Bilderflut - starke Bilder
Michael Seibel • (Last Update: 09.02.2015)
Die
Metapher der Bilderflut
Man
warnt uns. Eine Welle habe uns
überrollt. Man spricht von Bilderflut.
Wer
so spricht, setzt uns zunächst nicht einem Bild, sondern einer
Metapher aus. Wer die Metapher versteht – und sie ist leicht zu
verstehen – hat ein Bild vor Augen, imaginiert etwas: Wasser
hoch angestiegen, vielleicht reißend, das dabei ist, etwas zu
zerstören oder bereits wieder nach getanem Vernichtungswerk
träge den Grund an Stellen bedeckt, an die es nicht hingehört.
Die
Wirkung der Metapher besteht darin, dass just in dem Moment, in dem
das Bild des Wassers deutlich genug erinnert wird, um der Zerstörung
Evidenz zu geben, etwas anderes an seine Stelle tritt – in
unserem Fall Bilder, ganz egal, was darauf ist, nur viele müssen
es sein, da es sich ja um eine Flut von Bildern handeln soll, aber
Bilder, deren Inhalte (noch) völlig unbestimmt sind, Bilder, die
also eigentlich gar keine Bilder sind – und sich beim
Imaginären die fehlende Evidenz ausleihen müssen, die im
Erinnerungsbild der Überflutung soeben die Schwelle zur
Gegenwart überschreitet. Von jetzt an sind Bilder kraft Metapher
gefährlich, selbst wenn es nichts auf ihnen zu sehen gibt. Von
jetzt an kann man von Bilderflut reden, ohne auf andere
privatsprachlich zu wirken.
Es sieht ganz so aus, als sei die Metapher der Bilderflut nicht völlig
angemessen. Aber warum liest man sie so oft? Wir seien von einer
Kultur der Sprache in eine Kultur der Bilder hinüber gewechselt,
ohne es rechtzeitig zu bemerken. Halb zog es uns, halb sanken wir
hin. Wir hätten uns inzwischen damit abgefunden, in einer Welt
der Bilder und des äußeren Scheins zu leben, in einer Welt
der Sichtbarkeit statt des Seins und der Bilder statt der Sprache,
von simuli, von Spiegel-, Götzen- oder Trugbildern. Es
reiche zu schauen, um zu wissen. Wesentliche orientierende Funktionen
des Diskurses seien dabei auf das Bild übergegangen. Sei es,
dass 'Bilder mehr sagen als Worte', sei es, dass es um Worte längst
nicht mehr geht. Die Gefahr läge im Verlust von Distanz. Die
Bilder seien einfach zu mitreißend, flutartig eben.
Was für Bilder enthält die Bilderflut? Lassen wir sie in einer
Art Welle an den Strand der Aufmerksamkeit schwappen, um zu sehen,
was da strandet.
Welch
ein heterogener Haufen! Was soll daran gefährlich sein? Der
zerfledderte Fetzen eines Plakats, ein Stück gemusterter Tapete
fragwürdiger Provenienz, ein Foto ohne Text aus einer
Tageszeitung, eine Lächelnde aus der Werbung, ein Urlaubsfoto.
Es
ist nicht zu leugnen: da sind wirklich unzählig viele Bilder.
Mehr als jemals zuvor. Bilder wie 'Sand am Meer'. Auch das wäre
ja eine Metapher. Ist sie nicht viel geeigneter? Sie verschiebt den
Sinn von der Flut zum Strand, von der Gefahr zur Ruhe.
Die
meisten Bilder der Flut sind todlangweilig. Wir wären ja gern
aufmerksamer, aber die ständige Wiederholung überanstrengt
uns. Das kann nicht heißen: je mehr, je intensiver, es
muß heißen: je mehr, je ermüdender. Wer stellt
solche Bilder her? Diese Millionen Selfies und Urlaubsfotos von
Leuten, die im puren Jetzt verschollenen sind? Fast jeder,
solange er das mindeste Maß an sozialer Teilhabe in einer Mediengesellschaft hat
und jünger als siebzig ist.
Dann die vielen optischen Vertriebsmittel, Repräsentations- und Kopulationsschmierstoffe.
