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Wandel und Fortschritt in der Mathematik

M. Atiyah • Michael F. Atiyah 1969 zum Thema:   (Last Update: 01.01.2014)

Der Mathematiker veröffentlicht die Ergebnisse seiner Forschungen in Fachzeitschriften. In diesen wissenschaftlichen Arbeiten werden Theoreme bewiesen, die vorher nicht bekannt waren. Für einen Laien scheint die mathematische Literatur erstaunlich umfangreich zu sein, glaubt er manchmal doch sogar, es gäbe in der Mathematik überhaupt nichts Neues mehr zu erforschen.

In den Mathematical Reviews, die in den USA erscheinen, werden alle in der Welt veröffentlichten mathematischen Arbeiten besprochen. 1m Jahre 1967 wurden 17141 Titel aufgenommen. Wieso gibt es so viele ungelöste Probleme? Um was geht es in der heutigen Mathematik?

Für einen Mathematiker, der bisher nur in Fachzeitschriften über seine Forschungsergebnisse geschrieben hat, ist es eine ungewohnte Aufgabe, sich an einen größeren Kreis zu wenden, der hauptsächlich aus Nichtmathematikern besteht. Sicher werden unter den Lesern viele sein, die in ihrem Beruf gelegentlich oder auch fast täglich Teilgebieten der Mathematik begegnen. Dieser Kontakt mit der Mathematik ist in den einzelnen Fächern verschieden intensiv und auch sehr verschiedenartig. Alle stellen jedoch fest, daß ein breiter Graben liegt zwischen der Mathematik, wie sie dem wissenschaftlich arbeitenden Nichtmathematiker begegnet, und der Mathematik, wie sie von den reinen Mathematikern studiert wird.

Aus diesem Grunde scheint ein Versuch der Mühe wert, in allgemeinverständlichen Worten einen Überblick zu geben, um was es sich bei der heutigen Mathematik handelt, wie sie sich aus der Mathematik der Vergangenheit entwickelt hat und in welcher Beziehung sie zum wissenschaftlichen Leben im allgemeinen steht. Dies sind natürlich weitgespannte Fragen, weshalb es vermessen wäre, sie in einem kurzen Artikel erschöpfend behandeln zu wollen. Daher möge man verzeihen, daß hier zugunsten eines einheitlichen Gesichtspunktes ein Leitgedanke ausgewählt wird, obwohl es ohne Zweifel auch viele andere Blickwinkel gibt, unter denen eine Betrachtung ebensogut denkbar und vertretbar wäre. Ich will zufrieden sein, wenn ich Nichtmathematikern bis zu einem gewissen Grade eine Idee vom Inhalt der modernen Mathematik vermitteln kann. Es ist nicht zu erwarten, daß alle meine mathematischen Kollegen, sofern sie diese Zeilen lesen, mit der Auswahl dieser These einverstanden sind. Vielleicht werden sie jedoch zum Nachdenken über diese These und die damit zusammenhängenden allgemeinen Fragen angeregt.

Die These, die ich vorschlagen mochte, lautet: Die Entwicklung der Mathematik kann am besten als eine natürliche Reaktion auf die wachsende Schwierigkeit und Komplexität der Probleme verstanden werden, mit denen sie sich befassen muß. Soweit diese Probleme, direkt oder indirekt, ihren Ursprung in den Naturwissenschaften oder anderen Wissenschaften haben, spiegelt diese Komplexität an sich schon die zunehmende Kompliziertheit und Differenziertheit der modernen Wissenschaften wider.

Wir wollen mit einer Betrachtung der frühen Entwicklungsstufe der Mathematik beginnen, etwa in dem Jahrhundert vor Newton, der 1643 geboren wurde. Man kann sagen, daß damals das typische Problem darin bestand, eine Zahl, den Wert einer unbekannten Größe, zu finden, wenn bestimmte, diese Zahl betreffende Daten oder Gleichungen gegeben waren. Im wesentlichen waren irgendwelche einfachen algebraischen Gleichungen aufzustellen und zu lösen, im einfachsten Fall 204 eine Gleichung ersten Grades wie

3x - 6 = 0

aus der man den Wert der Unbekannten x berechnen kann, nämlich x = 2, oder eine Gleichung zweiten Grades wie

x2 - 5x + 6 = 0

aus der folgt, daß die Unbekannte x gleich 2 oder gleich 3 ist.

