Loading...

Historische Leistungsmotive

Michael Seibel • Arbeit und Risiko • Ökologie   (Last Update: 24.07.2018)

Es lohnt durchaus, sich zu vergegenwärtigen, was heute starke Handlungsmotive zu besonderer Leistung und für gesellschaftliche Anerkennung sind und was in der Vergangenheit die starken Motive waren. Das Thema ist geschichtlich extrem facettenreich, sodass es hier nur kurz angesprochen werden kann.

Bestimmte Kandidaten sind unübersehbar, Konsum, Opferbereitschaft und Risikobereitschaft.

Konsumchancen werden nicht nur als Lohn für Arbeit vergeben, sichtbarer Konsum symbolisiert vielmehr heute wie seit der Antike Status.

Opfer- und Risikobereitschaft? Sind das heute in Zeiten von social media nicht völlig aus der Zeit gefallene Begriffe? Nein, sind sie nicht. Sie sind völlig ernst gemeint. Gerade im Internet kommen die irrationalen Helden aus ihren Gruften. Im Grunde hat das Internet bis heute keine einzige große neue Erzählung hinbekommen. Es beschleunigt vielmehr die alten Erzählungen. Was sie dabei abnutzt, sind nicht die alten Erzählungen, sondern deren traditionelle Kontexte und die mühselig auf ihrer Oberfläche fixierte Rationalität. Von Millionen shit-storm-Helden würde kein einziger es wagen, die gleiche Rolle im Büro anzustimmen, aber in der Anonymität wie in der Masse fällt vielen nichts besseres ein.

Persönliche Opferbereitschaft im Krieg, auf dem Fußballplatz und bei der Arbeit ist ein weiterer Kandidat für gesellschaftliche Anerkennung mit langer Tradition. Ob im Auftrag Gottes, des Staates oder des Arbeitgebers gearbeitet wird, es liegt darin ein Moment des Opfers, der Unterwerfung unter ein Herrschaftsverhältnis, das traditionell goutiert wird. Prototypen empfangener Anerkennung sind Ehrensold und Ehrengrab.


Forschungsleistung wird ebenfalls gern als ein Kandidat gesellschaftlicher Anerkennung gesehen und z.B. durch den Nobelpreis öffentlich zelebriert. So soll denn auch das Interesse an der eigenen Arbeit eine Triebfeder sein, ihr über den Eigenbedarf hinaus nachzugehen. De facto haben Institutionen wie der Nobelpreis Symbolcharakter. Sie markieren Spitzenleistungen in einem bestehenden System von Bildung und Forschung, das dadurch ein Stück weit ausgerichtet und möglicherweise angeregt wird und sich selbst feiert. Solche Markierungen von Spitzenleistungen, ob in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder im Militär, setzt aber voraus, dass Formen gesellschaftlicher Anerkennung existieren, die in der Breite wirksam sind. In einer Welt ohne funktionierende Ausbildungsangebote und Schulen macht ein Nobelpreis keinen Sinn und würde wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen.


Risikobereitschaft und die Bewährung in Verhältnissen von Kampf und Konkurrenz ist ein weiterer Hauptgegenstand gesellschaftlicher Anerkennung mit langer Geschichte.


Arbeit und Risiko


Risikoübernahme wird traditionell als in hohem Maß anerkennenswert betrachtet und entsprechend inszeniert. Arbeit und Risikobereitschaft sind ihrem Gehalt nach eng miteinander verbunden.


Menschen wirken auf vielfältige Art und Weise auf ihre Umwelt ein, um in ihr leben zu können. Der menschliche Stoffwechsel mit der Natur erfolgt eben nur zum Teil wie bei der Atmung eines gesunden Menschen in gesunder Umgebung spontan. Andere kann nur nach Umformung verwertet werden. In beiden Fällen ist der Stoffwechsel ein Prozess ständiger lebenslanger Wiederholung. Menschen können dabei wie jedes Lebewesen auf Umgebungen treffen, die ihnen kein Leben gestatten. Der Austausch von Mensch und Umwelt ist in diesem Sinn konstitutionell risikobehaftet. Die Polis wie der Einzelne verhalten sich ständig zu Lebensrisiken. Die Übernahme von Risiken ist eins der wohl ältesten Phänomene überhaupt, die das Zustandekommen von Kultur- und Herrschaftsverhältnissen begünstigen. Sie haben regelmäßig Anteil an der Entstehung von Verpflichtung. Risikoübernahmen, die in der Folge Rechte begründen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte als durch eine Geschichte von Schuldverhältnissen, angefangen bei den Risiken der Verteidigung durch den Soldatenstand bis zum risikobereiten Privatinvestor. Risikoübernahme stellt sich oft in der Folge als besonders lukrativ heraus und die Erben derjenigen, die ursprünglich Risiken zu tragen hatten, als diejenigen, die zuletzt die wenigsten Risiken zu tragen haben. Aber dieses Mysterium wurde bereits einer sehr viel eingehenderen Betrachtung unterzogen, als ich es hier tun kann. Ich komme nicht um den Hinweis auf den Begriff des Risikos herum, weil er heute der neoliberale Kandidat für gesellschaftliche Anerkennung ist und einer der wenigen Gründe für gesellschaftlich akzeptiertes arbeitsloses Einkommen ist.


