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Bilderflut - starke Bilder

Michael Seibel •    (Last Update: 09.02.2015)

Die Metapher der Bilderflut


Man warnt uns. Eine Welle habe uns überrollt. Man spricht von Bilderflut.

Wer so spricht, setzt uns zunächst nicht einem Bild, sondern einer Metapher aus. Wer die Metapher versteht – und sie ist leicht zu verstehen – hat ein Bild vor Augen, imaginiert etwas: Wasser hoch angestiegen, vielleicht reißend, das dabei ist, etwas zu zerstören oder bereits wieder nach getanem Vernichtungswerk träge den Grund an Stellen bedeckt, an die es nicht hingehört.

Die Wirkung der Metapher besteht darin, dass just in dem Moment, in dem das Bild des Wassers deutlich genug erinnert wird, um der Zerstörung Evidenz zu geben, etwas anderes an seine Stelle tritt – in unserem Fall Bilder, ganz egal, was darauf ist, nur viele müssen es sein, da es sich ja um eine Flut von Bildern handeln soll, aber Bilder, deren Inhalte (noch) völlig unbestimmt sind, Bilder, die also eigentlich gar keine Bilder sind – und sich beim Imaginären die fehlende Evidenz ausleihen müssen, die im Erinnerungsbild der Überflutung soeben die Schwelle zur Gegenwart überschreitet. Von jetzt an sind Bilder kraft Metapher gefährlich, selbst wenn es nichts auf ihnen zu sehen gibt. Von jetzt an kann man von Bilderflut reden, ohne auf andere privatsprachlich zu wirken.

Es sieht ganz so aus, als sei die Metapher der Bilderflut nicht völlig angemessen. Aber warum liest man sie so oft? Wir seien von einer Kultur der Sprache in eine Kultur der Bilder hinüber gewechselt, ohne es rechtzeitig zu bemerken. Halb zog es uns, halb sanken wir hin. Wir hätten uns inzwischen damit abgefunden, in einer Welt der Bilder und des äußeren Scheins zu leben, in einer Welt der Sichtbarkeit statt des Seins und der Bilder statt der Sprache, von simuli, von Spiegel-, Götzen- oder Trugbildern. Es reiche zu schauen, um zu wissen. Wesentliche orientierende Funktionen des Diskurses seien dabei auf das Bild übergegangen. Sei es, dass 'Bilder mehr sagen als Worte', sei es, dass es um Worte längst nicht mehr geht. Die Gefahr läge im Verlust von Distanz. Die Bilder seien einfach zu mitreißend, flutartig eben.

Was für Bilder enthält die Bilderflut? Lassen wir sie in einer Art Welle an den Strand der Aufmerksamkeit schwappen, um zu sehen, was da strandet.

Welch ein heterogener Haufen! Was soll daran gefährlich sein? Der zerfledderte Fetzen eines Plakats, ein Stück gemusterter Tapete fragwürdiger Provenienz, ein Foto ohne Text aus einer Tageszeitung, eine Lächelnde aus der Werbung, ein Urlaubsfoto. Es ist nicht zu leugnen: da sind wirklich unzählig viele Bilder. Mehr als jemals zuvor. Bilder wie 'Sand am Meer'. Auch das wäre ja eine Metapher. Ist sie nicht viel geeigneter? Sie verschiebt den Sinn von der Flut zum Strand, von der Gefahr zur Ruhe.

Die meisten Bilder der Flut sind todlangweilig. Wir wären ja gern aufmerksamer, aber die ständige Wiederholung überanstrengt uns. Das kann nicht heißen: je mehr, je intensiver, es muß heißen: je mehr, je ermüdender. Wer stellt solche Bilder her? Diese Millionen Selfies und Urlaubsfotos von Leuten, die im puren Jetzt verschollenen sind? Fast jeder, solange er das mindeste Maß an sozialer Teilhabe in einer Mediengesellschaft hat und jünger als siebzig ist.

