder Abneigung durchdrungen, mit Befürchtungen, Lustgefühlen, starken Wünschen, Stolz und Hoffnungen verbunden. Was immer die Stereotype aufruft, wird mit dem dazu gehörenden Gefühl beurteilt. Ausgenommen dort, wo wir das Vorurteil ganz bewusst suspendieren, befassen wir uns nicht näher mit einem Menschen und bewerten ihn als schlecht. “


„Dort also gehen Kodizes so unmerklich und so allgegenwärtig in die Herstellung der öffentlichen Meinung ein. Die althergebrachte Theorie meint, dass eine öffentliche Meinung ein moralisches Urteil über eine Reihe von Tatsachen bildet. Die Theorie, die ich vorschlage, besagt dagegen, dass beim gegenwärtigen Stand der Erziehung die öffentliche Meinung vornehmlich eine moralisierte und kodifizierte Version der Tatsachen ist. Ich behaupte, dass das Muster von Stereotypen im Zentrum unserer Kodizes weitgehend bestimmt, welchen Bereich der Tatsachen wir sehen sollen und in welchem Licht wir sie sehen sollen. “



„Sooft öffentliche Angelegenheiten durch Reden, Schlagzeilen, Theaterstücke, Filme, Karikaturen, Romane, Plastiken oder Gemälde unters Volk gebracht werden, erfordert ihre Umsetzung in eine menschliche Bedeutung zuerst die Abstraktion vom Original und dann die Belebung des Abstrahierten. Wir interessieren uns nicht sehr für Dinge, die wir nicht sehen, und lassen uns von ihnen nicht erregen. Wir alle sehen nur äußerst wenig von den öffentlichen Angelegenheiten, die daher so lange langweilig und unappetitlich bleiben, bis jemand mit den Anlagen eines Künstlers sie in ein ergreifendes Bild umsetzt.“


„Ein »klarer« Denker ist fast immer jemand, der etwas gut visualisieren kann. Aber gerade, weil er »filmisch« empfindet, ist er oft oberflächlich und unempfindlich. Denn intuitiv empfindende Menschen – Intuition ist wahrscheinlich eine andere Bezeichnung für die musikalische oder muskuläre Wahrnehmung – vermögen den Wert eines Ereignisses und die innere Natur einer Handlung weitaus besser abzuschätzen als ein visueller Typ. Sie bringen mehr Verständnis auf, wenn das entscheidende Element ein Begehren ist, das niemals ungeschminkt zutage tritt und nur in einer verhüllten Geste oder im Rhythmus der Rede zum Vorschein kommt. Die Verbildlichung kann das Motiv und das Ergebnis verdecken. Doch wird das Dazwischenliegende und das Innerste durch einen visuellen Typ oft ebenso falsch wiedergegeben wie die Absicht eines Komponisten, ein zartes Mädchen darzustellen, durch einen stimmgewaltigen Sopran richtig getroffen werden kann.“


Gilt das folgende heute auch noch?

„Und so wird den Kritikern zum Trotz in der alten Auseinandersetzung über Realismus und Romantik ein Urteil gefällt. Unser gängiger Geschmack verlangt, dass das Drama in einem reichlich realistischen Rahmen seinen Ursprung nehme, damit eine Identifikation plausibel wird, und andererseits in einem Rahmen endet, der romantisch genug ist, aber wiederum nicht so romantisch, dass er unvorstellbar ist. Zwischen Anfang und Ende sind die Regeln ziemlich liberal, doch der wahrhafte Anfang und das Happyend sind die Markierungspunkte. Das Kinopublikum lehnt logisch entwickelte Phantasie ab, weil im Maschinenzeitalter es in der reinen Phantasie keine vertraute Stütze gibt. Es lehnt unablässig betriebenen Realismus ebenso ab, weil es keinen Gefallen an einer Niederlage in einem Kampf finden kann, der sein eigener geworden ist.

Was als wahr, realistisch, gut, böse oder wünschenswert gilt, ist nicht für alle Zeiten festgelegt. Diese Attribute werden vielmehr durch Stereotypen festgelegt, die aus früheren Erfahrungen gewonnen und in die Beurteilung späterer hineingetragen wurden. Wenn die finanziellen Investitionen für jeden Film und für populäre Zeitschriften nicht so ungeheuer wären, dass sie sofortige und weitreichende Popularität verlangen, könnten geistvolle und einfallsreiche Männer die Leinwand und die Zeitschriften so, wie man es sich erträumt, einsetzen, um den Bestand an Bildern, mit denen unsere Vorstellungen arbeiten, zu vergrößern und zu verfeinern, zu berichtigen und zu kritisieren. Aber bei den gegenwärtigen Kosten müssen die Filmproduzenten – wie die Kirchen- und Hofmaler vergangener Zeiten – sich an die vorgefundenen Stereotypen halten oder den Preis für enttäuschte Erwartungen zahlen. Die Stereotypen können verändert werden, aber nicht rechtzeitig, um einen Erfolg zu verbürgen, wenn der Film in sechs Monaten auf den Markt gebracht wird.“


… was hat die Digitalisierung daran geändert?


„mit zunehmender Größe des Publikums nimmt die Zahl der gemeinsamen Wörter ab. “


„Es ist nicht immer nur ein einziges Ich an der Arbeit. Deshalb ist es für die Formierung jeder öffentlichen Meinung von großer Bedeutung zu wissen, welches Ich sich engagiert hat. Die Japaner fordern das Recht, sich in Kalifornien niederzulassen. Zweifelsohne macht es aber einen großen Unterschied, ob man die Forderung als Wunsch versteht, Obst anzubauen oder die Tochter des weißen Mannes zu heiraten. Wenn zwei Nationen sich ein Gebiet streitig machen, macht es viel aus, ob die Leute die Verhandlungen als ein Grundstücksgeschäft, als einen Versuch, das Gegenüber zu demütigen, oder – in der gereizten und herausfordernden Sprache, die gewöhnlich diese Auseinandersetzungen begleitet – als einen Raub betrachten. Denn das Ich, das sich mit unseren Instinkten befasst, wenn wir an Zitronen oder entlegene Felder denken ist von dem Ich sehr verschieden, das in Erscheinung tritt, wenn wir uns auch nur potenziell in die Situation eines aufgebrachten Familienoberhauptes versetzen. In dem einen Fall ist das eigene Gefühl, das in unsere Meinung einfließt, lauwarm, im anderen rot glühend. Während es daher nur allzu wahr, ja eine Binsenwahrheit ist, dass »Eigeninteresse« die Meinung bestimmt, ist diese Feststellung erst dann aufschlussreich, wenn wir wissen, welches von vielen Ichs das solcherart aufgefasste Interesse auswählt und steuert.“



...bester Jazz am Piano ... beste Pause!