Die Mathematiker jener Tage beschäftigten sich mit der Lösung von Gleichungen höheren Grades, und tatsächlich ist die Geschichte der Mathematik jener Zeit zum großen Teil die Geschichte der Gleichungen dritten und vierten Grades.

Aber die einzelne unbekannte Größe oder Variable war begrifflich und mathematisch ganz unzureichend für die Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts. Was gebraucht wurde, war der Begriff einer Funktion. Eine Funktion ist ein Gesetz der Abhängigkeit einer Variablen von einer anderen Variablen, wie etwa bei einem sich bewegenden Gegenstand die Abhängigkeit des zurückgelegten Weges von der Zeit. In der Tat läuft das Auffinden einer unbekannten Funktion im wesentlichen darauf hinaus, eine unendliche Zahl von Werten einer unbekannten Variablen zu finden. Hierum bemühen sich alle Naturwissenschaftler, wenn sie aus vielen einzelnen Ablesungen eine Kurve zusammenstellen.

Denken wir an das Fallgesetz (Galilei, 1564-1642). Nach einer Fallzeit von t Sekunden hat ein frei fallender Körper - bei Vernachlässigung des Luftwiderstandes - den Weg von 4,9 * t2 Metern zurückgelegt. Ordnet man jeder Zahl t den 2 Wert 4,9 * t2 zu, dann erhält man eine Funktion, hier das Gesetz der Abhängigkeit des zurückgelegten Weges von der Zeit beim freien Fall. Diese Zuordnungsvorschrift heiße f. Der f zugeordnete Wert wird f(t) genannt.

f(t) = 4,9 * t2

Den zurückgelegten Weg kann man nur für einzelne Werte von t messen. Mit Hilfe vieler Messungen kann man das Gesetz erraten. Die Funktion f ermöglicht die Berechnung des zurückgelegten Weges für jeden Wert von t.

Das Neue am mathematischen Begriff der Funktion war, sie - in unserem Beispiel also die Funktion f - als ein einziges mathematisches Objekt anzusehen. Seine Einführung war ein entscheidender Schritt vorwärts und befähigte die Mathematiker, die komplizierteren Fragen zu behandeln, die durch die Anfänge der modernen naturwissenschaftlichen Forschung aufgeworfen wurden.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand die Differential- und Integralrechnung, im wesentlichen durch die Arbeit von Newton und Leibniz. Von dieser Zeit bis in das 19. Jahrhundert war das typische mathematische Problem, eine unbekannte Funktion zu finden, wenn bestimmte, diese Funktion betreffende Daten und Gleichungen gegeben waren. Diese Gleichungen wurden gewöhnlich mit Hilfe von Ausdrücken der Differential- und Integralrechnung formuliert. So wurde das Studium von Differential- und Integralgleichungen entscheidend für den Fortschritt der physikalischen Wissenschaften. Die Theorie der Funktionen wurde zum Hauptanliegen der Mathematiker. Wir können hier keine Beispiele von komplizierten Differential- und Integralgleichungen geben. Die meisten Leser werden jedoch die Ableitung f ' einer Funktion f von der Schule her kennen. f ' ist selbst wieder eine Funktion. Für die vorhin erwähnte Funktion f mit f(t) = 4,9 * t2 ist f ' die Funktion, die zur Zeit t den Wert 9,8 * t hat.

f ' (t) = 9,8 * t

f ' (t) ist die Geschwindigkeit in Meter pro Sekunde, die der frei fallende Körper nach t Sekunden hat. Die Berechnung von f ', wenn f bekannt ist, oder die Berechnung von f, wenn f ' bekannt ist, sind die Grundaufgaben der Differential- und Integralrechnung. Was bisher gesagt wurde, ist natürlich allgemein bekannt. Es sollte damit nur eine gewisse historische Perspektive gegeben werden. Wir wollen jetzt die Mathematik der letzten hundert Jahre unter dem Licht der aufgestellten These betrachten.