Dann die vielen optischen Vertriebsmittel, Repräsentations- und Kopulationsschmierstoffe. Dort lugt ein Foto mit archaischem Wirkmechanismus heraus wie bei der Raubvogelkontur, die man ins Fenster hängt, damit die Tauben kehrt machen, und dort in sexistischer Opulenz ein Illustrierten-Partialobjekt, da wieder ein süßes kleines Wohlfühltier und ein Babyfoto.
Es ist nicht so, als hätten die Fotografen die Schemata vergessen, die uns spontan erreichbar machen.



Was macht starke Bilder stark?

Gehen wir die Bilderflut von ihrer starken Seite an. Nehmen wir ein sehr starkes Bild, um zu schauen, was es sagt. Nehmen wir dieses hier:



Huynh Cong Ut, Pressefoto vom 8. Juni 1972 bei Trang Bang
World Press Photo des Jahres 1972


Es gehört zu der Art von Bildern, bei der viele der Formulierung zustimmen würden: Das Bild sagt mir etwas. Und sogar mehr als etwas..



Halten wir folgendes zweite Bild daneben:



Kasimir Malewitsch, schwarze Quadrat 1915

Bei diesem zweiten Bild wird die Zahl derer, denen das Bild etwas sagt, sich mehr oder weniger auf die beschränken, die darin das berühmte schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, einen Höhepunkt der bildenden Kunst von 1915 erkennen. Die „Sage“ des Bildes besteht in der Tatsache, dass sich der Betrachter in einen kunstgeschichtlichen Diskurs versetzt. Falls man ihm diesen Diskurs nicht schon vor der Bildbetrachtung nahegebracgt hat, wird das Bild seine Aufmerksamkeit nicht fesseln. Es wird ihm „nichts sagen“.

Beim ersten der beiden Bilder ist das nicht wirklich anders. Auch das Foto würde außerhalb eines Kontextes, den der Betrachter bereits kennen muss, nichts sagen. Ein gravierender Unterschied zwischen beiden Bildern ist allerdings, dass die allermeisten Menschen beim Kriegsbild über passende Sinnzusammenhänge verfügen, im zweiten Fall, beim Quadrat, aber deutlich weniger. Vermutlich sind die Diskurse, in die die Liebhaber des Malewitsch-Bildes ihre Bildwahrnehmung eingebettet finden, sogar viel uniformer als die disparaten Vorstellungen von Kriegsgrauen, die mit dem ersten Bild verbunden werden.

Würde man danach fragen, welches von beiden das stärkere Bild ist, so würde man auf zwei fast überschneidungsfreie Diskurse treffen, in Bezug auf das Quadrat auf einen kunsthistorischen Diskurs, der im Malewitsch-Bild ein Jahrhundertwerk sieht und im Fall des Kriegsfotos auf einen Diskurs, der es als World Press Photo des Jahres 1972 ausgewählt und es mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet hat. Beides sind deshalb starke Bilder, weil es in beiden Fällen Diskurse gibt, die die jeweilige Auszeichnung rechtfertigen. Das Kriegsfoto ist kein stärkeres Bild als das Quadrat und umgekehrt. Und in der Tat lassen beide Bilder den nicht kalt, der engagierten Anteil am betreffenden Diskurs hat.

Ein Bild ist ein starkes Bild, solange es einem Diskurs erlaubt, es zu verwenden. Das Kriegsfoto ist zur Ikone geworden und hat seit mehr als 40 Jahren nichts von der Kraft verloren, dem Nachdenken über den Vietnamkrieg oder ganz generell über Gewalt eine bildliche Vorstellung zu unterlegen.
Entsprechendes gilt für das Malewitsch-Bild als Ausdruck für »die Empfindung der Gegenstandslosigkeit« im kunstgeschichtlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts.