Michel Petrucciani - Sahara
(Quelle Youtube)




D. W. Griffith: Die Geburt einer Nation (1915)


Lippmann zitiert den Film als Beispiel für wirkungsvolle Propaganda. Wikipedia kommentiert den Film folgendermaßen: Die Geburt einer Nation (englischer Originaltitel The Birth of a Nation, ursprünglich The Clansman) ist ein US-amerikanischer Spielfilm des Regisseurs David Wark Griffith aus dem Jahr 1915. Der dreistündige Historienfilm war das finanziell erfolgreichste Werk der Stummfilmzeit. Er wird einerseits für seine zahlreichen filmtechnischen Innovationen gerühmt und gilt als das vielleicht bedeutendste und einflussreichste Werk der amerikanischen Filmgeschichte. Andererseits wird seit der Premiere Griffiths Werk wegen seines rassistischen Inhalts kritisiert, der unmissverständlich eine White Supremacy propagiert und maßgeblich zur Neugründung des Ku-Klux-Klans beitrug.



„Wir haben gelernt, viele Ichs in uns zu sehen, und wir sind weniger bereit, ein Urteil darüber zu fällen. Wir sehen zwar denselben Körper, aber oft einen anderen Menschen. Das hängt davon ab, ob er mit einem sozial Gleichrangigen, Tiefer- oder Höherstehenden zu tun hat; ob er einer Frau den Hof macht, die er voraussichtlich heiraten wird oder nicht; ob er um eine Frau wirbt oder sich als ihr Besitzer betrachtet; ob er sich mit seinen Kindern, seinen Partnern, seinen vertrautesten Untergebenen oder dem Chef beschäftigt, der ihn zu etwas machen oder zugrunde richten kann; ob er um seinen Lebensunterhalt kämpfen muss oder Erfolg hat; ob er mit einem freundlichen oder verachteten Fremden verhandelt; ob er sich in großer Gefahr befindet oder in völliger Sicherheit; ob er allein in Paris ist oder mit seiner Familie in Peoria.“


„Die Vorbereitung der Charaktere für all die Situationen, in denen Menschen sich befinden können, ist eine Aufgabe der sittlichen Erziehung. Natürlich hängt deren Erfolg von der Wahrhaftigkeit und dem Wissen ab, mit denen die Umwelt erforscht wurde. In einer falsch verstandenen Welt nämlich werden auch unsere eigenen Charaktereigenschaften falsch verstanden, und wir verhalten uns falsch. Daher sieht sich der Moralist vor einer Wahl: Entweder muss er ein Verhaltensmuster für jede Lebensphase anbieten, wie abstoßend etliche davon auch sein mögen, oder er muss dafür sorgen, dass seine Schüler niemals solchen von ihm missbilligten Situationen gegenüberstehen. Entweder muss er den Krieg abschaffen oder die Menschen lehren, wie dieser mit der größten psychischen Ökonomie geführt werden kann; entweder muss er das Wirtschaftsleben der Menschheit abschaffen und sie mit Sternenstaub und Tau ernähren, oder er muss die Verschlungenheiten des wirtschaftlichen Lebens erforschen und Leitbilder für das Verhalten geben, die für eine Welt passen, in der niemand Selbstversorger ist. Aber das ist genau das, was die vorherrschende Moralauffassung im Allgemeinen ablehnt.“ (Woher kommt der polemische Ton in diesem Anschnitt?)


„Die naive Sicht des Eigeninteresses lässt dies größtenteils außer Acht. Sie vergisst, dass sowohl das Ich und der Nutzen beide gewissermaßen entworfen werden, und dass sie weitgehend konventionell entworfen werden. Die gewöhnliche Lehre vom Eigeninteresse übergeht in der Regel vollkommen die Erkenntnisfunktion. So hartnäckig besteht sie auf der Behauptung, die Menschen bezögen letztlich alles auf sich selbst, dass sie unaufhörlich anmerkt, die Vorstellungen der Menschen von den Dingen und von sich selbst seien nicht angeboren, sondern erworben.“


„Es gibt keine feste Menge von Meinungen zu jeder Frage, die mit dem Dasein eines Eigentümers einer Fabrik verbunden sind, keine Ansichten zur Arbeitnehmerschaft, zum Eigentum oder zur Geschäftsführung, geschweige denn Ansichten zu weniger dringlichen Angelegenheiten. Der Determinist kann voraussagen, dass in 99 von 100 Fällen der Eigentümer gegen Versuche, ihn seines Eigentumes zu berauben, Widerstand leisten wird oder dass er eine Gesetzgebung bevorzugt, von der er annimmt, dass sie seinen Profit erhöhen wird. Da das Eigentum aber keine Zauberkraft besitzt, die einen Geschäftsmann wissen lässt, welche Gesetze ihm Wohlstand bringen werden, so gibt es im wirtschaftlichen Materialismus keine Kette von Ursache und Wirkung, die jeden zu der Vorhersage befähigte, ob der Eigentümer einen vorausschauenden oder einen kurzsichtigen, einen auf Wettbewerb oder auf Zusammenarbeit ausgerichteten Standpunkt einnehmen wird.“


Teil 5 (Die Entstehung eines gemeinsamen Willens)