Was ist an die Stelle der Theorie der Funktionen und der Untersuchung von Funktionen mit Hilfe von Differential- und Integralgleichungen getreten? Warum spielen heute andere Gebiete der Mathematik eine ähnlich fundamentale Rolle wie früher die Theorie der Funktionen?

Um zu verstehen, was geschehen ist, sollten wir den Standpunkt des Mathematikers einnehmen. Seine Aufgabe bestand darin, Funktionen zu studieren. Aber mit der Zeit traten mehr und mehr Typen von Funktionen auf, praktischen oder theoretischen Ursprungs, und sie wurden immer komplizierter. Insbesondere mußte der Mathematiker statt einer Funktion einer Variablen oft viele Funktionen vieler Variablen und sie verbindende Differential- und Integralgleichungen betrachten. Denken wir etwa an die Hydrodynamik, wo sich bewegende, räumlich ausgedehnte Flüssigkeiten oder Gase behandelt werden. Druck, Dichte und die drei Geschwindigkeitskomponenten sind abhängig von Ort und Zeit. Da der Ort durch drei Raumkoordinaten gegeben wird, erhält man als Beispiel ein System von fünf Funktionen von vier Veränderlichen.

Vom theoretischen Standpunkt aus bestand die Aufgabe des Mathematikers offensichtlich darin, etwas Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Er mußte neue Methoden ersinnen, um mit dieser immer größer werdenden Komplexität fertig zu werden. Was konnte er tun?

Ich mochte auf drei verschiedene Entwicklungen in der modernen Mathematik hinweisen, die, wie ich glaube, durch dieses Problem der fortschreitenden Komplexität motiviert wurden und die darauf Teilantworten geliefert haben. Sicher gibt es auch noch andere Entwicklungsrichtungen in der Mathematik, die man in ähnlicher Weise betrachten konnte.

Die erste und vielleicht am einfachsten zu erklärende Methode ist die konsequente Ausnutzung der symmetrischen Eigenschaften, die eine vorgegebene mathematische Problemstellung hat. Jeder hat eine intuitive Vorstellung davon, was Symmetrie bedeutet. Symmetrie kann natürlich in ganz verschiedenen Zusammenhängen vorkommen. Sie kann bei physikalischen und mathematischen, bei geometrischen und algebraischen Sachverhalten vorhanden sein. Zum Beispiel sind x2+y2+z2 und xy + zt algebraische Ausdrücke mit Symmetrieeigenschaften. In dem ersten Ausdruck ist die Symmetrie vollständig, die drei Variablen spielen identische Rollen, bei einer beliebigen Permutation (Vertauschung) von x, y und z - es gibt insgesamt 6 - geht der algebraische Ausdruck x2+y2+z2 in sich über. Im zweiten Fall handelt es sich nur um eine Teilsymmetrie. Zum Beispiel läßt die Permutation, welche x in x, y in z, z in y und t in t überführt, den algebraischen Ausdruck nicht unverändert. Es gibt insgesamt 24 verschiedene Permutationen von x, y, z, t. Man kann leicht feststellen, daß davon genau die folgenden 8 Permutationen den Ausdruck xy + zt unverändert lassen. (Die Regeln a+b = b+a und ab = ba dürfen verwandt werden.)

