116. Athenäums-Fragment
Friedrich Schlegel • Universalpoesie (Last Update: 24.02.2014)
Die romantische Poesie ist eine
progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß,
alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die
Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen.
Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik,
Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die
Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft
poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit
gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen,
und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt
alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre
Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer,
dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.
Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben
möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei
ihr eins und alles; und doch gibt es noch keine Form, die dazu
gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig
auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch
einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst
dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der
ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann
auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden,
frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der
poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer
wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln
vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten
Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch
von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren
Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr
die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet
wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz
der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe
im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun
vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist
noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig
nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie
erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte
es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist
unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz
anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über
sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als
Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen
Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.
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