„Der folgende Abschnitt will die vielen Variablen in den Eindrücken des Menschen von der unsichtbaren Welt aufzeigen. Die Berührungspunkte weichen voneinander ab, ebenso die durch Stereotypen geprägten Erwartungen, am stärksten von allen aber das erworbene Interesse. Die lebendigen Eindrücke einer großen Anzahl von Leuten haben in unmessbarem Grade in jedem von ihnen einen persönlichen Charakter und sind in der Masse unkontrollierbar komplex. Wie wird aber dann überhaupt eine praktische Beziehung zwischen dem, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, und dem, was sich außerhalb ihres Gesichtskreises in der Umwelt befindet, hergestellt? Um in der Sprache der Demokratietheorie zu bleiben: Wie entwickeln Massen von Menschen, deren jeder ein eigenes Gefühl für eine so abstrakte Vorstellung besitzt, einen gemeinsamen Willen? Wie erhebt sich eine einfache und beständige Vorstellung aus diesem Komplex von Variablen? Wie kristallisieren sich Dinge wie der Volkswille, die nationalen Ziele oder die öffentliche Meinung aus einem so fließenden und zufälligen Bildwerk? “


„Die Menschen unterscheiden sich in ihrer Empfänglichkeit für Ideen sehr voneinander. Es gibt Menschen, in denen der Gedanke an ein verhungerndes russisches Kind fast genauso lebendig ist wie ein unter ihren Augen verhungerndes Kind. Andere sind unfähig, sich durch einen fernerliegenden Gedanken erregen zu lassen. Dazwischen gibt es viele Abstufungen. Und wiederum andere Menschen bleiben Tatsachen gegenüber ungerührt und lassen sich nur gedanklich ansprechen. Aber obwohl die Empfindung durch den Gedanken hervorgerufen wird, können wir sie nicht dadurch befriedigen, dass wir selbst dabei eine Rolle übernehmen. Der Gedanke an das in Russland verhungernde Kind erregt in uns den Wunsch, es zu füttern. Aber die von diesem Gedanken berührte Person kann dem Kind nicht direkt Nahrung zuführen. Sie kann lediglich einer unpersönlichen Organisation oder deren Personifikation, zum Beispiel Mr. Hoover, Geld geben. Ihr Geld erreicht jenes Kind nicht direkt, sondern fließt in einen Sammelfonds, aus dem eine Menge Kinder gespeist werden. Genauso wie der Gedanke selbst erst aus zweiter Hand kommt, so auch die Wirkung der Aktion. Die Erkenntnis ist indirekt, der Willenstrieb ist indirekt, lediglich die Wirkung selbst ist unmittelbar.

Von den drei Teilen des Vorganges kommt der Reiz von irgendwo außerhalb unserer konkreten Wahrnehmung, die Reaktion darauf richtet sich ebenso irgendwohin außerhalb der Wahrnehmung, nur die Empfindung wirkt ganz im Innern der Person selbst. Diese hat vom Hunger des Kindes lediglich eine Vorstellung; dasselbe gilt von der Hilfe für das Kind; aber von seinem eigenen Wunsch zu helfen, gewinnt der Mensch eine reale Erfahrung. Die Empfindung in seinem Innern ist die zentrale Tatsache des Vorgangs, und sie ergibt sich unmittelbar.“


„Innerhalb veränderlicher Grenzen lassen sich Empfindungen übertragen, sowohl was den Reiz wie auch die Reaktion darauf anbetrifft. Wenn wir daher bei einer Anzahl von Menschen, die verschiedenartige Reaktionsneigungen zeigen, einen Reiz entdecken können, der in vielen von ihnen dieselbe Empfindung erweckt, können wir ihn den ursprünglichen Reizen substituieren. Wenn zum Beispiel jemand den Völkerbund nicht mag, der andere Wilson hasst und ein dritter die Gewerkschaften fürchtet, können wir sie unter einen Hut bringen, sofern wir ein Symbol entdecken, das die Antithese zu ihrem Hassgegenstand ist. Angenommen dieses Symbol wäre »Amerikanertum«. Der eine wird in es die Aufrechterhaltung der amerikanischen Isolation oder Unabhängigkeit, wie er sie nennt, hineinlesen; der andere mag darin die Ablehnung eines Politikers erblicken, der in Widerspruch zu seiner Vorstellung davon steht, wie ein amerikanischer Präsident beschaffen sein sollte; der dritte schließlich fasst es als einen Appell zum Widerstand gegen die Revolution auf. Das Symbol in sich selbst stellt an und für sich nichts Besonderes dar, aber es kann sich mit beinahe allem verbinden. Und deshalb kann es das gemeinsame Band gemeinsamer Gefühle werden, selbst wenn diese ursprünglich an auseinanderstrebende Ideen geknüpft waren.


Sobald politische Parteien oder Zeitungen mit »Amerikanertum«, Progressivismus, Gesetz und Ordnung, Gerechtigkeit und Humanität erklären, hoffen sie die Empfindungen einander widersprechender Parteigruppen zu verschmelzen, die sich sonst sicher spalten würden, wenn sie statt dieser Symbole über ein spezifisches Programm diskutieren sollten. Sobald nämlich eine Koalition über dem Symbol hergestellt ist, fließt das Gefühl unter der Wirkung des Symbols eher in Richtung Einigkeit als auf eine kritische Untersuchung der Maßnahmen hin. Ich halte es für passend und terminologisch für richtig, vieldeutige Phrasen wie diese symbolisch zu nennen. Sie stehen nicht für spezifische Ideen, sondern für einen Waffenstillstand oder eine Kreuzung zwischen Ideen. Sie gleichen einem strategischen Straßenknotenpunkt, an dem viele Straßen ohne Bezug auf ihren letzten Ursprung oder ihr letztes Ziel zusammenlaufen. Wer sich aber der Symbole bemächtigt, die für den Augenblick das öffentliche Gefühl beherrschen, beherrscht hierdurch in starkem Maße den Weg zur Politik.“


„Wie kann nun ein besonderes Symbol im Kopfe eines Menschen Wurzeln fassen angesichts der Tatsache, dass das Angebot an Symbolen so reichhaltig und ihre Sinngebung so elastisch ist? Es wird von einem anderen menschlichen Wesen eingepflanzt, das wir als Autorität anerkennen. Wenn es tief genug sitzt, nennen wir vielleicht die Person, die uns dieses Symbol nahebringt, eine Autorität. Zunächst aber sind uns Symbole sympathisch und wichtig, weil sie uns von sympathischen und bedeutenden Menschen nahegebracht werden. “


„Außer bei wenigen Themen, wo unser Spezialwissen groß ist, können wir nicht zwischen wahren und falschen Berichten unterscheiden. Deshalb wählen wir zwischen vertrauenswürdigen und unzuverlässigen Berichterstattern.