Dort lugt ein Foto mit archaischem Wirkmechanismus heraus wie bei der
Raubvogelkontur, die man ins Fenster hängt, damit die Tauben
kehrt machen, und dort in sexistischer Opulenz ein
Illustrierten-Partialobjekt, da wieder ein süßes kleines
Wohlfühltier und ein Babyfoto.
Es ist nicht so, als hätten die Fotografen die Schemata vergessen,
die uns spontan erreichbar machen.
Was macht starke Bilder stark?
Gehen
wir die Bilderflut von ihrer starken Seite an. Nehmen wir ein
sehr starkes Bild, um zu schauen, was es sagt. Nehmen wir dieses
hier:
Huynh Cong Ut, Pressefoto vom 8. Juni 1972 bei
Trang Bang
World Press Photo des Jahres 1972
Es
gehört zu der Art von Bildern, bei der viele der Formulierung
zustimmen würden:
Das
Bild sagt mir etwas. Und sogar mehr als etwas..
Halten wir folgendes zweite Bild daneben:
Kasimir Malewitsch, schwarze Quadrat 1915
Bei diesem zweiten Bild wird die Zahl derer, denen das Bild etwas sagt,
sich mehr oder weniger auf die beschränken, die darin das
berühmte schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, einen
Höhepunkt der bildenden Kunst von 1915 erkennen. Die „Sage“
des Bildes besteht in der Tatsache, dass sich der Betrachter in einen
kunstgeschichtlichen Diskurs versetzt. Falls man ihm diesen Diskurs
nicht schon vor
der Bildbetrachtung nahegebracgt hat, wird das Bild seine Aufmerksamkeit
nicht fesseln. Es wird ihm „nichts sagen“.
Beim
ersten der beiden Bilder ist das nicht wirklich anders. Auch das Foto
würde außerhalb eines Kontextes, den der Betrachter
bereits kennen muss, nichts sagen.
Ein
gravierender Unterschied zwischen beiden Bildern ist allerdings, dass
die allermeisten Menschen beim Kriegsbild über passende
Sinnzusammenhänge verfügen, im zweiten Fall, beim Quadrat,
aber deutlich weniger. Vermutlich sind die Diskurse, in die die
Liebhaber des Malewitsch-Bildes ihre Bildwahrnehmung eingebettet
finden, sogar viel uniformer als die disparaten Vorstellungen von
Kriegsgrauen, die mit dem ersten Bild verbunden werden.
Würde man danach fragen, welches von beiden das stärkere Bild ist, so
würde man auf zwei fast überschneidungsfreie Diskurse
treffen, in Bezug auf das Quadrat auf einen kunsthistorischen
Diskurs, der im Malewitsch-Bild ein Jahrhundertwerk sieht und im Fall
des Kriegsfotos auf einen Diskurs, der es als World
Press Photo des Jahres 1972 ausgewählt und es mit dem
Pulitzer-Preis ausgezeichnet hat. Beides sind deshalb starke Bilder, weil es
in beiden Fällen Diskurse gibt, die die jeweilige Auszeichnung
rechtfertigen. Das Kriegsfoto ist kein stärkeres Bild als das
Quadrat und umgekehrt. Und in der Tat lassen beide Bilder den nicht
kalt, der engagierten Anteil am betreffenden Diskurs hat.
Ein Bild ist ein starkes Bild, solange es einem Diskurs erlaubt, es zu
verwenden. Das Kriegsfoto ist zur Ikone geworden und hat seit mehr
als 40 Jahren nichts von der Kraft verloren, dem Nachdenken über
den Vietnamkrieg oder ganz generell über Gewalt eine bildliche
Vorstellung zu unterlegen.
Entsprechendes
gilt für das Malewitsch-Bild als Ausdruck für »die
Empfindung der Gegenstandslosigkeit«
im kunstgeschichtlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts.
Bleiben
wir bei der Beschreibung der ästhetischen Wirkung des
Kriegsfotos. Seine spontane Wirkung verdankt sich zumindest zum Teil
einer ästhetischen Konstruktion, die beschreibbar ist. Das Foto
wirkt auf jeden, für den schreiende Kinder ohne weiteres ein
Alarmzeichen sind. Dass sich dieser Zeichencharakter auf dem Foto
findet, ist nicht Resultat der Spontaneität des Fotografen,
sondern konstruiert.