Bleiben wir bei der Beschreibung der ästhetischen Wirkung des Kriegsfotos. Seine spontane Wirkung verdankt sich zumindest zum Teil einer ästhetischen Konstruktion, die beschreibbar ist. Das Foto wirkt auf jeden, für den schreiende Kinder ohne weiteres ein Alarmzeichen sind. Dass sich dieser Zeichencharakter auf dem Foto findet, ist nicht Resultat der Spontaneität des Fotografen, sondern konstruiert.
Wir können das sagen, weil über das Bild einiges bekannt ist. So wissen wir, dass es der Fotograf Huynh Cong Ut am 8. Juni 1972 bei dem Dorf Trang Bang (25 Kilometer nordwestlich von Saigon) aufgenommen hat. Man sieht auf dem Bild die neujährige Kim Phuc. Das nackte Mädchen läuft mit ihren jüngeren Brüdern Phan Tanh Tam (links) und Phan Tanh Phouc (links hinten) auf der Straße. Auf der anderen Seite neben ihr laufen ihr Cousin Ho Van Bon und ihre Cousine Ho Thi Ting von dem Dorf weg. Soldaten der 25. Division folgen ihnen.
Wir wissen, dass das Foto bereits am nächsten Tag auf der Titelseite der New York Times erschienen ist. Wir wissen auch, dass der Fotograf Huynh Cong Ut nicht allein an Ort und Stelle war. Dort befanden sich eine ganze Reihe Korrespondenten und Bildreporter wie David Burnett vom „Time Magazine“, der südvietnamesische Freelance-Fotograf Hoang Van Danh, der AP-Reporter Peter Arnett, Fox Butterfield von der „New York Times“, der NBC-Kameramann Le Phuc Dinh, ITN-Reporter Christopher Wain sowie ein Fernsehteam der BBC.





Auf einer Fotografie sind zwölf Reporter zu erkennen, die den Einschlag weißer Phosphor- und Napalm-Bomben in Trang Bang fotografieren. Man hatte zuvor gemeinsam auf die vom Kommandeur der südvietnamesischen Truppen angeforderte Luftunterstützung durch die südvietnamesische Luftwaffe gewartet. Und man wartete darauf, dass etwas Dramatisches passieren würde, Das war keine Überraschung. Man wartete auf 'gute Fotos'.

Wir wissen auch, dass die angereisten Fotografen zunächst weiter fotografierten, bis ihnen die Filme ausgingen, die sie noch in ihre Leicas hätten packen können, bevor sie sich um die Kinder kümmerten, die nach dem Luftangriff aus dem Dorf gerannt kamen. Sie selbst verfügten spontan gerade über das nicht, was die Wirkung des Fotos bei den meisten späteren Betrachtern in Gang gesetzt haben dürfte, über genügend Mitgefühl. Für sie selbst waren die Bilder keine Alarmsignale. Sie befanden sich im Profimodus. Sie warteten auf das Alarmsignal gerade nicht wie die Feuerwache auf dem Turm, um schnellst möglich Hilfe zu holen. Das Alarmsignal war für sie in ein Erkennungszeichen für ein wirksames Pressefoto mutiert.

Die Bildbedeutung ist nicht eindeutig. Sie ist eine andere für den Fotografen, für die Eltern des Mädchens, 1972 im US-Präsidentschaftswahlkampf gegen Nixon oder für heutige Betrachter, für die es zur Ikone geworden ist. Bedeutung ist keine Bildeigenschaft, wie viele meinen. Auf Bildern ist (fast) nichts zu sehen, es sei denn, sie übernehmen imaginäre Funktionen in Diskursen.
'Fast nichts' soll heißen: wir müssen es der Verhaltensbiologie überlassen, uns darüber zu belehren, in welchem Ausmaß die Signal-Wirkungen eine archaische Mitgift ist, in wieweit sie bei Tieren (und beim Tier Mensch) auch ohne das Dazwischentreten der Sprache möglich sind.

Nachdem das Foto-Shooting erledigt war, musste alles schnell gehen. Außerdem gab es nicht nur Fotos. Der NBC-Kameramann Le Phuc Dinh hatte auch eine 16mm-Tonfilmsequenz aufgenommen. Die hatte nicht das Zeug zur Ikone. Es galt, dutzende Kleinbild-Filme zu sichten. So wurde Sekunden nach dem berühmten Foto das folgende aufgenommen.