Theoretisch sollten wir auf jedem Gebiet den erfahrensten Fachmann wählen. Die Wahl eines Fachmannes ist nun zwar viel leichter als die Erkenntnis der Wahrheit, doch ist sie noch immer zu schwierig und undurchführbar. Die Fachleute selbst sind überdies unter sich keineswegs darin einig, wer von ihnen der Erfahrenste ist. “


„Abgesehen von sehr wenigen Gegenständen, und auch bei diesen nur für kurze Zeit, können wir in unserem Leben eine äußerste Grenze der Unabhängigkeit nur dadurch erreichen, dass wir die Autoritäten vermehren, denen wir freundliches Gehör schenken. Als geborene Amateure können wir auf unserer Suche nach Wahrheit lediglich Experten aufstöbern und ihnen eine Antwort auf jede Ketzerei, die den Anflug von Überzeugung besitzt, abzwingen. Bei einer solchen Debatte können wir zwar oft sagen, wer den dialektischen Sieg davongetragen hat, aber wir sind einer etwaigen falschen Prämisse faktisch ausgeliefert, die keiner der Beteiligten heraufbeschworen hat, oder einem vernachlässigten Aspekt, den niemand von ihnen in die Debatte geworfen hat.“


Über Hierarchien:

„Es gibt eine Reihe von wichtigen Unterscheidungen zwischen den Mitgliedern des »Apparates« und der Gefolgschaft. Die Politiker, die Steuerungsausschüsse und der innere Kreis stehen in direktem Kontakt mit ihrer Umwelt. Sie können zwar eine sehr begrenzte Vorstellung von der Definition ihrer Umwelt haben, aber sie befassen sich fast gar nicht mit Abstraktionen. Dazu gehören einzelne Menschen, die gewählt zu werden hoffen, einzelne Handelsbilanzen, die man zu verbessern wünscht, konkrete Ziele, die erreicht werden müssen. Ich will nicht sagen, dass diese Leute dem menschlichen Hang zur stereotypisierten Sicht der Dinge entgehen. Ihre Stereotypen machen oft lächerlich wirkende Routiniers aus ihnen. Gleichgültig, wie ihre Begrenzungen aussehen mögen, die Chefs sind jedenfalls in ständigem Kontakt mit einem der Kernprobleme jener weiteren Umwelt. Sie entscheiden darüber. Sie geben Befehle. Sie verhandeln. Und etwas Bestimmtes geschieht tatsächlich – vielleicht überhaupt nicht einmal das, was sie sich vorgestellt hatten. Ihre Untergebenen sind nicht durch eine gemeinsame Überzeugung an sie gebunden. Das heißt, die Mitglieder eines Apparates, die von geringerer Bedeutung sind, bekunden ihre Treue nicht nach einem unabhängigen Urteil über die Weisheit der politischen Führer. In der Hierarchie hängt jeder von einem Oberen ab und ist seinerseits Vorgesetzter einer Gruppe von Abhängigen. Ein System von Vorrechten hält den Apparat zusammen. Die Privilegien sind je nach den Möglichkeiten und dem Geschmack derjenigen verschieden, die sie erstreben, von der Vetternwirtschaft und der Patronage in allen ihren Erscheinungen bis zur Stammeszugehörigkeit, Heldenverehrung oder zu einer fixen Idee. Sie variieren vom militärischen Rang in den Armeen über das Lehnswesen im feudalen System bis zur Postenverteilung und Publizität in einer modernen Demokratie. Deshalb kann man einen speziellen Apparat beseitigen, indem man seine Privilegien abschafft. Der Apparat wird nach meiner Meinung jedoch in jeder zusammenhängenden Gruppe wiederaufleben. Denn das Vorrecht ist völlig relativ, und Gleichheit der Menschen ist eine Unmöglichkeit. Man stelle sich den denkbar absolutesten Kommunismus vor, bei dem niemand etwas besitzt, was nicht auch jeder andere besitzt; trotzdem dürfte nach meiner Überzeugung das bloße Vergnügen, Freund des Mannes zu sein, der die Rede hält, welche die meisten Stimmen auf sich vereint, wenn die kommunistische Gruppe irgendeine Aktion unternimmt, genügen, um eine Organisation von Eingeweihten um seine Person herum zu kristallisieren.


Es ist daher gar nicht notwendig, eine kollektive Vernunft zu erfinden, um die Tatsache zu erklären, dass die Urteile einer Gruppe gewöhnlich stärker Zusammenhängen und oft eher der Form entsprechen als die Bemerkungen des Mannes von der Straße. Ein einzelner Kopf oder einige Menschen können eine Gedankenreihe verfolgen, aber eine Gruppe, die gemeinsam zu denken versucht, kann als Gruppe wenig mehr tun als zustimmen oder ablehnen. Die Angehörigen einer Hierarchie können eine gemeinsame Tradition haben. Als Lehrlinge lernen sie bereits das Handwerk von den Meistern, die es ihrerseits als Lehrlinge gelernt haben, und in jeder Gesellschaft, die von Dauer ist, wechselt das Personal innerhalb der regierenden Hierarchien so wenig, dass es die Übermittlung von gewissen starken Stereotypen und Verhaltensmustern gestattet. Der Vater lehrt den Sohn, der Prälat den Novizen, der Veteran den Kadetten gewisse Weisen des Sehens und Handelns. Diese Sehweisen werden den Menschen vertraut und von der Masse der Außenstehenden anerkannt.“