Dabei bedeutet zum Beispiel die letztgenannte Permutation, daß x in t, y in z, z in y und t in x überführt wird. Unter einer Bewegung versteht man eine Abbildung der Ebene bzw. des Raumes auf sich, die zwei beliebige Punkte stets in zwei Punkte gleichen Abstands überführt. Zwei ebene bzw. räumliche geometrische Figuren heißen kongruent, wenn sich eine Bewegung ausführen läßt, mit der die eine Figur in die andere überführt werden kann. Die Gesamtheit aller Bewegungen, die eine geometrische Figur in sieh überführen, also die Gesamtheit der Selbstkongruenzen der Figur, nennt man die Symmetriegruppe der Figur. Im Falle des gleichseitigen Dreiecks, des Quadrats und des regulären Fünfecks müssen aIle Bewegungen, die zur Symmetriegruppe gehören, den Mittelpunkt festlassen und die Eckpunkte permutieren. Durch die Vertauschung der Eckpunkte ist die Bewegung bereits festgelegt, im Falle des gleichseitigen Dreiecks kommen alle 6 Vertauschungen der Eckpunkte vor, im Falle des Quadrats von den 24 möglichen Vertauschungen nur 8 Vertauschungen, nämlich die zyklischen Vertauschungen, die sieh aus den Drehungen um 0, 90, 180 und 270 Grad ergeben, und die 4 Vertauschungen, die den Spiegelungen an den 4 Symmetrieachsen entsprechen.





Für die Kugel besteht die Symmetriegruppe aus allen Bewegungen des Raumes, die den Mittelpunkt der Kugel festlassen. Dazu gehören insbesondere alle Drehungen um irgendeinen Drehwinkel um eine beliebige durch den Mittelpunkt gehende Achse. Zwei Punkte des Raumes lassen sich durch eine Bewegung, die zu dieser Symmetriegruppe gehört, genau dann ineinander überführen, wenn sie vom Mittelpunkt M der Kugel den gleichen Abstand haben. Ist ein Problem kugelsymmetrisch, dann wird deshalb der Abstand vom Mittelpunkt die entscheidende Größe sein.

Wie sicher einleuchtend ist, wird ein Problem sehr vereinfacht, wenn man vor Beginn der Untersuchung weiß, daß das Problem einen bestimmten Symmetrietyp hat. Hierdurch kann häufig die Anzahl unbekannter Variablen oder Funktionen drastisch reduziert werden. Das gerade diskutierte Beispiel der Kugelsymmetrie kommt im Zusammenhang mit elektrischen Ladungen vor: Wenn man die Feldstärke an einer Stelle P, verursacht durch eine Ladung im Punkt M, untersucht, beruft man sich auf die Kugelsymmetrie (Mittelpunkt M) und schließt, daß die Feldstärke eine Funktion der Entfernung von P und M sein muß.

Diese wenigen Bemerkungen deuten bereits darauf hin, daß ein mathematisches Studium der Symmetrie von großem Nutzen sein müßte, um Ordnung in komplizierte Situationen zu bringen. Außerdem möchte man eine einzige abstrakte Theorie der Symmetrie haben, die alle die verschiedenen geometrischen und algebraischen Fälle der Symmetrie erfaßt. Daß eine solche Zusammenfassung möglich sein könnte, wird durch Beispiele motiviert.

So hat etwa der algebraische Ausdruck x2+y2+z2 vom Standpunkt der Symmetrie aus mehr mit einem gleichseitigen Dreieck, also mit einer geometrischen Figur, gemein als mit dem algebraischen Ausdruck xy+zt.

In x2+y2+z2 bzw. in dem gleichseitigen Dreieck können die drei Variablen x,y,z bzw. die drei Eckpunkte beliebig vertauscht werden.

Mit anderen Worten, Symmetrie hat mehr mit den Wechselbeziehungen der Objekte untereinander zu tun als mit ihrer Natur. Eine geometrische Figur und ein algebraischer Ausdruck können also dieselbe Art von Symmetrie haben. Der algebraische Ausdruck xy+zt und das Quadrat lassen übrigens ebenfalls Symmetriegruppen gleicher Art zu. Wir bezeichnen die Eckpunkte des Quadrats wie folgt:



und sehen dann. daß es sich in beiden Fällen um dieselben 8 Vertauschungen der 4 Symbole x, y, z, t handelt, die vorher aufgezeigt wurden.