Man hat dieses Foto offenbar verworfen, weil es schwächere Assoziationsketten anregt. Hier scheinen die Kinder von Reportern verfolgt zu werden, nicht von Soldaten. Von den hinter ihnen laufenden Soldaten werden sie übrigens auch im berühmt gewordenen Foto nicht verfolgt. Die Soldaten fliehen vielmehr mit ihnen. Das Mädchen, das sich die brennenden Kleider von Leib gerissen hat, ist hier weniger zentral. Und es hat den Mund nicht zum Schrei aufgerissen.

Man kann sich fragen, warum zur Veröffentlichung nicht das ebenfalls entstandene Foto einer Mutter, die mit ihrem toten Baby auf dem Arm aus dem Dorf flieht, ausgewählt wurde und hören, dass es die Lebenden sind, an denen sich der Horror deutlicher als an den Toten zeigt. Die Gesichter der Toten sprechen nicht mehr. Es sind die Lebenden, die leiden.

Professionelle Bildauswahl und Nachbearbeitung haben stattgefunden. Einige Auswahl- und Bearbeitungskriterien des Fotos scheinen klar. Das Foto wurde rechtsseitig stark und unten leicht beschnitten, sodass die Gestalt des Mädchens weiter ins Zentrum rückte und der Junge im Vordergrund stärker angeschnitten ist. Vorder- Mittel- und Hintergrund erlauben die Assoziation zeitlicher und kausaler Abfolgen, die mit dem historischen Geschehen nichts zu tun haben müssen. Es reicht, wenn der Betrachter sie hinzu dichtet. Ketten wie: Explosion, Lärm, Verfolgung, Flucht, Schmerz, Tod, Krieg, Schuld … verdichten sich müheloss zu einer eindeutigen Dramaturgien.

Das Gestenhafte des Fotos ist unabhängig vom historischen Kontext zitierfähig und wiedererkennbar. Ein Vergleich mit Edvard Munchs der Schrei ist in dieser Hinsicht richtig.







Zbigniew Libera, Positives, 2003
Aneignung eines Bildes aus dem kollektiven Gedächtnis.

Ich habe diese Version der Szene von Zbigniew Libera erstmals in der Ausstellung (Mis)Understanding Photography des Folgwang Museus Essen gesehen. Ich hatte nicht erwartet, auf ein Bild zu stoßen, das auf das Kriegsfoto referierte und bemerkte deshalb nicht sogleich, was da zitiert wird.
Das Bild wirkte auf mich dennoch deutlich verstörend, auf eine Weise, die ich mir nicht durch die etwas absurde Strandparty erklären konnte, die es zeigt.
Indem ich das Zitat entdeckte, hatte ich das dringende Gefühl, etwas zu verstehen, ohne genau zu wissen, was eigentlich und ohne dass die verstörende Fernwirkung der Ikone nachließ.




Ist das Bild trotz all dieser Zurichtung authentisch?

Streng genommen ist Echtheit wohl keine dingliche Eigenschaft von Bildern. Echtheit kann es nur im Zusammenhang von Verwendungsweisen von Bildern in Diskursen geben. Die Echtheit einer Picasso-Zeichnung ist die Wahrheit der Behauptung, die betreffende Zeichnung stamme von Picasso. Natürlich muss dazu die Zeichnung von Picasso stammen. Dennoch bleibt es eine diskursive und keine piktorale Eigenschaft. Solange Diskurse, in denen Echtheit eine Rolle spielt, nicht vorkommen, hat das Bild die Eigenschaft der Echtheit nicht.


Dass das berühmte Bild der Erschießung eines republikanischen Milizionärs 1936 in Spanien von Robert Capas inszeniert und der selbe Mann auf dem Negativ, dass dem Foto der Erschießung folgte, wieder lebendig zu sehen war, ändert am Bild nichts. Es bekommt Gewicht in Diskursen, die die Gleichwertigkeit von sein und sehen reklamieren. Das Dokument ist echt oder nicht, nicht das Bild.

