Die Größenordnung
Michael Seibel • Die Bestimmungen des bedingungslosen Grundeinkommens • Bestandskonservative und sozialreformerische Replik (Last Update: 24.07.2018)
Die Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen wird all zu leicht in folgende konservative Richtung beantwortet: Gut ist, was ist. Wir sind die, die so leben, wie wir nun einmal leben. Also etwa: Wir haben es in einer Geschichte voller Konflikte und Umwege zu einem bestimmten sozialstaatlichen, rechtlich fixierten System gebracht, und das sollten wir weiterentwickeln und nicht davon abweichen. Daraus ergibt sich, dass Transferleistungen des Staates an Individuen ausschließlich etwas für hilfsbedürftige Menschen sind, aber nicht für jedermann und nicht bedingungslos.
Haushaltseinkommen beziehen wir zu 68,6% aus Arbeitseinkommen und zu 31,4% aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen (laut Statistischem Bundesamt für 2017). Erwartet wird, dass wer irgend kann, auch ein ausreichendes Arbeitseinkommen anstrebt. Bedingungsloses Grundeinkommen wäre ein Bruch mit allen bisherigen Prinzipien der Verteilung von Haushaltseinkommen. Die Antwort muss also lauten: Wir lassen das. Wir haben unser erprobtes Sozial-System.
„Um dem großen sozialen und ökonomischen Problemdruck nachhaltig entgegenzutreten, müssen die bestehenden sozialstaatlichen und volkswirtschaftlichen Arrangements aber nicht radikal verändert bzw. ganz abgeschafft werden. Es würde vielmehr genügen, die bestehenden Systeme in zweierlei Hinsicht grundlegend zu reformieren (...): Der Zugang zu jeglicher sozialen Sicherung muss diskriminierungsfrei sein und darf nicht an Bedingungen wie die Suche nach Erwerbsarbeit geknüpft sein. Vor allem aber müssen alle bestehenden Systeme der sozialen Sicherung armutsfest gemacht werden. Es darf nicht länger sein, dass Leistungen aus der Rentenkasse oder der Arbeitslosenversicherung nicht ausreichen, um das sozio-kulturelle Existenzminimum der Empfänger zu sichern. Das gilt umso mehr noch für Grundsicherungsleistungen. Ein ALG II-Niveau, das auch inklusive der zusätzlich gezahlten Zuschüsse für Wohnung und Heizung, oft unterhalb der Armutsgrenze liegt, ist vor allem eins: Ein Armutszeugnis. All diese drängenden sozialen und ökonomischen Probleme lassen sich nur dann beheben, wenn es gelingt, das Niveau der sozialen Sicherung soweit zu erhöhen, dass ein sozio-kulturelles Existenzminimum oberhalb der Armutsgrenze gewährleistet ist. Nur so ist eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe aller Bürger unabhängig von deren Arbeitsmarktlage möglich.“6
Dem Recht auf ein menschenwürdiges Leben widersprechen die Zumutbarkeitsbedingungen des SGB2, bei denen es sich schlicht um Zwangsarbeit in geringst qualifizierten Tätigkeiten handelt, die von gegenwärtig ca. 5 Mio. Beziehern von Arbeitslosengeld 2 eingefordert wird und letztlich von allen im gesamten Niedriglohnsektor tätigen Menschen bei vielleicht 10 Mio. Menschen von knapp 46 Mio. Erwerbspersonen. Das entspricht in etwa der Zahl der heute offiziell als armutsgefährdet bezeichneten Personen.
Würden all diese Menschen nicht zur Aufnahme solcher Tätigkeiten gezwungen, würden viele dieser Tätigkeiten automatisiert und die verbleibenden müssten besser bezahlt werden, um die entsprechenden Stellen überhaupt zu besetzen.
Stehen die Bestimmungen des bedingungslosen Grundeinkommens überhaupt im Widerspruch zu den Zielen des Sozialstaats oder sind sie nur ein anderer Weg dahin, und wie weit reichen sie darüber hinaus?
Die Bestimmungen des bedingungslosen Grundeinkommens
Es
soll
1. existenzsichernd sein.
2. Es soll einen individuellen Rechtsanspruch, darauf geben.
3. Es darf keine Bedürftigkeitsprüfung stattfinden.
4. Es darf keinen Zwang zur Arbeit geben.
Diese vier Bedingungen ersetzen die gegenwärtig geltenden Äquivalenz-, Versicherungs- und Bedürftigkeitsprinzipien.
Woher kommt die Verve, mit der ein Konflikt gesehen wird? Die entscheidende Frage lautet: Wie findet die politische Willensbildung ihre Ziele?
Es wird, wie oben gesagt, eingewendet, dass erstens der Kapitalismus als globalisiertes System sich längst der Kontrolle durch die Politik entzogen habe und von sich aus die Grenzen dessen diktiert, was sich politisch überhaupt anstreben lässt. Mindestens ebenso gravierend, aber weit weniger öffentlich diskutiert, weil von den meisten Bürgern als beruhigend selbstverständlich betrachtet, ist zweitens: beschränkt nicht der bereits bestehende Rechtsrahmen die Politik bei der Willensbildung?