Das Studium der abstrakten Symmetrie hat sich schon seit den Resultaten von Galois (1811-1832) über die Permutation der Wurzeln einer algebraischen Gleichung stark entwickelt. Es wird als 'Gruppentheorie' bezeichnet und ist jetzt eines der zentralen Gebiete der Mathematik.

Eine Gruppe wird axiomatisch durch Eigenschaften definiert, die bei einer Symmetriegruppe offensichtlich erfüllt sind. Eine Gruppe G ist eine Menge von irgendwelchen abstrakten Objekten, für die eine Verknüpfung definiert ist, d.h. für Objekte a, b der Gruppe G ist ein Objekt aob der Gruppe erklärt. Für eine Symmetriegruppe (denken wir etwa an die Selbstkongruenzen einer geometrischen Figur) ist aob die Selbstkongruenz, die man erhält, wenn man erst die Selbstkongruenz b und danach die Selbstkongruenz a ausführt. So konnte etwa beim Quadrat b die Drehung um 90 Grad und a die Drehung um 180 Grad sein, aob ist dann die Drehung um 270 Grad. Die Gruppenverknüpfung soll gewisse Axiome erfüllen z.B. ao(boc) = (aob)oc, die, wie gesagt, bei einer Symmetriegruppe offensichtlich richtig sind.

Die Gruppentheorie ist typisch für den modernen Geist in der Mathematik, und der Begriff einer Symmetriegruppe ist so grundlegend für das 20. Jahrhundert, wie es der Begriff einer Funktion noch für das 19. Jahrhundert war. Es ist nicht verwunderlich, daß es zahlreiche wichtige Anwendungen der Gruppentheorie (Symmetrietheorie) in der Kristallographie und der Quantenchemie gibt. In allerletzter Zeit hat sie zu überraschenden neuen Entwicklungen in der Physik der Elementarteilchen geführt. In jedem Falle steht fest, daß sie einen Weg zeigt, um mit der wachsenden Komplexität der mathematischen und physikalischen Probleme fertig zu werden.

Eine ganz andere Methode zur Behandlung komplizierter Probleme liegt im Gebrauch der Wahrscheinlichkeit. Wenn die Zahl der unbekannten Variablen sehr groß ist, gibt man den Versuch auf, das Problem vollständig zu lösen, und begnügt sich mit einer Antwort, durch die ein Maß der Wahrscheinlichkeit gegeben wird.

Natürlich reicht die Wahrscheinlichkeitstheorie in ihren einfacheren Formen weit zurück in die Geschichte der Mathematik, aber erst die Anforderungen der Naturwissenschaften in den letzten hundert Jahren machten sie schnell zu einem wichtigen Zweig der Mathematik. Zur Zeit besitzt die Wahrscheinlichkeitstheorie eine abstrakte Form. Sie muß in gleicher Weise für alle Fälle gelten, wo man es mit einer großen Zahl von Objekten zu tun hat, ob diese Objekte nun die Wiederholungen eines Experimentes (wie beim Würfeln) oder die Moleküle eines Gases (wie in der Thermodynamik) oder die Einzelpersonen einer Bevölkerung (wie in der Ökonomie) sind. Die Theorie beschreibt also z.B. physikalische Erscheinungen wie die Brownsche Bewegung der Moleküle und zufällige Störungen im Funkverkehr, macht aber auch Aussagen über die Wartezeiten von Flugzeugen vor der Landung auf einem Flugplatz, über die günstigste Bestellstrategie für ein Warenlager und über die Zuverlässigkeit eines aus vielen Einzelteilen zusammengesetzten elektronischen Apparates.

In allen diesen Fallen ist die Wahrscheinlichkeitsverteilung der grundlegende Begriff, der die klassische Idee der Funktion ersetzt hat. Da die Anwendungsmöglichkeiten und die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitstheorie im allgemeinen gut bekannt sind, soll hierüber nicht mehr gesagt sein, sondern zu einer dritten, weniger bekannten Entwicklung übergegangen werden.