Wir
können das sagen, weil über das Bild einiges bekannt ist.
So wissen wir, dass es der Fotograf Huynh Cong Ut am 8. Juni 1972 bei
dem Dorf Trang Bang (25 Kilometer nordwestlich von Saigon)
aufgenommen hat. Man sieht auf dem Bild die neujährige Kim Phuc.
Das nackte Mädchen läuft mit ihren jüngeren Brüdern
Phan Tanh Tam (links) und Phan Tanh Phouc (links hinten) auf der
Straße. Auf der anderen Seite neben ihr laufen ihr Cousin Ho
Van Bon und ihre Cousine Ho Thi Ting von dem Dorf weg. Soldaten der
25. Division folgen ihnen.
Wir
wissen, dass das Foto bereits am nächsten Tag auf der Titelseite
der New York Times
erschienen ist. Wir wissen auch, dass der Fotograf Huynh Cong Ut nicht allein
an Ort und Stelle war. Dort befanden sich eine ganze Reihe
Korrespondenten und Bildreporter wie David Burnett vom „Time
Magazine“, der südvietnamesische Freelance-Fotograf Hoang
Van Danh, der AP-Reporter Peter Arnett, Fox Butterfield von der „New
York Times“, der NBC-Kameramann Le Phuc Dinh, ITN-Reporter
Christopher Wain sowie ein Fernsehteam der BBC.
Auf
einer Fotografie sind zwölf Reporter zu erkennen, die den
Einschlag weißer Phosphor- und Napalm-Bomben in Trang Bang
fotografieren. Man hatte zuvor gemeinsam auf die vom
Kommandeur der südvietnamesischen Truppen angeforderte
Luftunterstützung durch die südvietnamesische Luftwaffe
gewartet. Und man wartete darauf, dass etwas Dramatisches passieren
würde, Das war keine Überraschung. Man wartete auf 'gute
Fotos'.
Wir wissen auch, dass die angereisten Fotografen zunächst weiter
fotografierten, bis ihnen die Filme ausgingen, die sie noch in ihre
Leicas hätten packen können, bevor sie sich um die Kinder
kümmerten, die nach dem Luftangriff aus dem Dorf gerannt kamen.
Sie selbst verfügten spontan gerade über das nicht, was die
Wirkung des Fotos bei den meisten späteren Betrachtern in Gang
gesetzt haben dürfte, über genügend Mitgefühl.
Für sie selbst waren die Bilder keine Alarmsignale. Sie befanden
sich im Profimodus. Sie warteten auf das Alarmsignal gerade nicht wie
die Feuerwache auf dem Turm, um schnellst möglich Hilfe zu
holen. Das Alarmsignal war für sie in ein Erkennungszeichen für
ein wirksames Pressefoto mutiert.
Die Bildbedeutung ist nicht eindeutig. Sie ist eine andere für den
Fotografen, für die Eltern des Mädchens, 1972 im
US-Präsidentschaftswahlkampf gegen Nixon oder für heutige
Betrachter, für die es zur Ikone geworden ist. Bedeutung ist
keine Bildeigenschaft, wie viele meinen. Auf Bildern ist (fast)
nichts zu sehen, es sei denn, sie übernehmen imaginäre
Funktionen in Diskursen.
'Fast nichts' soll heißen: wir müssen es der Verhaltensbiologie
überlassen, uns darüber zu belehren, in welchem Ausmaß
die Signal-Wirkungen eine archaische Mitgift ist, in wieweit sie bei
Tieren (und beim Tier Mensch) auch ohne das Dazwischentreten der
Sprache möglich sind.
Nachdem das Foto-Shooting erledigt war, musste alles schnell gehen. Außerdem
gab es nicht nur Fotos. Der NBC-Kameramann Le Phuc Dinh hatte auch
eine 16mm-Tonfilmsequenz aufgenommen. Die hatte nicht das Zeug zur
Ikone. Es galt, dutzende Kleinbild-Filme zu sichten.
So
wurde Sekunden nach dem berühmten Foto das folgende aufgenommen.