„Dass ein Apparat besteht, ist nicht etwa in der wunderlichen Eigenart des Menschen begründet. Der Grund ist vielmehr darin zu sehen, dass sich aus den privaten Anschauungen einer Gruppe von Menschen keine gemeinsame Idee von selbst herauskristallisiert. Denn die Möglichkeiten sind begrenzt, bei denen eine Anzahl von Menschen direkt auf eine Situation außerhalb ihrer Reichweite einwirken kann. Einzelne können zwar in der einen oder anderen Weise abwandern, sie können streiken oder einen Boykott ausüben, sie können Beifall spenden oder ihrem Missfallen Ausdruck geben. Mit Hilfe dieser Mittel können sie gelegentlich dem widerstehen, was sie nicht mögen, oder einen Zwang auf diejenigen ausüben, die ihren Wünschen entgegenstehen. Doch kann durch Massenaktionen nichts aufgebaut, geplant, ausgehandelt oder regiert werden. Eine so beschaffene Öffentlichkeit, die keine organisierte Hierarchie besitzt, um die sie sich scharen kann, lehnt vielleicht ab, Waren zu kaufen, wenn die Preise zu hoch sind, oder sie weigert sich zu arbeiten, wenn die Löhne zu niedrig sind. Eine Gewerkschaft kann in einem Streik durch Massenaktion eine Opposition niederzwingen, so dass die Gewerkschaftsfunktionäre ein neues Übereinkommen aushandeln können. Sie kann zum Beispiel das Recht zu gemeinsamer Kontrolle erwerben. Sie kann jedoch das Recht nicht ausüben, wenn es keine Organisation gibt. Ein Volk kann nach einem Krieg trachten, sobald es jedoch einen anfängt, muss es sich unter die Befehle eines Generalstabes beugen. Für alle praktischen Zwecke liegt die Grenze einer direkten Aktion in der Fähigkeit, ja oder nein zu einer Frage zu sagen, die der Masse vorgelegt wird. Denn nur in den einfachsten Fällen präsentiert sich ein Problem in der gleichen Form von selbst und fast gleichzeitig allen, die am öffentlichen Leben teilhaben.“


(Führer und Gefolgschaft)


„Politiker behaupten oft, dass sie lediglich ein politisches Programm enthüllt haben, das bereits in den Köpfen ihrer Öffentlichkeit existierte. Wenn sie das glauben, täuschen sie sich gewöhnlich nur selbst. Politische Programme lassen sich nicht gleichzeitig in einer Masse von Köpfen erfinden. Das ist nicht etwa deshalb so, weil die Köpfe des Volkes notwendigerweise denen der Führer unterlegen sind, sondern weil der Gedanke die Funktion eines Organismus ist, und eine Masse ist nun einmal kein Organismus.“


„Zustimmung zu gewinnen ist keine neue Kunst. Sie ist im Gegenteil sehr alt, doch hielt man sie mit dem Erscheinen der Demokratie für tot. Sie ist jedoch keineswegs tot, sondern hat im Gegenteil ihre Technik ungemein verbessert, weil sie sich heute eher auf einer Analyse als auf eine Faustregel gründet. Daher hat die Praxis der Demokratie, als Ergebnis der psychologischen Forschung und gekoppelt mit den modernen Kommunikationsmitteln, einen Schritt vorwärts getan. Eine Revolution findet statt, der unendlich größere Bedeutung zukommt als einer Verschiebung der wirtschaftlichen Macht.


Im Leben der derzeit herrschenden Generation ist die Meinungsbildung eine eigenständige Kunst und ein normales Organ der Volksregierung geworden. Niemand von uns beginnt die Konsequenzen zu erfassen, aber die Prophezeiung ist nicht zu kühn, dass das Wissen um die Kunst, wie man die Geneigtheit der Öffentlichkeit gewinnt, jede politische Berechnung verändern und jede politische Prämisse modifizieren wird. Sofern man das Wort Propaganda nicht unbedingt in seinem negativen Sinn versteht, sind die alten Konstanten unseres Denkens unter ihrer Einwirkung zu veränderlichen Größen geworden. Es ist zum Beispiel nicht länger möglich, an das ursprüngliche Dogma der Demokratie zu glauben, nämlich dass die Kenntnisse, die man für die Bewältigung der menschlichen Angelegenheiten braucht, spontan aus dem Herzen des Menschen kommen. Wo wir aus dieser Theorie heraus handeln, überlassen wir uns der Selbsttäuschung und Formen der Meinungsbildung, die wir nicht dem Wahrheitsbeweis unterwerfen können. Wir haben gezeigt, dass wir uns nicht auf die Intuition, das Gewissen oder die Zufälligkeiten einer Meinung verlassen können, wenn wir es mit der Welt zu tun haben, die außerhalb unserer konkreten Wahrnehmung liegt.“


Teil 6 (Das Bild der Demokratie)


„Bei der Entscheidung, wer am ehesten für das Regieren geeignet war, setzte man die Kenntnis der Welt als selbstverständlich voraus. Der Aristokrat glaubte, diejenigen, die sich mit großen Angelegenheiten befassten, besäßen den Instinkt dafür; die Demokraten behaupteten, alle Menschen hätten diesen Instinkt und könnten sich deshalb mit den großen Fragen befassen. Die Vorstellung, wie dem Herrschenden die Kenntnis der Welt nahegebracht werden könne, gehörte in keinem Falle zur Politischen Wissenschaft. Wenn man sich für das Volk erklärte, versuchte man nicht die Frage zu beantworten, wie man den Wähler informieren könne. Mit 21 Jahren besaß er einfach seine politischen Fähigkeiten. Was zählte, war ein gutes Herz, ein vernunftbegabter Geist, doch war es nicht notwendig zu erwägen, wie man das Herz informieren und die Vernunft nähren könne. Die Menschen nahmen die Tatsachen auf, wie sie ihren Atem einzogen. “