Diesen dritten großen Zweig der Mathematik, dessen Entstehung wir im Licht der am Anfang aufgestellten These sehen wollen, konnte man qualitative Mathematik nennen. Untersucht man eine Funktion, ist man oft mehr an ihren allgemeinen Merkmalen als ihrem Verhalten im einzelnen interessiert. Betrachten wir die graphischen Darstellungen einiger Funktionen auf dieser Seite.





Die ersten beiden Funktionen sind von der gleichen Art, die nächsten zwei gehören zu einer anderen Art, die letzte zu einer dritten. Als weiteres Beispiel untersuchen wir die Funktionen x2 + ky2, wobei k eine von Null verschiedene Konstante ist (d.h. die Funktionen, die dem Punkt der Ebene mit den Koordinaten (x, y) den Wert x2 + ky2 zuordnen). Alle diese Funktionen mit positiver Konstante k sind in gewissem Sinne gleichartig, aber sie unterscheiden sich qualitativ von den Funktionen, die sich ergeben, wenn k negativ ist. Zur Veranschaulichung stellen wir zwei dieser Funktionen in einem räumlichen Koordinatensystem dar, und zwar einmal für k = 1/5, und dann fur k = -1/5. Im ersten Fall hat man im Punkte x = y = 0 ein Minimum, im anderen Fall einen sogenannten Sattelpunkt.

Die qualitative Mathematik untersucht die allgemeinen Merkmale der Funktionen und ordnet nach Kriterien ein, die schön an so einfachen Beispielen wie in der folgenden Abbildung deutlich werden: die ersten beiden Funktionen sind von gleicher Art, die nächsten zwei gehören zu einer anderen, die letzte zu einer dritten. Das Beispiel oben zeigt Funktionen x2 + ky2. Für verschiedene, aber positive Werte von Q erhält man im Nullpunkt des Achsenkreuzes ein Minimum, für negative k jedoch einen sogenannten Sattelpunkt. Je nach dem Vorzeichen von Q resultieren also zwei verschiedene Arten. (...)







Ein aufschlußreiches Beispiel der qualitativen Klassifikationen bieten die Oberflächen einer Kugel, eines Ellipsoids, eines Torus und einer Brezel. Die qualitativen Unterschiede zeigen sich zum Beispiel im Verhalten einer strömenden Flüssigkeit auf beiden Flächen. (Physikalische Erwägungen über die Komprimierbarkeit werden außer acht gelassen.) Bei Kugel und Ellipsoid gibt es immer wenigstens einen Stagnationspunkt. Der Torus kann jedoch ohne Stagnationspunkt umflossen werden. Deshalb gehören diese Flächen zu verschiedenen Typen. Bei der Brezeloberfläche gibt es wie bei der Kugeloberfläche stets wenigstens einen Stagnationspunkt, doch im Gegensatz zu dieser keine Strömung, bei der nur Stagnationspunkte der Arten (1), (2), (3) auftreten. Möglich ist eine Strömung mit zwei Stagnationspunkten der Art (4), wie sie sich aus den Strömungsbildern (5) zweier mit einem Loch versehener Torusflachen ergibt, wenn man diese längs der Lochränder zur Brezel vereinigt.

Werden die Fragen komplizierter, so ist es oft unrealistisch, eine genaue, quantitative Antwort zu erwarten, und man begnügt sich daher gern mit einer qualitativen Antwort, wie sie durch die obigen einfachen Zeichnungen illustriert wird. Eine weitere qualitative Eigenschaft einer Funktion besteht darin, ob sie periodisch ist oder nicht: Gilt f(x+a) = f(x) für wenigstens ein a und alle x, so nennt man die Funktion f periodisch. Geometrisch entspricht dies dem Unterschied eines Kreises von einer unendlichen Geraden.

Ein etwas interessanteres Beispiel ist die Unterscheidung zwischen der Oberfläche der Kugel, des Ellipsoids, des fahrradschlauchähnlichen Torus und der Brezel (...). So zeigt sich, daß die ersten beiden zum gleichen qualitativen Typ gehören, wenn auch die betreffenden Konstanten (Achsenlängen) verschiedene Werte haben. Die dritte und vierte sind andere Typen.

