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Der Arbeitsbegriff

Michael Seibel •    (Last Update: 24.07.2018)

Zwei etablierte Begriffe verbinden heute ökonomische Ordnungsvorstellungen mit dem Versorgungsanspruch des Einzelnen: der Begriff der Arbeit und der Begriff der Menschenrechte.

Ein dritter verfassungsmäßig geschützter Begriff ist entscheidend für den Rechtsrahmen, in dem Wirtschaftsleistung erbracht und verteilt wird: der Begriff des Privateigentums8.


Der Begriff der Arbeit ist ein Begriff mit langer Tradition. In der abendländischen Philosophie bei Hesiod hat Arbeit wegen ihrer durch Herrschaft geprägten Verfassung einen zwiespältigen Charakter. Er versucht, dem mit der Zweiteilung der Eris Ausdruck zu geben. In der Theogonie noch ganz Göttin des Zwistes und des Leids9, zerfällt sie in Werke und Tage in eine verderbliche Eris, die Hader und Krieg sät, und in eine lobenswerte Eris, die zu Fleiß und Eifer anspornt.10 Streit und Wettstreit aber gehören beide zur Arbeit (ergon) der Menschen. Sie teilt sich in die gerechten Arbeiten der Demeter und die frevelhaften Arbeiten des Ares.11 Wenn Hesiod nun beschreibt, was tugendhaftes Leben ist, hat Arbeit einen zentralen Stellenwert. Die Götter haben die Menschen zum arbeiten bestimmt12. Arbeit begründet einen allseitigen Lebenszusammenhang. Landarbeit, Krieg und Seefahrt gehören dazu, aber auch die Liebe (Arbeit der Aphrodite) und die Faulheit (aergia).13 Arbeit führt zu materiellem Auskommen und sozialer Anerkennung14, man muss sie nur mit Freude und zur rechten Zeit tun15.
Die fortschreitende Entfaltung der Klassengesellschaft führt zur sozialen Differenzierung des Arbeitsverständnisses der griechischen Antike. Es wird nicht beschrieben, dass die herrschenden Klassen die Mühe gescheut hätten. Von den Philosophen als Leitern seiner idealen Stadt verlangt Platon, sie müssten müheliebend (philoponos) sein.16 Auch andere anstrengende Arbeit wird nicht rundweg abgetan. Xenophon lässt keinen Zweifel daran, dass es vernünftiger sei, in der Not zu arbeiten, als nichts zu tun.17 Auch rechnet er Mühe generell zu den Bedingungen gelungenen Handelns. Derjenige, »welcher freiwillig etwas auf sich nimmt«, freue sich »wegen der guten Hoffnung, welche die Anstrengungen hervorrufen«. Außerdem seien »mühelose Arbeit und sofortige Genüsse [. . . ] nicht imstande, dem Körper Wohlbefinden zu verschaffen«.18

Auch Aristoteles erlaubt dem Vornehmen, gelegentlich zu arbeiten. Bedingung dafür ist:


»Denn manches kann man für sich selbst oder seine Freunde oder um der Tugend willen tun, ohne dass es für einen freien Mann unschicklich wäre; wenn man aber ganz dasselbe für andere tut, wird man häufig als jemand gelten, der Tagelöhner- und Sklavenarbeit verrichtet«.19

Schon der klassischen griechischen Philosophie erscheint die vergesellschaftete Arbeit also derart mit Herrschaft verknüpft, dass sie jede äußere Zweckbestimmung als Einschränkung freien Handelns betrachtet.
Auf der Suche nach dem Weg zur Glückseligkeit fragt Aristoteles nach der Arbeit (ergon) des Menschen.20 Die aber trennt er von allen Tätigkeiten, die auf ein Ziel außerhalb ihrer selbst gerichtet sind. Die Arbeit des Menschen bedürfe der Unabhängigkeit, der Selbstbestimmung und der Muße. Lohnarbeit sei banausisch, weil ihr Tun von anderen bestimmt werde – was nicht heißt, dass man etwas nicht »aus Not zum eigenen Gebrauch« machen dürfe: »denn hier tritt der Fall nicht [. . . ] ein, dass man bald Herr und bald Diener ist«.21 Daher erreiche auch die Arbeit der Politik nicht die höchste Stufe der Tugend. Denn in ihr sei man von der Zustimmung der Mitbürger abhängig.22 Somit könne, »wer [. . . ] jenen Genuss sucht, den der Mensch rein aus sich selber schöpft, [. . . ] das Mittel nirgends anders finden als in der Philosophie, denn alle anderen Genüsse bedürfen der Beihilfe anderer Menschen«.23
Um dieser Differenz Ausdruck zu verleihen, verbindet Aristoteles den Begriff der Arbeit mit zwei Unterscheidungen. Arbeit kann äußeren Zwecken dient (poiesis) oder seinen Zweck im Vollzug des Handelns selbst haben (praxis) und sie kann mit Muße (schole) oder Ruhelosigkeit (ascholia) getan werden. Non plus ultra menschenwürdiger Arbeit ist für Aristoteles die Philosophie als gleichzeitig Praxis und Muße. Wahrhaft menschenwürdige Arbeit bleibt nach Aristoteles nur wenigen Menschen vorbehalten, die von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung selbst nicht betroffen sind. Frauen, Lohnabhängigen und Sklaven bleibe die wahrhaft menschenwürdige Arbeit verschlossen.