Bildnerische Eigenschaften hingegen sind Eigenschaften der Gestalt, Ergebnisse seiner Formung oder Auswahl. Eigenschaften des ausgezeichneten Fotos von Huynh Cong Ut, so wie es in der New York Times gedruckt wird, sind neben anderen die Zentralität des Mädchens, ihre Nacktheit, die Gesten des Schreis, die vom Körper weggespannten verbrannten Arme sowohl des Mädchens als ihres Bruders im Vordergrund, die sich noch im Fliehen bei den Händen fassenden Kinder im rechten Vordergrund, der klar gegliederte Aufbau in Vorder-, Mittel- und Hintergrund und einiges mehr.

Die formalen Eigenschaften eines Bildes sind wahrscheinlich nicht vollständig beschreibbar. Seine Beschreibung fällt in den Rahmen technisch orientierter Diskurse, so wie sich Platinen beschreiben lassen, die in Massen reproduziert werden sollen. Sie überschreitet zugleich jeden technischen Diskurs, weil sich das Rezept letztlich nicht vollständig angeben lässt, dass das Foto von Huynh Cong Ut verwirklicht hat und das uns an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit die Erstellung eines ähnlich eindrucksvollen Bildes gestatten würde.

Authentizität und Plausibilisierung

Aber erwecken wir nicht den Eindruck, als seien Echtheit und Authentizität unproblematisch, nur weil sie streng genommen nicht das Bild betreffen, sondern dessen Verwendungsweise als Dokument innerhalb von Schuldverhältnissen. Echt ist das, was als das befunden wird, als was es behauptet wird. Authentisch ist das Bild, welches zeigt, was es zu zeigen scheint, was als Urkunde dienen kann, die einen Sachverhalt oder Tatbestand fixiert. Die Fotographie genoss zu Beginn ihrer Geschichte großes Vertrauen bezüglich ihrer Authentizität. Aber kann ein Foto, das lange Belichtungszeiten erfordert, authentisch sein, wenn es zwar alle unbewegten Personen getreulich abbildet, aber Personen in schneller Bewegung nicht zeigen kann? Das technisch gerade erst gelöste Problem bestand darin, überhaupt etwas erkennbar abzubilden, dann die Empfindlichkeit zu erhöhen, um mit immer weniger Licht, kürzeren Belichtungszeiten und mit Farbe auszukommen. Die technische Weiterentwicklung der Photographie zeigt regelmäßig: Fälschungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bei Bildern sind ein und das selbe. Bilder – Bilder - nicht nur Fotos - bilden generell ihre Entstehungsbedingungen nicht ab. Im Fall des Foto-Shooting in Trang Bang wird das ausnahmsweise erkennbar, weil weitere Aufnahmen existieren, die etwas von den Entstehungsbedingungen zeigen. (Stationäre Geräte zur Geschwindigkeitsüberwachung im Straßenverkehr umgehen das Problem unbekannter Entstehungsbedingungen und überbieten damit mühelos das Pulitzerpreisfoto im Hinblick auf Authentizität, solange das Vertrauen des Verkehrssünders in den Rechtsstaat groß genug ist.)

Plausibilität

Vor Gericht gelten unbeschadet nationaler und geschichtlicher Unterschiede Sachverständigengutachten, richterlicher Augenschein, Urkunden, Zeugen, Sacheinlassungen des Beschuldigten und Geständnisse als Beweismittel. Zu beweisen sind die Richtigkeit oder Falschheit strittiger Parteienbehauptungen, woraus sich jeweils unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben. Würden Bilder nicht in die Begründung von Schuldverhältnissen einbezogen, würde der Unterschied zwischen echt und unecht entfallen.

Man könnte versucht sein, das einen Augenblick lang zu bestreiten, indem man darauf hinweist, das ohne den grundlegenden Unterschied wahrer und falscher Aussagen jedes Wissen unmöglich sei. Wie sollte ich eine Zeichnung von Picasso von einer von Braque unterscheiden, ohne mich auf zwei diesbezügliche wahre Aussagen verlassen zu können? Was schlimmer ist: wie kann ich Folgerungen auf ein Experiment aufbauen, wenn die Dokumentation nicht vertrauenswürdig ist? Unter Menschen, - nur da ist Wahrheit strittig -, ist richtig und falsch eine diskursive Differenz, die Schuldverhältnisse begründet. Mangelnde Echtheit des Bildes tangiert das Beweismittel des richterlichen Augenscheins, allerdings in einer Weise, der die Heranziehung von Sachverständigen abhilft. Augenschein übersetzt sich vor Gericht und in den Wissenschaften in ein Netz von Plausibilitäten. Starke Bilder sind plausible.