Es mag überraschend erscheinen, daß es möglich ist, solche qualitativen Begriffe mathematisch zu behandeln, aber es ist tatsächlich möglich und bildet den Inhalt der Topologie, eines der Hauptzweige der heutigen Mathematik. Man könnte etwa sagen, daß es das Ziel der Topologie ist, Funktionen (oder Konfigurationen oder andere mathematische Objekte) in Typen einzuteilen oder zu klassifizieren und zu versuchen, die gemeinsamen Merkmale aller Funktionen desselben Typs zu finden. Was unter dem Typ einer Funktion zu verstehen ist, ändert sich natürlich gemäß der Natur des Problems, aber die einfachen Beispiele, die hier angeführt wurden, geben einen gewissen Begriff davon, um was es sich handelt.

Angesichts der Bedeutung, die in den Anfängen der Mathematik den Zahlen beigemessen wurde, pflegt man es als selbstverständlich anzusehen, daß die Mathematik unweigerlich quantitativ ist, und die qualitative Seite, von der gerade gesprochen wurde, bedeutet für manche Menschen eine gewisse Überraschung. Das entscheidende Merkmal der Mathematik ist jedoch die Genauigkeit, und man kann bei Klassifikationsproblemen ebenso genau sein wie bei Zahlenproblemen.

Man muß zugeben, daß die Topologie bisher noch nicht viel Anwendung in den Naturwissenschaften gefunden hat. Andererseits war sie von ungeheurem Wert für Mathematiker aller Richtungen. Sie hat in vielen verschiedenen Zweigen einen Rahmen zur Ordnung und Systematisierung geliefert und uns zu einem tieferen Verständnis verholfen. Indirekt und auf lange Sicht muß sich auch in der praktischen Anwendung ihr Einfluß geltend machen.

So sei noch erwähnt, daß der bedeutende französische Mathematiker René Thorn diese qualitativen Begriffe zum Zwecke ihrer Anwendung in der Biologie entwickelt hat. Er hat auch bereits Vortrage darüber gehalten, und ein Buch wird in nächster Zukunft erscheinen. Hier konnte der Beginn einer wichtigen Entwicklung liegen.

Die drei Zweige der Mathematik, die hier erwähnt wurden, nämlich die Gruppentheorie, die Wahrscheinlichkeitslehre und die Topologie, sind typische Hauptgebiete der modernen Mathematik. Sie alle behandeln abstrakte Begriffe (Symmetrie, Wahrscheinlichkeitsmaße, qualitative Klassifikationen), die erheblich anspruchsvoller sind als die Begriffe Zahl und Funktion. Diese Abstraktheit der modernen Mathematik wird oft kritisiert, und ich muß zugeben, daß die Abstraktion teilweise zu weit geht, aber ich wollte zeigen, daß sich die abstrakten Begriffe als natürliche Antwort auf den Druck der Ereignisse ergaben.

Ohne sie wäre die Mathematik jetzt schon von einer Menge komplizierter Einzelheiten erdrückt und in unzählbare, nicht miteinander verbundene Sonderfalle aufgespalten. Wir sehen also, daß sich die Natur der Mathematik ändert. Neue Begriffe, die vor hundert Jahren noch kaum bekannt waren, stehen jetzt im Mittelpunkt. Dies bedeutet aber nicht, daß sich der Grundgehalt der Mathematik völlig geändert hatte. ´

Wir beschäftigen uns noch immer mit Zahlen und algebraischen Gleichungen, mit Funktionen und Differentialgleichungen, aber wir haben jetzt eine Vielfalt neuer Werkzeuge zu unserer Verfügung.

Wir können Probleme in Angriff nehmen, die unsere Vorgänger als hoffnungslos kompliziert angesehen hatten. Wir besitzen einen größeren Überblick und können die zugrundeliegenden Einheiten in der Mathematik erkennen, die früher nur unklar wahrgenommen wurden. (Aus: M. Atiyah, »Wandel und Fortschritt in der Mathematik«, Stuttgart, 1969«)


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