Man
hat dieses Foto offenbar verworfen, weil es schwächere
Assoziationsketten anregt. Hier scheinen die Kinder von Reportern
verfolgt zu werden, nicht von Soldaten.
Von
den hinter ihnen laufenden Soldaten werden sie übrigens auch im
berühmt gewordenen Foto nicht verfolgt. Die Soldaten fliehen
vielmehr mit ihnen. Das Mädchen, das sich die brennenden Kleider
von Leib gerissen hat, ist hier weniger zentral. Und es hat den Mund
nicht zum Schrei aufgerissen.
Man
kann sich fragen, warum zur Veröffentlichung nicht das ebenfalls
entstandene Foto einer Mutter, die mit ihrem toten Baby auf dem Arm
aus dem Dorf flieht, ausgewählt wurde und hören, dass es
die Lebenden sind, an denen sich der Horror deutlicher als an den
Toten zeigt. Die Gesichter der Toten sprechen nicht mehr. Es sind die
Lebenden, die leiden.
Professionelle Bildauswahl und Nachbearbeitung haben stattgefunden. Einige Auswahl-
und Bearbeitungskriterien des Fotos scheinen klar. Das Foto wurde
rechtsseitig stark und unten leicht beschnitten, sodass die Gestalt
des Mädchens weiter ins Zentrum rückte und der Junge im
Vordergrund stärker angeschnitten ist. Vorder- Mittel- und
Hintergrund erlauben die Assoziation zeitlicher und kausaler
Abfolgen, die mit dem historischen Geschehen nichts zu tun haben
müssen. Es reicht, wenn der Betrachter sie hinzu dichtet. Ketten
wie: Explosion, Lärm, Verfolgung, Flucht, Schmerz, Tod, Krieg,
Schuld … verdichten sich müheloss zu einer eindeutigen Dramaturgien.
Das Gestenhafte des Fotos ist unabhängig vom historischen Kontext
zitierfähig und wiedererkennbar. Ein Vergleich mit Edvard Munchs
der Schrei ist in dieser Hinsicht richtig.
Zbigniew Libera, Positives, 2003
Aneignung eines Bildes aus dem kollektiven Gedächtnis.
Ich habe diese Version der Szene von Zbigniew Libera erstmals in der Ausstellung
(Mis)Understanding Photography des Folgwang Museus Essen gesehen.
Ich hatte nicht erwartet, auf ein Bild zu stoßen, das auf das Kriegsfoto referierte
und bemerkte deshalb nicht sogleich, was da zitiert wird.
Das Bild wirkte auf mich dennoch deutlich verstörend, auf eine Weise,
die ich mir nicht durch die etwas absurde Strandparty erklären konnte,
die es zeigt.
Indem ich das Zitat entdeckte, hatte ich das dringende Gefühl, etwas zu verstehen,
ohne genau zu wissen, was eigentlich und ohne dass die verstörende
Fernwirkung der Ikone nachließ.
Ist
das Bild trotz all dieser Zurichtung authentisch?
Streng
genommen ist Echtheit wohl keine dingliche Eigenschaft von Bildern.
Echtheit kann es nur im Zusammenhang von Verwendungsweisen von
Bildern in Diskursen geben.
Die
Echtheit einer Picasso-Zeichnung ist die Wahrheit der Behauptung, die
betreffende Zeichnung stamme von Picasso. Natürlich muss dazu
die Zeichnung von Picasso stammen. Dennoch bleibt es eine diskursive
und keine piktorale Eigenschaft. Solange Diskurse, in denen Echtheit
eine Rolle spielt, nicht vorkommen, hat das Bild die Eigenschaft der
Echtheit nicht.
Dass
das berühmte Bild der Erschießung eines republikanischen
Milizionärs 1936 in Spanien von Robert Capas inszeniert und der
selbe Mann auf dem Negativ, dass dem Foto der Erschießung
folgte, wieder lebendig zu sehen war, ändert am Bild nichts. Es
bekommt Gewicht in Diskursen, die die Gleichwertigkeit von sein und
sehen reklamieren. Das Dokument ist
echt oder nicht, nicht das Bild.