„Um nicht Opfer (der) Schlussfolgerung zu werden (, dass souveräne Autoritäten sich wegen ihrer Unabhängigkeit in ständigen Eifersüchteleien untereinander befinden, wie Hobbes meinte), ging eine Richtung des menschlichen Denkens, die viele Schulen hatte und noch hat, in dieser Weise vor: Man schuf sich ein ideales, gerechtes Modell der menschlichen Beziehungen, in dem jeder Mensch genau definierte Funktionen und Rechte besaß. Wenn er gewissenhaft die Rolle ausfüllte, die ihm zugeteilt war, hatte es nichts zu bedeuten, ob seine Meinungen richtig oder falsch waren. Er erfüllte seine Pflicht, der nächste Mensch tat dasselbe, und alle diese pflichtbewussten Menschen zusammengenommen bildeten eine harmonische Welt. Jedes Kastensystem illustriert dieses Prinzip. Man findet es in Platons »Staat« und bei Aristoteles, im Ideal des Feudalismus, in den Zirkeln des Danteschen Paradieses, im bürokratischen Typ des Sozialismus und im Laissez-faire, in erstaunlichem Grade im Syndikalismus, Gildensozialismus, Anarchismus und im System internationalen Rechts. Sie alle setzen eine prästabilisierte Harmonie voraus, die entweder inspiriert, auferlegt oder eingeboren ist und durch die die Person, Klasse oder Gemeinschaft mit eigener Meinung mit der übrigen Menschheit in Einklang steht. Die mehr autoritär Veranlagten stellen sich einen Dirigenten vor, der darauf achtet, dass jeder Mensch seinen Part richtig spielt. Die Anarchisten neigen zu dem Glauben, dass man ein göttlicheres Zusammenspiel hören würde, wenn jeder im Voranschreiten improvisiere. “


„In seinem infamsten Kapitel (Il Principe, Kapitel XVIII. Betreffend die Art, in der Fürsten den Glauben halten sollten.) schrieb (Machiavelli), dass »ein Fürst sorgfältig vermeiden soll, niemals etwas über seine Lippen kommen zu lassen, was nicht voll der obengenannten fünf Qualitäten ist, so dass er demjenigen, der ihn hört und sieht, völlig gnädig, treu, menschlich, aufrecht und religiös erscheint. Nichts scheint man nötiger zu haben als diese letztere Qualität, insofern die Menschen gewöhnlich mehr nach dem Auge als nach der Hand urteilen, weil jeder dich sehen kann, nur wenige aber mit dir in Berührung kommen. Jedermann sieht, was du zu sein scheinst, wenige wissen wirklich, wie du bist, und diese wenigen wagen es nicht, sich zur Meinung der vielen in Opposition zu setzen, die zu ihrer Verteidigung die Majestät des Staates besitzen; und bei den Handlungen aller Menschen, und besonders der Fürsten, die man klugerweise nicht herausfordern sollte, urteilt man nach dem Ergebnis … Ein Fürst unserer Zeit, den man besser nicht nennt, predigt niemals etwas anderes als Frieden und guten Glauben, und doch steht er beiden höchst feindlich gegenüber, und wenn er sie gehalten hätte, so hätten sie ihn seines Rufes und seines Königtums bereits viele Male beraubt.« “


„Immer dann, wenn die Streitigkeiten von ichbezogenen Gruppen unerträglich wurden, sahen sich in der Vergangenheit die Reformer gezwungen, zwischen zwei großen Alternativen zu wählen. Sie konnten den Weg nach Rom nehmen und den kriegführenden Stämmen einen römischen Frieden auferlegen. Sie konnten aber auch den Pfad in die Isolation, die Autonomie und die Unabhängigkeit wählen. Fast immer wählten sie den Pfad, den sie kurz zuvor am wenigsten benutzt hatten. Wenn sie die tödliche Monotonie des Imperiums versucht hatten, schätzten sie jetzt vor allem die einfache Freiheit ihrer eigenen Gemeinde. Wenn ihre simple Freiheit dann aber in engstirnige Dorf-Eifersüchteleien versiegte, sehnten sie sich nach der geräumigen Ordnung eines großen und mächtigen Staates.


Gleichgültig, welche Wahl sie trafen, die wesentliche Schwierigkeit blieb dieselbe. Waren die Entscheidungen dezentralisiert, blieben sie bald in einem Chaos lokaler Meinungen stecken. Waren die Entscheidungen zentralisiert, basierte die Staatspolitik auf einer kleinen Schicht in der Hauptstadt. In jedem Fall war Gewalt notwendig, um ein lokales Recht gegen das andere zu verteidigen, oder den Orten Gesetz und Ordnung aufzuzwingen, oder der Klassenregierung im Zentrum zu widerstehen, oder die ganze zentralisierte oder nicht zentralisierte Gesellschaft gegen den äußeren Feind zu verteidigen. “


„Nach meiner Auffassung ist die Lehre, die wir daraus ziehen, eine ziemlich klare Sache. Wenn Bildung und Institutionen fehlen, die die Umgebung derart erfolgreich widerspiegeln, dass die Realitäten des öffentlichen Lebens sich scharf gegen die ichbezogene Meinung abheben, entziehen sich die Gemeininteressen weitgehend der öffentlichen Meinung und können nur von einer spezialisierten Schicht wahrgenommen werden, deren persönliche Interessen über ihre lokale Situation hinausgehen. Diese Schicht kann in Situationen, die die Öffentlichkeit im Großen und Ganzen nicht versteht, nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil sie nach Informationen handelt, die nicht Gemeingut sind. Sie lässt sich vielmehr lediglich aufgrund der vollendeten Tatsachen zur Rechenschaft ziehen. “


„Das Hauptaugenmerk lag daher immer auf den Mechanismen des Willensausdruckes. Das demokratische Eldorado ist daher stets eine vollkommene Welt und ein vollkommenes System von Wahlen und Volksvertretungen gewesen, wo sich der angeborene gute Wille und die instinktiven staatsmännischen Fähigkeiten eines jeden Menschen in Handlung umsetzen ließen. In begrenzten Bereichen und für kurze Zeit waren die Umstände der Umwelt so günstig, das heißt so isoliert und zugleich so reich an Chancen, dass die Theorie gut funktionierte, um die Menschen in ihrer Meinung zu bestärken, sie treffe für immer und überall zu. Als dann die Zeit der Isolation zu Ende ging, als die Gesellschaft komplex wurde und die Menschen sich eng einander anzupassen hatten, widmete der Demokrat seine Zeit dem Versuch, perfektere Abstimmungseinheiten zu planen.