Produzent eines Bildes ist der, der die Produktion eines Bildes kontrolliert. Wie gesagt teilt das Bild selbst seine Produktionsbedingungen nicht mit. Rezipient eines Bildes ist derjenige, der das Bild plausibilisieren muss.
Für den Produzenten ist das Foto dann und nur dann in Trang Bang entstanden, wenn er es dort aufgenommen hat, für den Rezipienten ist es in Trang Bang entstanden, wenn es plausibel danach aussieht. Diese Plausibilität wird für den Produzenten in dem Augenblick wichtig, in dem er z.B. als Pressefotograf für ein Publikum fotografiert. Es ist dann ungünstig, ein Foto irgendwo im Feld vor Trang Bang aufzunehmen, da so der Rezipient den Ort nicht erkennen kann. Es wäre günstiger, ein markantes Gebäude mit abzubilden. Was aber, wenn der Ort bei den letzten Kriegsereignissen dem Erdboden gleichgemacht worden wäre? Käme dann nicht ein Nachbau, eine Fälschung dem Plausibilisierungsbedürfnis der Rezipienten in weit stärkerem Maß entgegen als ein Schwenk über die verbrannten Felder?

Die Frage der Authentizität stellt sich bezüglich aller abgebildeten Gehalte. Man kann z.B. fragen: sind Angst und Schmerz in den Kindergesichtern authentisch oder vorgespielt? Da sich der Photograph zudem die Empathie versagt, ist er gezwungen, sich selbst den Schmerz nachträglich zu plausibilisieren. Auf dem Foto ist auch der Schmerz nicht qua Empfindung, sondern qua Plausibilisierung echt; z.B. deshalb, weil er formal so dargestellt wird wie der Schrei von Munch, weil er ein Bild zitiert, das bereits als Bild des Schmerzes anerkannt ist.

Fiktionale Plausibilität

Plausibilisierungen sind nicht auf non-fiktionale Zusammenhänge beschränkt. 1997 hat James Cameron mit dem Film Titanic ein Exempel dafür geliefert, als er ein Eins-zu-eins-Modell des Speisesaals der Ersten Klasse in einem Tank mit 22 Millionen Litern Fassungsvermögen durch ein riesiges Hydrauliksystem mit einer Geschwindigkeit von 30 cm pro Minute versenken ließ, damit das Katastrophengeschehen so echt wie nur möglich wirkte.

Das Phantastische hat keinen geringeren Plausibilisierungsbedarf als das Nicht-Fiktionale. 2013 entsteht der Film Gravity. Die visuellen Effekte kommen von der britischen Firma framestore, die mit dem etwas anmaßenden Satz für sich werben: We create extraordinary experiences. 500 Mitarbeiter haben 3 Jahre lang Feuer im Orbit gemacht und die Schwerelosigkeit animiert. Mittels eines Käfigs mit 2 Mio. LEDs wurde glaubwürdiges hartes Weltraumlicht simuliert. Eine digitale Kopie der ISS Raumstation benötigte ein volles Jahr Programmierarbeit. Die Süddeutsche Zeitung (2.10.2013) dazu: »"Gravity" ist der synthetische Film par excellence, der künstlichste, der heute denkbar ist. Er erzählt von Rückzug, stufenweise, und von Rückkehr, auf die Erde, wo man die Schwerkraft zurückgewinnt und den Boden unter den Füßen - aber alles Erzählen ist in diesem Film nur Vorwand. Im Gesicht von Sandra Bullock dominieren Schrecken und Verzweiflung, ihre Körperbewegungen aber sind von kraftvoller Fluidität.« Der Autor der SZ ist der Ansicht, Action sei nun endgültig an die Stelle der Saga getreten. Er sieht darin offenbar eine Bildwirkung, die in die Lage kommt, eine klassische diskursive Wirkung zu ersetzen. Wohl nach dem Motto: Wer sich von Action zudröhnen läßt, hört nicht zu. Er könnte recht haben.