Bildnerische Eigenschaften hingegen sind Eigenschaften der Gestalt, Ergebnisse
seiner Formung oder Auswahl. Eigenschaften des ausgezeichneten Fotos
von Huynh Cong Ut, so wie es in der New York Times gedruckt wird,
sind neben anderen die Zentralität des Mädchens, ihre
Nacktheit, die Gesten des Schreis, die vom Körper weggespannten
verbrannten Arme sowohl des Mädchens als ihres Bruders im
Vordergrund, die sich noch im Fliehen bei den Händen fassenden
Kinder im rechten Vordergrund, der klar gegliederte Aufbau in
Vorder-, Mittel- und Hintergrund und einiges mehr.
Die formalen
Eigenschaften eines Bildes sind wahrscheinlich nicht vollständig beschreibbar.
Seine Beschreibung fällt in den Rahmen technisch orientierter
Diskurse, so wie sich Platinen beschreiben lassen, die in Massen
reproduziert werden sollen. Sie überschreitet zugleich jeden
technischen Diskurs, weil sich das Rezept letztlich nicht vollständig
angeben lässt, dass das Foto von Huynh Cong Ut verwirklicht hat
und das uns an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit die Erstellung
eines ähnlich eindrucksvollen Bildes gestatten würde.
Authentizität
und Plausibilisierung
Aber
erwecken wir nicht den Eindruck, als seien Echtheit und Authentizität
unproblematisch, nur weil sie streng genommen nicht das Bild
betreffen, sondern dessen Verwendungsweise als Dokument innerhalb von
Schuldverhältnissen. Echt ist das, was als das befunden wird,
als was es behauptet wird. Authentisch ist das Bild, welches zeigt,
was es zu zeigen scheint, was als Urkunde dienen kann, die einen
Sachverhalt oder Tatbestand fixiert. Die Fotographie genoss zu Beginn
ihrer Geschichte großes Vertrauen bezüglich ihrer
Authentizität. Aber kann ein Foto, das lange Belichtungszeiten
erfordert, authentisch sein, wenn es zwar alle unbewegten Personen
getreulich abbildet, aber Personen in schneller Bewegung nicht zeigen
kann? Das technisch gerade erst gelöste Problem bestand darin,
überhaupt etwas erkennbar abzubilden, dann die Empfindlichkeit
zu erhöhen, um mit immer weniger Licht, kürzeren
Belichtungszeiten und mit Farbe auszukommen.
Die technische Weiterentwicklung der Photographie zeigt regelmäßig:
Fälschungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten bei Bildern sind ein und das selbe.
Bilder – Bilder - nicht nur Fotos - bilden generell ihre
Entstehungsbedingungen nicht ab. Im Fall des Foto-Shooting in Trang
Bang wird das ausnahmsweise erkennbar, weil weitere Aufnahmen existieren,
die etwas von den Entstehungsbedingungen zeigen.
(Stationäre
Geräte zur Geschwindigkeitsüberwachung im Straßenverkehr
umgehen das Problem unbekannter Entstehungsbedingungen
und überbieten damit mühelos das Pulitzerpreisfoto im
Hinblick auf Authentizität, solange das Vertrauen des
Verkehrssünders in den Rechtsstaat groß genug ist.)
Plausibilität
Vor
Gericht gelten unbeschadet nationaler und geschichtlicher
Unterschiede Sachverständigengutachten, richterlicher
Augenschein, Urkunden, Zeugen, Sacheinlassungen des Beschuldigten und
Geständnisse als Beweismittel. Zu beweisen sind die Richtigkeit
oder Falschheit strittiger Parteienbehauptungen, woraus sich jeweils
unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben. Würden Bilder nicht in
die Begründung von Schuldverhältnissen einbezogen, würde
der Unterschied zwischen echt und unecht entfallen.
Man
könnte versucht sein, das einen Augenblick lang zu bestreiten,
indem man darauf hinweist, das ohne den grundlegenden Unterschied
wahrer und falscher Aussagen jedes Wissen unmöglich sei. Wie sollte
ich eine Zeichnung von Picasso von einer von Braque unterscheiden,
ohne mich auf zwei diesbezügliche wahre Aussagen verlassen zu
können? Was schlimmer ist: wie kann ich Folgerungen auf ein
Experiment aufbauen, wenn die Dokumentation nicht
vertrauenswürdig ist? Unter Menschen, - nur da ist Wahrheit
strittig -, ist richtig und falsch eine diskursive Differenz, die
Schuldverhältnisse begründet. Mangelnde Echtheit des Bildes
tangiert das Beweismittel des richterlichen Augenscheins, allerdings
in einer Weise, der die Heranziehung von Sachverständigen
abhilft. Augenschein übersetzt sich vor
Gericht und in den Wissenschaften in ein Netz von Plausibilitäten.