Kapital ist von dessen investiver Verausgabung nicht zu trennen. Kapital ist Vermögen, das unter Risikobedingungen in den Verwertungskreislauf eingeht. Risikobereitschaft ist die einzige und damit allerdings auch die ausreichende Rechtfertigung für privates Kapital. Risiko ist der Schritt in ein Konkurrenzumfeld, von dem wir uns aus gutem Grund bessere Produkte und effiziente Produktion erwarten. Die Kapitalfunktion wird obsolet, wo Gewinne risikolos eingenommen werden können, wo es zu dauerhaften Monopolbildungen kommt. Ethisch entspricht das den Bedingungen, unter denen John Rawls Gerechtigkeitskriterium aus Kraft gesetzt ist, dass Ungleichheit nicht länger tollerierbar ist, als sie die Lage des Schlechtestgestellten verbessert.


Wenn der Staat beispielsweise ALG2-Empfänger zwingt, beliebige Niedriglohnangebote anzunehmen, schafft er damit einen Billiglohnbereich und minimiert künstlich die Risiken der Anbieter der entsprechenden Jobs, ohne dass von deren Seite irgendeine entsprechende Leistung erbracht wird. Solcher Zwang ist prinzipiell eine staatliche Steuerungsmaßnahme wie andere auch, etwa wie eine Subvention, jedoch eine solche, die der Staat die Schwächsten zahlen lässt.

Ohne den entsprechenden Zwang würde das Arbeitsangebot für Billiglöhne sinken, bzw. das Lohnniveau steigen, womit sich die Gewinnchancen der Kapitalseite verringern würden.


Risiken bewältigen Menschen als leidlich universal befähigte und mit Kräften ausgestattete soziale Organismen. Die Elementarbestimmungen, Verausgabung von Kraft, Notwendigkeit der Wiederholung und Risikobehaftung haben kulturell mannigfaltig überformt Eingang in die geschichtlichen Ausprägungen des Arbeitsbegriffs gefunden. Bekanntlich tendiert die technisch-soziale Entwicklung zur technischen Überschreitung bestehender Grenzen des Krafteinsatzes und zur Entwicklung qualitativ neuer Leistungen. Im Lohnarbeitsbegriff wird nach wie vor der Einsatz des Menschen selbst als vergleichsweise universale, massenhaft aggregierbare Quasi-Maschine, die mehr oder weniger komplexe erlernte Abläufe wiederholt einerseits und andererseits die Entwicklungsleistung des Menschen, der Risiken übernimmt, um bestehende Produktivitätsgrenzen zu erweitern, miteinander vermischt. Es wird Zeit, wieder an die aristotelische Doppelbestimmung von Arbeit als poiesis und praxis zu erinnern, modern gesagt an die Unterscheidung von fremdbestimmter gesellschaftlich organisierter und selbstbestimmter kreativer Arbeit.


Das, was heute oft noch unter Arbeit verstanden wird, die gleichförmige täglich wiederholende Arbeit, die poiesis ist durch Automatisierung mehr und mehr ersetzbar. Die praxis, der unternehmende, Risiken übernehmende Arbeit ist nicht automatisierbar.52




Ökologie


Auf Dauer dürfte es sich als ein Wunschdenken herausstellen, dass die Ersetzung wiederholender Arbeit durch deren Automation zu genügend neuer Lohnarbeit an anderer Stelle, etwa im Dienstleistungsbereich führt. Einmal mehr würde das ein entsprechendes Wirtschaftswachstum von mehr als 2% jährlich in den hochindustrialisierten Ländern und damit einen Ressourcenverbrauch erfordern, der sich mindestens alle 35 Jahre verdoppelt, bei höherem Wirtschaftswachstum in den Schwellen- und Entwicklungsländern mit Nachholbedarf weltweit noch erheblich schneller. Es bliebe nur die Frage, wie schnell uns auf dem Planeten die Luft ausgehen soll.


Die Frage, was die natürlichen Ressourcen eigentlich auf Dauer hergeben, muss eine viel stärkere Rolle bei der Bedarfsplanung spielen. Wenn alle Menschen so viele Ressourcen verbrauchen würden wie die Deutschen, würde die Menschheit drei Erden benötigen. Wie kann man einen Ausgeglichenen Umgang mit den natürlichen Ressourcen erreichen anstatt einer zunehmenden Konkurrenz um sie? Oder ist durch die Begrenztheit der Ressourcen potentiell tödliche Konkurrenz unumgänglich? Die meisten Volkswirtschaftler machen nach wie vor die Vollbeschäftigung zum Maß aller Dinge. Diese erfordert aber mehr als 2% jährliches BIP-Wachstum. Es müsste ein Wachstum in einen imaginären Raum hinein sein, wenn es zu den begrenzten natürlichen Ressourcen passen sollte, ein Wachstum ohne zusätzlichen Ressourcenverbrauch, eine Art Sonnenenergie-getriebene Restmüllverwertung.