An der Aristotelischen und überhaupt an der antiken Argumentation muss aus heutiger Sicht auffallen, dass sie keinerlei Mühe hat, über beide Dimensionen des Arbeitens zu reden, den kreativen und den gesellschaftlich fremdbestimmten Teil. Moderne Soziologen beschränken sich heutzutage gern auf den gesellschaftlich bestimmten Teil und wissen über den kreativen Teil nicht mehr viel zu sagen. Das genuin Humane scheint sich in der Moderne unverfolgbar ins Private und in gänzlich gesellschaftlich bestimmte Konsumvielfalt aufgelöst zu haben und keinerlei Allgemeinheit mehr zu bieten, über die Theorie Aussagen machen könnte. Aristoteles hätte scharf widersprochen.


Die Überlieferung der antiken Arbeitsauffassung ins europäische Mittelalter ist ambivalent. Sie enthält die Vorstellung machtvoller Arbeit, deren »labor omnia vicit«24 sich von der Landarbeit (labor rusticus) bis zur Kriegsarbeit (labor militaris) erstreckt und Arbeit geradezu als Grundlage imperialer Machtentfaltung versteht: »cogitate quantis laboribus fundatum imperium«.25 Sie transportiert aber auch den Bedeutungsverlust insbesondere der politischen Arbeit (labor publicus) nach dem Ende der Republik, der auf eigene Vervollkommnung zielende Aktivitäten entgegengesetzt werden.
Das Christentum verstärkt diese Zwiespältigkeit. Sein tätiger Gott, der den Menschen als Arbeiter in den Garten Eden setzt26 und selbst Sohn eines Handwerkers ist27, vermittelt eine positive Wertung der Arbeit. Gleichzeitig wird diese aber durch die Verfluchung des Ackers28 mit dem Odium von Strafe und Buße belegt. In dieser Verquickung predigen die Kirchenväter und geht das Arbeitsverständnis in die klösterlichen Lebensregeln ein. Das Mittelalter fasst den Begriff der Arbeit entsprechend so ambivalent, dass er als ›polysematisch‹ bezeichnet worden ist. Im organischen Modell der drei Ordnungen ist Arbeit als notwendig anerkannt, wird aber mit der Einteilung der gesellschaftlichen Individuen in oratores, bellatores und laboratores kategorial vervielfältigt.
Mit der Entwicklung der Kirche zum ideologischen Zentrum des Feudalismus findet dieser Prozess in der Aufteilung des Lebens in vita activa und vita contemplativa29 theoretischen Ausdruck.


Dieses Konzept gerät jedoch unter zunehmenden sozialen, politischen und ideologischen Druck. Das Städtebürgertum verbindet Arbeit mit Reichtum, Ansehen und Glück. Am Ausgang des Mittelalters wird die Arbeit weltlich zur Allmacht erhoben, aber geistlich zu bußfertigem Gottesdienst erklärt. In beiden Fällen erklingt das Hohelied der Arbeit. In der Ambivalenz, mit der Arbeit zur schöpferischen Kraft erklärt und ihr Erfolg von der eigentlichen Arbeitsleistung abgetrennt wird, ist der moderne Arbeitsbegriff vorbereitet. In Luthers Maxime »arbeytte nicht aus noth, ßunder aus Gottes gepot«30 ist seine auf die schrankenlose Akkumulation der Arbeitsprodukte ausgerichtete Entgrenzung bereits enthalten. Sie weist nicht nur an, ohne Sorge zu arbeiten, sondern auch: über das Notwendige hinaus.


Diese gottgewollte Naturordnung der Welt wird nur durch die ebenfalls gottgewollte Solidarität der allerengsten Sozialbeziehungen abgemildert. Wer sich der Arbeit entzieht, macht das Leben seiner Nächsten schwerer. Einkommen und Arbeit sind in dieser Vorstellung aneinander geschweißt.


Die traditionelle Sichtweise entspricht heute nicht wirklich den sozialen Realitäten. Holzschnittartig ausgedrückt: Von zehn Menschen stehen bei uns vier in Lohnarbeit, drei weitere beziehen ihr Einkommen von diesen vier, weil sie zu deren Familien gehören, zwei weitere beziehen Renten oder Pensionen und einer ist gerade arbeitslos oder auf Sozialhilfe angewiesen. Wenn man diese Pyramide umdreht, dann scheint sie allerdings nach wie vor auf dem Boden der vier Lohnarbeiter zu stehen. Guten Grund, das Prinzip Lohnarbeit zu verteidigen, haben dabei alle zehn, die sieben Mitesser ganz besonders.

Arbeit wird offenbar nach wie vor als Strafe der Götter und Preis des Fortschritts gleichzeitig verstanden, den vor allem die weniger Bemittelten zu zahlen haben. Nicht die Widerspenstigkeit der Natur, die nicht bereits von sich aus menschlichen Bedürfnissen entspricht, sondern Herrschaftsverhältnisse und sozialer Zwang prägen das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, das seit jeher im Arbeitsbegriff gedacht wird.