(…) Der Trugschluss der Demokraten bestand in der bevorzugten Beschäftigung mit dem Ursprung der Regierung, weniger mit deren Entwicklung und Ergebnissen. Der Demokrat hat immer behauptet, dass politische Macht, einmal auf die rechte Art abgeleitet, Gutes wirken werde. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Quelle der Macht gerichtet, weil er durch den Glauben gebannt war, das Große bestehe darin, den Willen des Volkes auszudrücken, erstens, weil der Ausdruck das höchste menschliche Ziel und zweitens, weil der Wille aus Instinkt gut sei. Aber keine noch so genaue Regulierung des Flusses an seiner Quelle wird sein Verhalten völlig bestimmen. Während die Demokraten darin aufgingen, einen guten Mechanismus für die keimende gesellschaftliche Macht zu finden, das heißt für die Wahlen und die Volksvertretungen, ließen sie beinahe jedes andere menschliche Bedürfnis unbeachtet. Denn gleichgültig, wie Macht entsteht, es bleibt das Hauptproblem, wie Macht ausgeübt wird. Was die Qualität einer Kultur bestimmt, ist der Gebrauch der Macht. Und dieser Gebrauch kann nicht an der Quelle vorherbestimmt werden.


Versucht man, die Regierung bereits in allem an der Quelle zu kontrollieren, verschwinden unausweichlich alle lebenswichtigen Entscheidungen. Da es keinen Instinkt gibt, der automatisch politische Entscheidungen fällt, die ein gutes Leben zur Folge haben, versagen die Männer, die wirklich Macht ausüben, nicht nur dabei den Willen des Volkes auszuführen, da es bei den meisten Fragen schlicht keinen gibt, sie handeln zudem auf der Grundlage von Meinungen, die ihren Wählern verborgen bleiben.“


„Macht man aber die Menschenwürde nicht von der einen Behauptung hinsichtlich der Selbstregierung abhängig, sondern vertritt die Ansicht, dass die Würde des Menschen einen Lebensstandard erfordert, bei dem sich seine Fähigkeiten richtig entfalten können, so ändert sich das ganze Problem. Die Kriterien, die wir dann auf die Regierung anwenden, fragen dann, ob sie ein gewisses Mindestmaß an Gesundheit, an anständiger Unterbringung, an materiellen Bedürfnissen, an Erziehung, Freiheit, Vergnügen und Schönheit gewährt, und nicht einfach, ob sie unter Opferung all dieser Dinge zu den ich-bezogenen Auffassungen neigt, die zufällig in Menschenhirnen umhergeistern. In dem Maße, wie diese Kriterien exakt bestimmt und objektiviert werden können, wird die politische Entscheidung, die unvermeidlich die Angelegenheit verhältnismäßig weniger Menschen ist, wirklich mit den Interessen der Leute in Relation gebracht.“


„In keiner uns vorstellbaren Zeit besteht die Aussicht, dass die ganze unsichtbare Umwelt allen Menschen so klar sein wird, dass sie spontan zu vernünftigen öffentlichen Meinungen zum Gesamtkomplex des Regierungsgeschäftes gelangen werden. Und selbst wenn eine solche Aussicht bestünde, ist es äußerst zweifelhaft, ob viele von uns damit behelligt zu werden wünschten oder sich die Zeit nähmen, um sich eine Meinung über »jede einzelne Form gesellschaftlichen Handelns« zu bilden, die uns berührt. Die einzige Aussicht ohne visionären Charakter besteht lediglich darin, dass jeder von uns in seiner eigenen Sphäre immer stärker nach einem realistischen Bild von der unsichtbaren Welt handelt und wir immer mehr Menschen hervorbringen, die diese Bilder am Leben erhalten. Außerhalb der ziemlich engen Grenzen des uns möglichen eigenen Beobachtungsbereiches hängt die gesellschaftliche Kontrolle von der Planung von Lebensstandard und Rechenschaftsmethoden ab, mit denen die Handlungen von Beamten und Industrieführern gemessen werden. Wir selbst können alle diese Handlungen nicht anstoßen oder führen, wie es sich der mystisch orientierte Demokrat immer eingebildet hat. Aber wir können unsere echte Kontrolle über diese Handlungen ständig erweitern, indem wir darauf bestehen, dass alle Handlungen offen dargestellt und ihre Ergebnisse objektiv beurteilt werden sollen. Ich würde meinen, dass wir mit der Zeit dies zu erreichen hoffen können.“


Teil 7 (Zeitungen)


„Die Funktion der Nachrichten besteht darin, ein Ereignis aufzuzeigen, die Funktion der Wahrheit ist es dagegen, verborgene Fakten zu Tage zu bringen, sie miteinander in Beziehung zu setzen und ein Bild der Wirklichkeit zu entwerfen, nach dem die Leute handeln können. Nur in den Punkten, wo soziale Bedingungen erkennbare und messbare Gestalt annehmen, fällt der Kern der Wahrheit mit dem Kern der Nachricht zusammen. Das ist ein verhältnismäßig kleiner Teil des gesamten Bereiches menschlichen Interesses.“


Teil 8 (Organisierte Intelligenzen)


„Jede komplexe Gemeinschaft hat jedoch seit je den Beistand besonderer Männer gesucht, wie der Auguren, Priester und Älteste. Obwohl unsere eigene Demokratie auf einer Theorie universeller Zuständigkeit gründet, sucht sie sich Rechtsanwälte zur Führung ihrer Regierung und als Gehilfen der Industrieführung. Man bemerkte, dass der speziell ausgebildete Mensch in unklarer Weise einem größeren Wahrheitssystem zugewandt war als einem System, das sich spontan aus dem Geiste eines Amateurs ergibt. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass die traditionelle Ausrüstung eines Rechtsanwalts nicht genügend Beistand gewährt. Die Große Gesellschaft war überraschend gewachsen, noch dazu durch die Anwendung technischer Kenntnisse in gewaltigen Ausmaßen. Sie wurde durch Ingenieure geschaffen, die exakte Messungen und quantitative Analysen anzuwenden gelernt hatten. Es wurde allmählich klar, dass sie nicht durch Männer geführt werden konnte, die deduktiv über Recht und Unrecht dachten. Sie konnte nur durch die Technik selbst, die sie geschaffen hatte, unter die Kontrolle des Menschen gebracht werden. Allmählich haben daher die stärker erleuchteten Köpfe Fachleute berufen, die geschult waren oder sich selbst geschult hatten, damit sie Teile dieser Großen Gesellschaft denen, die sie lenken, greifbar machten.“


