Der Wunsch
Sigmund Freud • Die primäre Tätigkeit des Unbewußten (Last Update: 11.03.2014)
Freud
zur primären Tätigkeit des Unbewußten:
»Wir
zweifeln nicht daran, daß auch dieser Apparat“ (der
psychische Apparat) „seine heutige Vollkommenheit erst über
den Weg einer langen Entwicklung erreicht hat. Versuchen wir’s,
ihn in eine frühere Stufe seiner Leistungsfähigkeit
zurückzuversetzen. Anderswie zu begründende Annahmen sagen
uns, daß der Apparat zunächst dem Bestreben folgte, sich
möglichst reizlos zu erhalten, und darum in seinem ersten Aufbau
das Schema des Reflexapparates annahm, das ihm gestattete, eine von
außen an ihn anlangende sensible Erregung alsbald auf
motorischem Wege abzuführen. Aber die Not des Lebens stört
diese einfache Funktion; ihr verdankt der Apparat auch den Anstoß
zur weiteren Ausbildung. In der Form der großen
Körperbedürfnisse tritt die Not des Lebens zuerst an ihn
heran. Die durch das innere Bedürfnis gesetzte Erregung wird
sich einen Abfluß in die Motilität suchen, die man als
»Innere Veränderung« oder als »Ausdruck der
Gemütsbewegung« bezeichnen kann. Das hungrige Kind wird
hilflos schreien oder zappeln. Die Situation bleibt aber unverändert,
denn die vom inneren Bedürfnis ausgehende Erregung entspricht
nicht einer momentan stoßenden, sondern einer kontinuierlich
wirkenden Kraft. Eine Wendung kann erst eintreten, wenn auf irgend
einem Wege, beim Kinde durch fremde Hilfeleistung, die Erfahrung des
>Befriedigungserlebnisses
gemacht
wird, das den inneren Reiz aufhebt. Ein wesentlicher Bestandteil
dieses Erlebnisses ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der
Speise im Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der
Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt.
Sobald dies Bedürfnis ein nächstes Mal auftritt, wird sich,
dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung
ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen
und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die
Situation der ersten Befriedigung wieder herstellen will. Eine solche
Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen; das
Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung, und
die volle Besetzung der Wahrnehmung von der Bedürfniserregung
her der kürzeste Weg zur Wunscherfüllung. Es hindert uns
nichts, einen primitiven Zustand des psychischen Apparates
anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen wird, das Wünschen
also in ein Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische
Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität,
nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der
Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist.
Eine
bittere Lebenserfahrung muß diese primitive Denktätigkeit
zu einer zweckmäßigeren, sekundären, modifiziert
haben. Die Herstellung der Wahrnehmungsidentität auf dem kurzen
regredienten Wege im Innern des Apparates hat an anderer Stelle nicht
die Folge, welche mit der Besetzung derselben Wahrnehmung von außen
her verbunden ist. Die Befriedigung tritt nicht ein, das Bedürfnis
dauert fort. Um die innere Besetzung der äußeren
gleichwertig zu machen, müßte dieselbe fortwährend
aufrecht erhalten werden, wie es in den halluzinatorischen Psychosen
und in den Hungerphantasien auch wirklich geschieht, die ihre
psychische Leistung in der Festhaltung des
gewünschten Objektes erschöpfen. Um eine zweckmäßigere
Verwendung der psychischen Kraft zu erreichen, wird es notwendig, die
volle Regression aufzuhalten, so daß sie nicht über das
Erinnerungsbild hinausgeht und von diesem aus andere Wege suchen
kann, die schließlich zur Herstellung der gewünschten
Identität von der Außenwelt her führen. Diese Hemmung
sowie die darauffolgende Ablenkung der Erregung wird zur Aufgabe
eines zweiten Systems, welches die willkürliche Motilität
beherrscht, d. h. an dessen Leistung sich erst die Verwendung
der Motilität zu vorher erinnerten Zwecken anschließt. All
die komplizierte Denktätigkeit aber, welche sich vom
Erinnerungsbild bis zur Herstellung der Wahrnehmungsidentität
durch die Außenwelt fortspinnt, stellt doch nur einen durch die
Erfahrung notwendig gewordenen Umweg
zur Wunscherfüllung .
Das Denken ist doch nichts anderes als der Ersatz des
halluzinatorischen Wunsches, (...)«
(aus
Sigmund Freud, Traumdeutung, 4. Aufl. Wien 1914, S. 234 f.)
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