Die Vorstellung einer unauflöslichen Verbindung von Arbeit und Lohn ist bis heute fest in den Bewertungs- und Verhaltenskanon des Einzelnen eingefügt. Man würde gleichsam riesige Angstlöcher in die Vorstellungswelten reißen, wenn die Nahtstelle von Einkommen und Arbeit infrage gestellt wird. Man weckt existentielle Ängste. Für die meisten ist es die eigene Arbeit, die ihnen ihr Einkommen sichert, verbrieft durch einen Vertrag, der nicht zufällig Arbeitsvertrag heißt. Von seiner Arbeit muss man leben können, das ist eine populäre Forderung der meisten heutigen Parteien.

Bemerkenswert, wie wenig heute bei uns die Legitimität von Kapitaleinkommen in der Diskussion ist, das arbeitsloses Einkommen ist. Arbeitsloses Einkommen taucht entsprechend verdreht in Vorstellungen vom Schlaraffenland auf als dem Land, in dem Wohlstand nicht mehr durch Arbeit erworben werden muss. Und andererseits wird gleichzeitig ein Leben in Faulheit scharf abgelehnt. Das passt nicht zusammen, stört aber kaum jemanden.




Anmerkungen:

8 Privateigentum lässt sich als eine historische Form der Grenzziehung gegenüber Existenzrisiken betrachten. Beispiel: Ein Hand voll Mohnsamen in einem Haushalt kann ebenso gut vom Koch als Kuchen verbacken wie vom Gärtner ausgesät werden. Man wird sich unterhalten müssen. Man wird priorisieren und den Samen zuweisen, man wird sich austauschen. Dazu ist kein Markt erforderlich, kein Geld, kein Eigentumsbegriff, sondern es reicht allein der physische Besitz des Mohns ohne irgendeinen Rechtstitel. Eigentum zieht demgegenüber eine Grenze, und zwar nicht eine Grenze im inneren, sondern nach außen. Am Verhältnis von Koch und Gärtner im Innern ändert sich nichts. Mit oder ohne Eigentumsverhältnis bleibt die Frage, was mit dem Mohn im Haushalt passieren soll, die gleiche. Am Markt ändert sich jedoch alles. Wer dort etwas verkauft, dessen Eigentümer er nicht ist oder das er nicht im Namen des rechtmäßigen Eigentümers verkauft, wird zum Hehler. Eigentum kann trivialerweise nur an Gütern bestehen, solange diese nicht verbraucht werden. Bereits erworbenes, aber auch mögliches künftiges Eigentum ist Voraussetzung, um als Sicherheitsgeber auftreten zu können und Kredit zu erhalten. Eigentum erlaubt den Austausch von Risiken gegen Zins. Besitz erlaubt den Austausch von Gebrauchsgütern bei Bedarf.
Eigentum ist nur innerhalb einer Rechtsordnung möglich. Wie entwickelt der Eigentumsbegriff ist, was er genau besagt, wie er durchgesetzt wird, hängt von der jeweiligen Rechtsordnung ab.

9 Hesiod, Theogonie. In: ders., WW, hg. L. u. K. Hallof, Berlin/Weimar 1994, 225 ff.

10 Hesiod, Werke und Tage, hg. O. Schönberger, Stuttgart 1996, 11 ff.

11 Ebd. 230, 392 u. 237, 145 f.

12 Ebd., 397.

13 Ebd., 520 u. 297 ff.

14 Ebd., 312

15 Ebd., 305 u. 421, 693

16 Platon, Politeia 535 c, In: ders., SW, hg. W. F. Otto u.a., Bd. 3, Reinbek 1958

17 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, hg. R. Preiswerk, Stuttgart 1985, 2.7.

18 Ebd., 2.1, 18 u. 20.

19 Aristoteles, Politik, hg. W. Kullmann, Reinbek bei Hamburg, 1994, 1337 b, 15 ff.

20 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, hg. O. Gigon, München 1972, 1097 b 20 ff.)

21 Aristoteles, Politik, hg. W. Kullmann, Reinbek bei Hamburg, 1277 b 1 ff.

22 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, hg. O. Gigon, München 1972,, 1177 b 5 ff.

23 Aristoteles, Politik, hg. W. Kullmann, Reinbek bei Hamburg 1994,, 1267 a 10 ff.

24 Vergil, Georgicon, In: Vergil in 2 Vol., hg. H. Rushton Fairclough, Bd. 1, London/Cambridge (MA). 1935, 144

25 Cicero, In Catilinam I – IV. In: Cicero in 28 Vol., hg. L. E. Lord, Bd. 10, London/Cambridge (MA), 1937, 19.

26 Genesis 2, 15

27 Markus 6, 3.

29 Thomas von Aquin, Summa theologica, Heidelberg u.a. und Graz u.a., 1940 ff., 2.2, q.179,2.

30 Luther, M., Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis (1529). In: ders., WW, Bd. 29, Weimar. – Macpherson, C. B., 1967, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Fft./M., 1904, 442, 33.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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