Bilder machen Plausibilisierungskosten. Der Film Titanic soll ca. 200 Mio. $ gekostet haben. Um die Kosten einzuschätzen, benötigt man Vergleiche. Aber womit? Mit Der dritte Mann, der 1947 im zerstörten Wien seine fertige Szenerie vorfand, die bis heute manche Phantasie überbietet, die Gravity erst Pixel für Pixel konstruieren muss und der fast nichts kostete in einer Nichkriegssituation ohne Ressourcen? Oder wäre ein zeitnaher Vergleich mit Gravity besser, dessen Special-Effect-Leute trotz ihrer Hochachtung für Cameron darauf hinwiesen, dass man die Effekte des Titanic-Film sowohl aus Kosten- wie auch aus Authentizitätsgründen heute digital und nicht mehr analog machen würde. Beim physikalischen Verhalten von Rauch und Wasser während einer Katastrophe ist die Computeranimation inzwischen einfach 'echter' als die Simulation in riesigen Wasserbecken.

Vergleichen wir also die Kosten mit dem Einspielergebnis des Films. Das Einspielergebnis war bei Titanic zehn mal so höher als die Kosten. Titanic war preiswert. Gravity war nur halb so teuer, hatte aber bei weitem nicht den selben Erfolg. Die Saga war wohlmöglich etwas knapp bemessen.

Science Fiction Filme unterlegen Explosionen im Orbit häufig mit Geräuschen, obwohl im luftleeren Raum nichts zu hören ist. Aber für wen sollen die Bilder plausibel sein? Für Physiker oder Kinobesucher? Entsprechende Fragen stellen sich bei jeder Plausibilisierung. Beim Blick auf das Foto aus Trang Bang phantasiert man schnell Kriegsgeräusche im Hintergrund. Jedes Foto der Situation, bei dem die phantastische Ergänzung weniger leicht zustande käme, würde vermutlich weniger authentisch wirken.

Ist Wirkung kausal beschreibbar?

Oben habe ich angemerkt, dass eine zureichende Beschreibung der ästhetisch wirksamen Formen eines Bildes nicht möglich ist. Kunsthistoriker haben immer wieder Versuche in diese Richtung unternommen. Lässt sich die besondere Atmosphäre der Landschaft eines Niederländers des 17. Jahrhunderts beschreiben, sodass deutlich wird, was die ästhetische Wirkung ausmacht und mit welchen Mittel sie erreicht wird? Ein Filmregisseur, der Finanzmittel für ein Projekt einwirbt, wird nicht nur beschreiben, was er zu tun vorhat, sondern auch, welche Nachfragewirkungen er davon erwartet und mit welchen Mtteln er sie zu erzielen gedenkt. Er wird mit einem gewissen Recht ästhetische Wirkungen als planbare Wirkungen seines Vorhabens darstellen.

Es gibt keine robuste Prognosemöglichkeit, die von der Beschreibung dessen, was auf einem Bild zu sehen sein muss, zu einer bestimmten zu erwartenden Wirkung führt. Weil eigentlich etwas anderes zu beschreiben wäre, nämlich die spätere Verwendbarkeit von Filmen und Bildern in Diskursen, eine Verwendbarkeit, die sich wahrscheinlich nur nachweisen läßt, indem man den Diskurs wirklich führt.

Bildinhalte sind heute differenzierter beschreibbar als je zuvor. Die Parametrisierbarkeit dessen, was auf Bildern und Filmen zu sehen ist, verleitet zu der Vorstellung, jede visuelle Wirkung könne konstuiert werden. Welche Eigenschaften blonde Haare auf dem Kopf eines bestimmten animierten Helden haben sollen, welche Lichtbrechung Nebel in Abhängigkeit von der Außentemperatur in einer fiktiven Sumpflandschaft, lässt sich unzweideutig angeben. Gerade weil es keine singulären Merkmale, sondern Wirkungen physikalisch beschreibbarer Regelmäßigkeiten sind.