Starke Bilder sind plausible.
Produzent
eines Bildes ist der, der die Produktion eines Bildes kontrolliert.
Wie gesagt teilt das Bild selbst seine Produktionsbedingungen nicht
mit. Rezipient eines Bildes ist derjenige, der das Bild
plausibilisieren muss.
Für
den Produzenten ist das Foto dann und nur dann in Trang Bang
entstanden, wenn er es dort aufgenommen hat, für den Rezipienten
ist es in Trang Bang entstanden, wenn es plausibel danach aussieht.
Diese Plausibilität wird für den Produzenten in dem
Augenblick wichtig, in dem er z.B. als Pressefotograf für ein
Publikum fotografiert. Es ist dann ungünstig, ein Foto irgendwo
im Feld vor Trang Bang aufzunehmen, da so der Rezipient den Ort
nicht erkennen kann. Es wäre günstiger, ein
markantes Gebäude mit abzubilden. Was aber, wenn der Ort bei den
letzten Kriegsereignissen dem Erdboden gleichgemacht worden wäre?
Käme dann nicht ein Nachbau, eine Fälschung dem Plausibilisierungsbedürfnis
der Rezipienten in weit stärkerem Maß entgegen als ein
Schwenk über die verbrannten Felder?
Die Frage der Authentizität stellt sich bezüglich aller
abgebildeten Gehalte. Man kann z.B. fragen: sind Angst und Schmerz in
den Kindergesichtern authentisch oder vorgespielt? Da sich der
Photograph zudem die Empathie versagt, ist er gezwungen, sich selbst
den Schmerz nachträglich zu plausibilisieren. Auf dem Foto ist auch der Schmerz
nicht qua Empfindung, sondern qua Plausibilisierung echt; z.B. deshalb, weil
er formal so dargestellt wird wie der Schrei von Munch, weil er ein Bild zitiert, das bereits als Bild des Schmerzes anerkannt ist.
Fiktionale Plausibilität
Plausibilisierungen sind nicht auf non-fiktionale Zusammenhänge beschränkt.
1997 hat James Cameron mit dem Film Titanic
ein Exempel dafür
geliefert, als er ein Eins-zu-eins-Modell des Speisesaals der Ersten
Klasse in einem Tank mit 22 Millionen Litern Fassungsvermögen
durch ein riesiges Hydrauliksystem mit einer Geschwindigkeit von 30
cm pro Minute versenken ließ, damit das Katastrophengeschehen
so echt wie nur möglich wirkte.
Das
Phantastische hat keinen geringeren Plausibilisierungsbedarf als das
Nicht-Fiktionale. 2013
entsteht der Film Gravity.
Die
visuellen Effekte kommen von der britischen Firma framestore,
die
mit dem etwas anmaßenden Satz für sich werben: We
create extraordinary experiences.
500 Mitarbeiter haben 3 Jahre lang Feuer im Orbit gemacht und die
Schwerelosigkeit animiert. Mittels eines Käfigs mit 2 Mio. LEDs
wurde glaubwürdiges hartes Weltraumlicht simuliert. Eine
digitale Kopie der ISS Raumstation benötigte ein volles Jahr
Programmierarbeit. Die Süddeutsche Zeitung (2.10.2013) dazu:
»"Gravity"
ist der synthetische Film par excellence, der künstlichste, der
heute denkbar ist. Er erzählt von Rückzug, stufenweise, und
von Rückkehr, auf die Erde, wo man die Schwerkraft zurückgewinnt
und den Boden unter den Füßen - aber alles Erzählen
ist in diesem Film nur Vorwand. Im Gesicht von Sandra Bullock
dominieren Schrecken und Verzweiflung, ihre Körperbewegungen
aber sind von kraftvoller Fluidität.«
Der Autor der SZ ist der Ansicht, Action sei nun endgültig an
die Stelle der Saga getreten. Er sieht darin offenbar eine
Bildwirkung, die in die Lage kommt, eine klassische diskursive
Wirkung zu ersetzen. Wohl nach dem Motto: Wer sich von Action zudröhnen läßt,
hört nicht zu. Er könnte recht haben.