Wenn jeder Mensch vollständiges Wissen über die Ressourcen der Erde hätte, würde er sich dann über deren Grenzen hinaus vermehren, bzw. über deren Grenzen hinaus konsumieren? Natürlich gibt es dieses Wissen nicht. Anders gesagt: dieses Wissen existiert nur als Phantasie, aber diese Phantasie ist wirksam und auf gegensätzliche Weise seit langem Handlungsmotiv.

Der Markt hat gegenüber einer zentralen Planung Vorteile bei der Bedarfsbestimmung. Er hat aber auch gravierende Nachteile, den Verbrauch natürlicher Ressourcen und die Unbegrenzbarkeit der Verwertung betreffend. Kann man sich nicht Vernetzungen der Menschen vorstellen, die den konkreten Bedarf der Menschen bestimmen, bevor überhaupt schon etwas gekauft ist, also vor dem Markt? Wesentliches Argument für die Effektivität des Marktes war gerade dessen Atomismus und die Vorstellung, dass sich das Kapital regelmäßig gleichsam kapilar atomisiert selbst die kleinsten Marktchancen zu seiner Vermehrung sucht. Kapitalkonzentration und Planwirtschaft neigen dazu, ununterscheidbar zu werden.

Und es fragt sich, ob und inwiefern Gewinnstreben noch als Antrieb für das Design bedarfsdeckender Prozesse erforderlich ist. Als das fragt sich, warum die Kapitalseite die Steuerungsfunktion bei der Produktion behalten sollte. Menschliche Intentionalität ist neu zu bedenken.


Dennoch ist die Frage nicht unberechtigt, welche Inhalte und welche alltägliche Struktur das Leben von Menschen denn haben soll, die nicht jeden Morgen zur Arbeit gehen. Dass es heute Milieus gibt, in denen ALG2-Bezug von einer Generation an die nächste vererbt zu werden scheint, weckt Schreckensbilder von heruntergekommenen Stadtteilen, in denen niemand leben möchte. Welche Massenansammlung von völlig passivisiertem Anspruchsdenken wäre dann erst bei bedingungslosen Grundeinkommen zu erwarten? Das zeigt, dass es nicht nur ein weiter Weg zum bedingungslosen Grundeinkommen ist, sondern auch zu Antworten darauf, was damit anzufangen sei. Die Frage, was Individuen mit ihrer Zeit machen, entscheidet sich auch heute bereits in ihren Sozialbeziehungen, entlang der Modelle, nach denen sie leben, ihrer Erziehung und Bildung, ihrem gesellschaftlichen Status, ihrem Marktzugang als Konsument, den medialen Inhalten, die sie gemeinsam oder jeder für sich konsumieren, ihrer Kommunikation und ihren Erwartungen und vielem mehr.


Einer Neubewertung dürfte nicht nur auf schöne Worte beschränkt sein, die nichts kosten, sondern hätte auf der jeweils relevantesten Ebene an Anerkennung stattzufinden, die eine Gesellschaft ihren Bürgern zu bieten hat. Heute ist diese Ebene die Bezahlung. Dabei muss es nicht bleiben.

Die Grenzen zwischen Selbst und Anderem sind verschiebbar, es ist durchaus nicht per se klar, was Eigenbedarf ist und was nicht, wie Risiken zu bewerten sind und welche Schuldverhältnisse daraus ableitbar sind, welche Konsumanreize zu setzen sind und welche weitere Filiation das Selbstopfer noch durchmachen wird. Zu meinen, das Thema sei seit dem Ende der christlichen Angst vor der Verdammnis vom Schauplatz der gesellschaftlichen und ethischen Wirkungen verbannt, ist blanker Unfug. Und man wird sicher weitere wirksame Anreizschemata finden, die hier noch gar nicht angesprochen sind.

Es dürft vor Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens notwendig wird, das Wertmaß und die Verkehrsformen gesellschaftlicher Anerkennung selbst neu zu erfinden und nicht nur die Themen, die dann zu Anerkennung führen. Sonst könnte die Einführung nicht nur um ein vielfaches teurer als verbesserte Armutssicherung im bestehenden Sozialsystem sein, sondern ohne zusätzlichen gesellschaftlichen Nutzen.





Anmerkungen:

52 Bereits in der Lehre des Cheti, einer altägyptischen Weisheitslehre der 12. Dynastie, zeigen sich Handarbeit und Kopfarbeit, die gleichzeitig ein Herrschaftsverhältnis vermitteln, gründlich geschieden durch das Gefälle zwischen weisungsgebundener und bestimmender Tätigkeit. Der Verfasser diskriminiert eine Vielzahl von körperlichen Arbeiten, denen gegenüber er betont: »Siehe, es gibt keinen Beruf, in dem einem nicht befohlen wird, außer dem des Schreibers; er ist es, der (selbst) befiehlt«. (Zitiert nach Brunner, H., 1944, Die Lehre des Cheti, Sohnes des Duauf, Glückstadt/Hamburg, S. 22 ff.)



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



zurück ...

weiter ...




Ihr Kommentar


Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.