„Die Praxis der Demokratie ist ihrer Theorie vorausgeeilt. Denn die Theorie hält daran fest, dass die erwachsenen Wähler gemeinsam Entscheidungen aus einem ihnen innewohnenden Willen treffen. Aber genauso wie herrschende Hierarchien erwachsen sind, die in der Theorie unsichtbar waren, so hat es ein großes Maß konstruktiver Anpassung gegeben, mit der man im Bilde der Demokratie ebenso wenig gerechnet hatte. Mittel und Wege wurden gefunden, um viele Interessen und Funktionen zu vertreten, die normalerweise außerhalb der konkreten Wahrnehmung liegen.


Wir sind uns dessen am stärksten bewusst in unserer Theorie von den Gerichtshöfen, wenn wir ihre gesetzlichen Vollmachten und ihre Vetos aus der Theorie erklären, dass es Interessen gibt, die geschützt werden müssen, weil sie von den Wahlbeamten vergessen werden könnten. Aber auch das Statistische Amt tritt für ungesehene Faktoren in der Umwelt ein, wenn es Leute, Dinge und Veränderungen zählt, klassifiziert und miteinander in Beziehung setzt. Die Bergaufsichtsbehörde zeigt Bodenschätze auf, das Landwirtschaftsministerium vertritt in den Landesausschüssen Faktoren, von denen jeder Bauer lediglich einen winzigen Teil zu Gesicht bekommt. Die Schulbehörden, die Tarifkommissionen, der konsularische Dienst, die Staatskasse vertreten Personen, Ideen und Dinge, die sich von ihrem Blickwinkel aus niemals durch eine Wahl automatisch vertreten fänden. Das Jugendamt ist der Sprecher für einen ganzen Komplex von Interessen und Funktionen, die gewöhnlich dem Wähler nicht sichtbar sind und daher unmöglich spontan Teil seiner öffentlichen Meinungen werden können. So folgt dem Abdruck vergleichender Statistiken über die Säuglingssterblichkeit oft ein Zurückgehen der Sterblichkeitsquote von Säuglingen. Städtische Beamte und Wähler hatten vor der Veröffentlichung in ihrem Bild von der Umwelt keinen Platz für diese Kinder. Erst die Statistiken machten sie sichtbar, so sichtbar, als ob die Säuglinge einen Ratsherrn gewählt hätten, um ihre Beschwerden an die Öffentlichkeit zu bringen.“


„Der Gedanke, dass der Fachmann eine einflusslose Person ist, weil er andere die Entscheidungen fällen lässt, entspricht nicht der Erfahrung. Je feinsinniger die Elemente, die zur Entscheidung beitragen, desto mehr Macht übt der Fachmann aus, ohne dabei die Verantwortung zu tragen. Überdies wird er in Zukunft mehr Macht ausüben als jemals zuvor, weil sich die entscheidenden Tatsachen dem Wähler und dem Regierenden in steigendem Maße entziehen werden.“


„Sie werden die Macht genießen, und sie werden in die Versuchung geraten, sich selbst zu Zensoren aufzuschwingen und auf diese Weise die wirkliche Funktion der Entscheidung an sich zu reißen. Außer wenn ihre Funktion genau umrissen ist, werden sie nur die Fakten, die sie für geeignet halten, weitergeben und die Entscheidungen, die sie befürworten, durchdrücken. Kurzum, sie werden danach trachten, eine Bürokratie zu werden.

Die einzige institutionelle Sicherung dagegen besteht darin, so absolut wie möglich die ausführenden Mitarbeiter von den Untersuchenden zu trennen.“


(Der Appell an die Öffentlichkeit)


„Nur wenn der geschäftige Bürger eines modernen Staates darauf besteht, dass die Probleme erst auf ihn zukommen, wenn sie eine Prozedur durchlaufen haben, kann er hoffen, sich mit ihnen in einer verständlichen Form auseinanderzusetzen. Denn Probleme, wie sie von einem Parteimann gestellt werden, bestehen fast immer aus einer komplizierten Reihe von Fakten, wie er sie beobachtet hat, umgeben von einer großen schmalzigen Masse stereotyper Phrasen, die vollgestopft sind mit seinen Emotionen. Der Tagesmode entsprechend wird er aus dem Konferenzzimmer auftauchen und behaupten, er wolle eine beseligende Idee wie Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Amerikanertum, Sozialismus. Für solche Probleme kann man im Bürger draußen manchmal Furcht oder Bewunderung erregen, aber niemals ein Urteil. Bevor er mit dem Argument etwas anfangen kann, muss zuerst der Schmalz für ihn entfernt werden.


Das kann dadurch geschehen, dass man den Volksvertreter im Innern die Diskussion in Gegenwart eines Vorsitzenden oder Vermittlers weiterführen lässt, der die Zuhörerschaft zwingt, zur Analyse Stellung zu nehmen, die der Experte gegeben hat. Das ist die wesentliche Gliederung einer jeden repräsentativen Körperschaft, die sich mit entlegenen Dingen befasst. Die Parteistimmen sollten da sein, aber die Parteimänner sollten Männern konfrontiert werden, die nicht persönlich in die Angelegenheit verwickelt sind, die genügend Tatsachen kontrollieren und die dialektische Geschicklichkeit besitzen, um die echte Wahrnehmung von der Stereotype, den abgedroschenen Bildern und der Erfindung zu sondern. Es handelt sich um einen sokratischen Dialog, der das ganze energische Bemühen von Sokrates enthält, durch Worte zu Bedeutungen vorzudringen. Sogar noch etwas mehr als das, weil im modernen Leben Männer die Dialektik führen müssen, die sowohl die Umwelt als auch den menschlichen Geist erforscht haben.“



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de


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