Bilder
machen Plausibilisierungskosten. Der Film Titanic
soll ca. 200 Mio. $ gekostet haben. Um die Kosten einzuschätzen,
benötigt man Vergleiche. Aber womit? Mit Der
dritte Mann, der
1947 im zerstörten Wien seine fertige Szenerie vorfand, die bis
heute manche Phantasie überbietet, die Gravity
erst Pixel für Pixel konstruieren muss und der fast nichts
kostete in einer Nichkriegssituation ohne Ressourcen? Oder wäre
ein zeitnaher Vergleich mit Gravity
besser, dessen Special-Effect-Leute trotz ihrer Hochachtung für
Cameron darauf hinwiesen, dass man die Effekte des Titanic-Film
sowohl aus Kosten- wie auch aus Authentizitätsgründen heute
digital und nicht mehr analog machen würde. Beim physikalischen
Verhalten von Rauch und Wasser während einer Katastrophe ist
die Computeranimation inzwischen einfach 'echter' als die Simulation in
riesigen Wasserbecken.
Vergleichen
wir also die Kosten mit dem Einspielergebnis des Films. Das
Einspielergebnis war bei Titanic zehn mal so höher als die Kosten. Titanic
war preiswert. Gravity
war nur halb so teuer, hatte aber bei weitem nicht den selben Erfolg.
Die Saga war wohlmöglich etwas knapp bemessen.
Science
Fiction Filme unterlegen Explosionen im Orbit häufig mit
Geräuschen, obwohl im luftleeren Raum nichts zu hören ist.
Aber für wen sollen die Bilder plausibel sein? Für Physiker oder
Kinobesucher? Entsprechende Fragen stellen sich bei jeder
Plausibilisierung. Beim Blick auf das Foto aus Trang Bang
phantasiert man schnell Kriegsgeräusche im Hintergrund. Jedes
Foto der Situation, bei dem die phantastische Ergänzung weniger
leicht zustande käme, würde vermutlich weniger authentisch
wirken.
Ist Wirkung kausal beschreibbar?
Oben
habe ich angemerkt, dass eine zureichende Beschreibung der ästhetisch
wirksamen Formen eines Bildes nicht möglich ist. Kunsthistoriker
haben immer wieder Versuche in diese Richtung unternommen. Lässt
sich die besondere Atmosphäre der Landschaft eines Niederländers
des 17. Jahrhunderts beschreiben, sodass deutlich wird, was die
ästhetische Wirkung ausmacht und mit welchen Mittel sie erreicht
wird? Ein Filmregisseur, der Finanzmittel für ein Projekt
einwirbt, wird nicht nur beschreiben, was er zu tun vorhat, sondern
auch, welche Nachfragewirkungen er davon erwartet und mit welchen Mtteln er sie zu erzielen gedenkt. Er wird mit einem
gewissen Recht ästhetische Wirkungen als planbare Wirkungen
seines Vorhabens darstellen.
Es
gibt keine robuste Prognosemöglichkeit, die von der Beschreibung
dessen, was auf einem Bild zu sehen sein muss, zu einer bestimmten zu
erwartenden Wirkung führt. Weil eigentlich etwas anderes zu
beschreiben wäre, nämlich die spätere Verwendbarkeit
von Filmen und Bildern in Diskursen, eine Verwendbarkeit, die sich wahrscheinlich nur
nachweisen läßt, indem man den Diskurs wirklich führt.
Bildinhalte
sind heute differenzierter beschreibbar als je zuvor. Die
Parametrisierbarkeit dessen, was auf Bildern und Filmen zu sehen ist,
verleitet zu der Vorstellung, jede visuelle Wirkung könne konstuiert
werden. Welche Eigenschaften blonde Haare auf dem Kopf eines
bestimmten animierten Helden haben sollen, welche Lichtbrechung Nebel
in Abhängigkeit von der Außentemperatur in einer fiktiven
Sumpflandschaft, lässt sich unzweideutig angeben. Gerade weil es
keine singulären Merkmale, sondern Wirkungen physikalisch
beschreibbarer Regelmäßigkeiten sind.