Was Bildeigenschaften im Unterschied zu Bedeutungen sind, lässt sich kaum noch verwechseln. Die moderne Astronomie zieht die Grenze zwischen Bild und Diskurs neu. Astronomie beschäftigt sich bekanntlich im wesentlichen mit der Messung elektromagnetischer Wellen über deren gesamtes Spektrum hinweg und soweit, wie sie parametrisiert sind. Bewertet als reine Information und nicht mehr als ästhetische Form erscheinen Messergebnisse als quasikausal für den Fortgang des astronomischen Diskurses. Hier verliert der gestirnte Himmel sein ästhetisches Moment. Bildbeobachtung wird zu Informationsmessung. Hier endlich, wo sie keine mehr sind, scheinen Bilder ganz direkt etwas zu sagen. Aber wer spricht da eigentlich?

Ikonen

Wahrscheinlich wäre das Foto des Mädchens, das geschmackloserweise Napalm-Girl genannt wurde, ohne entsprechende Reichweite, ohne Veröffentlichung in der New York Times nicht zur Ikone geworden. Ist eine Ikone nicht ein Bild, das so mit Bedeutungen aufgeladen ist, dass es eine gewisse Autonomie gegenüber jedem Diskurs erreicht hat, der gerade stattfindet? Ein starkes Bild, das von sich aus Bedeutung in schwächliche Diskurse implantieren kann, in Diskurse, die sozusagen bereits in Rauschen übergegangen sind wie gestörter Radioempfang, Diskurse, die stocken, weil ihnen die Bilder ausgegangen sind? Was stellen wir uns vor, wenn wir uns alle das gleiche vorstellen? Wären nicht genau das Ikonen? Die Kategorie der Ähnlichkeit bezieht sich auf Bilder und nicht auf Sprache, der Begriff der Bedeutung hingegen auf Sprache und nicht auf Bilder. Wie sonst, wenn nicht mittels Ikonen sollte erreicht werden, dass sich eine Gruppe von Menschen etwas leidlich Ähnliches vorstellt? Und ist es nicht erforderlich, dass Menschen, die dauerhaft ähnlich urteilen, auch dauerhaft ähnliche Vorstellungen teilen? Ist nicht das einer der Gründe, warum Ikonen, Einzelnes, das allen gemeinsam ('allgemein') werden soll, in Prozessionen durch die Gassen getragen wird? Dennoch wäre es falsch, Ikonen als starke Bilder zu beschreiben, die Diskurse wiederbeleben.

Ikonen sind nicht per se Lebenszeichen. Die griechisch-orthodoxe Kirche ist der Spezialist für Ikonen, die über tausend Jahre in den selben ästhetischen Grenzen steckenbleiben.

Wie macht es die Bilderflut?

Es werden zumindest im Ansatz genauer zu differenzieren sein, woraus die Bilderflut eigentlich besteht. Sicher ganz überwiegend aus schwachen Bildern. Aber hat man es dort mit grundsätzlich anderen Wirkungen zu tun?
Greifen wir ziemlich zufällig Selfies heraus. Auf Selfies kommt man ein oder zweimal zurück, nicht Jahrtausende lang, aber die Gelegenheit für das nächste Selfy ist jederzeit gegeben. Und sicher verändert die Bilderflut das Verhältnis von Bild und Diskurs. Selfies plausibilisieren anders. Es gibt bestimmte vorfabrizierte ästhetische Möglichkeiten. Es gibt vor allem andere Beziehungsnetze zwischen Produzent und Rezipient. Jeder Rezipient kann im nächsten Augenblick Produzent sein. An die Stelle der Auswahl des einen 'starken' Fotos tritt die Wiederholung des Ähnlichen überall.

Ich werde mich damit zu befassen haben. Eigentlich schade! Starke Bilder sind mir lieber.



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