Was
Bildeigenschaften im Unterschied zu Bedeutungen sind, lässt sich
kaum noch verwechseln.
Die
moderne Astronomie zieht die Grenze zwischen Bild und Diskurs neu.
Astronomie beschäftigt sich bekanntlich im wesentlichen mit der Messung
elektromagnetischer Wellen über deren gesamtes Spektrum hinweg und soweit,
wie sie parametrisiert sind. Bewertet als reine Information und nicht mehr als
ästhetische Form erscheinen Messergebnisse als quasikausal
für den Fortgang des astronomischen Diskurses. Hier
verliert der gestirnte Himmel sein ästhetisches Moment.
Bildbeobachtung wird zu Informationsmessung. Hier endlich, wo sie keine mehr sind,
scheinen Bilder ganz direkt etwas zu sagen. Aber wer spricht da eigentlich?
Ikonen
Wahrscheinlich
wäre das Foto des Mädchens, das geschmackloserweise
Napalm-Girl genannt wurde, ohne entsprechende Reichweite, ohne
Veröffentlichung in der New York Times nicht zur Ikone geworden.
Ist
eine Ikone nicht ein Bild, das so mit Bedeutungen aufgeladen ist,
dass es eine gewisse Autonomie gegenüber jedem Diskurs
erreicht hat, der gerade stattfindet? Ein starkes Bild, das von sich aus Bedeutung in
schwächliche Diskurse implantieren kann, in Diskurse, die
sozusagen bereits in Rauschen übergegangen sind wie gestörter
Radioempfang, Diskurse, die stocken, weil ihnen die Bilder
ausgegangen sind? Was stellen wir uns vor, wenn wir uns alle das
gleiche vorstellen? Wären nicht genau das Ikonen? Die
Kategorie der Ähnlichkeit bezieht sich auf Bilder und nicht auf
Sprache, der Begriff der Bedeutung hingegen auf Sprache und nicht auf
Bilder. Wie sonst, wenn nicht mittels Ikonen sollte erreicht werden,
dass sich eine Gruppe von Menschen etwas leidlich Ähnliches
vorstellt? Und ist es nicht erforderlich, dass Menschen, die
dauerhaft ähnlich urteilen, auch dauerhaft ähnliche
Vorstellungen teilen? Ist nicht das einer der Gründe, warum
Ikonen, Einzelnes, das allen gemeinsam ('allgemein') werden soll, in
Prozessionen durch die Gassen getragen wird? Dennoch wäre es
falsch, Ikonen als starke Bilder zu beschreiben, die Diskurse
wiederbeleben.
Ikonen
sind nicht per se Lebenszeichen. Die griechisch-orthodoxe Kirche ist der
Spezialist für Ikonen, die über tausend Jahre in den selben
ästhetischen Grenzen steckenbleiben.
Wie macht es die Bilderflut?
Es werden zumindest im Ansatz genauer zu differenzieren sein, woraus die Bilderflut eigentlich besteht.
Sicher ganz überwiegend aus schwachen Bildern. Aber hat man es dort mit
grundsätzlich anderen Wirkungen zu tun?
Greifen wir ziemlich zufällig Selfies heraus. Auf Selfies kommt man ein
oder zweimal zurück, nicht Jahrtausende lang, aber die
Gelegenheit für das nächste Selfy ist jederzeit gegeben.
Und sicher verändert die Bilderflut das Verhältnis von Bild
und Diskurs. Selfies plausibilisieren anders. Es gibt bestimmte vorfabrizierte ästhetische Möglichkeiten.
Es gibt vor allem andere Beziehungsnetze zwischen Produzent und Rezipient. Jeder Rezipient kann im nächsten Augenblick Produzent sein.
An die Stelle der Auswahl des einen 'starken' Fotos tritt die Wiederholung des Ähnlichen überall.
Ich werde mich damit zu befassen haben. Eigentlich schade! Starke Bilder
sind mir lieber.
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