Zu den vier Bestimmungen führen Götz Werner und Adrienne Goehler aus:
„1. Existenzsichernd
Dieser Punkt betrifft die Höhe des Grundeinkommens, die von der Art der Finanzierung der gemeinschaftlichen Zahlungen abhängt. In der Regel sehen die Überlegungen zum Grundeinkommen nämlich vor, dass alle Sozialversicherungen und Sozialleistungen, wie beispielsweise Renten- und Arbeitslosenversicherung, Kranken-, Wohn-, Kinder- und Elterngeld, abgeschafft werden. Auch spezielle Rentenformen wie Beamtenpensionen oder die Altershilfe der Landwirte zum Beispiel würden entfallen. Das Grundeinkommen soll all diese bisherigen existenzsichernden Zahlungen ersetzen, muss deshalb mindestens so hoch sein wie die oben genannten Zahlungen zusammengenommen. Ob das Grundeinkommen auch Gelder zur Gesundheitsvorsorge enthalten soll und um welche Höhe es dann gehen müsste, ist umstritten: Aber für das Wesen des Grundeinkommens ist es letztlich unerheblich, wie es berechnet wird, solange es existenzsichernd ist. In jedem Fall muss die Höhe des Grundeinkommens so hoch sein, dass man davon nicht nur überleben, sondern an der Entwicklung der Gesellschaft, am gemeinschaftlichen, sozialen wie kulturellen Leben teilhaben kann.
Ob eine solche Teilhabe mit tausend Euro im Monat möglich ist, hängt auch davon ab, wie sich die Preise entwickeln und welche Leistungen die Gesellschaft kostenlos zur Verfügung stellt. Waren zum Beispiel früher Schule und Universität genauso wie Bibliotheken und sogar Museen ein hohes öffentliches Gut, das subventioniert wurde, erleben wir nun, dass der Staat auch solche Güter zunehmend privatisiert. Wenn die Busfahrkarte jedoch nicht nur die Kosten des öffentlichen Verkehrs, sondern auch noch den Gewinn eines Privatunternehmens finanzieren muss, könnte es sein, dass man eines Tages sehr viel Grundeinkommen braucht, um am gesellschaftlichen Leben noch teilhaben zu können.
Die Grundidee jedoch dürfte deutlich geworden sein: Egal, ob teilweise als Bildungsgutschein oder nicht, in welcher Form und in welcher Höhe das Grundeinkommen ausgezahlt wird, es muss nicht nur die Existenz, sondern auch die kulturelle Teilhabe sichern.
2. Individueller Rechtsanspruch
Dieser Ansatz bricht mit der Logik der bisherigen Sozialsysteme. Heute werden staatliche Leistungen an Lebensgemeinschaften gezahlt. Eine Person erhält das Einkommen stellvertretend für alle und kann es daraufhin ziemlich eigenmächtig verteilen. Das war in der klassischen Familie der Vater als Alleinverdiener, der das Einkommen der Familie erwirtschaftete. Aus diesem Einkommen wurde das Leben der gesamten Familie finanziert, getragen von der Ideologie, dass die Reproduktion der ganzen Familie, die auf den unbezahlten Schultern der Frau und Mutter lastet, mitfinanziert ist. (...) Jeder und jede soll über sein oder ihr eigenes Grundeinkommen verfügen, unabhängig davon, mit wem er oder sie das Leben teilt. Somit ist jedem Menschen freigestellt, ob er sich finanziell mit dem Grundeinkommen begnügt, um sich beispielsweise auf die Erziehung von Kindern zu konzentrieren, oder einer bezahlten Tätigkeit nachgeht. Durch den individuellen – bedingungslosen – Rechtsanspruch entfallen auch die unsäglichen Überprüfungen der Privatsphäre, wie sie mit der aktuellen Vergabe von Sozialleistungen verknüpft sind. (…) Wenn alle über ihr eigenes Grundeinkommen verfügen, ist es egal, mit wem sie in welcher Form zusammenleben – in einem Jahrhundert, in dem ohnehin nur noch knapp die Hälfte der Menschen an Ehe denkt und in den Ehen im Schnitt nur fünf Jahre halten, sind zeitlich befristete Lebensgemeinschaften zwischen autonomen Individuen vielleicht ohnehin die angemessene Lebensform.
3. Keine Bedürftigkeitsprüfung
(…) Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung 2006 zufolge nehmen viele Menschen, die eigentlich bedürftig sind, keine Sozialleistungen in Anspruch – aus Stolz oder Scham: Etwa zehn Millionen Menschen seien in Wahrheit ALG-II-berechtigt, auch wenn die Statistik zum Zeitpunkt der Studie offiziell nur 7,4 Millionen Hartz-IV-EmpfängerInnen auswies. Sich einer dritten Person gegenüber als bedürftig zu zeigen, empfinden viele Menschen als demütigend, weshalb sie lieber auf jegliche Unterstützung verzichten. Götz Werner charakterisiert die Hartz-IV-Realität deshalb als »offenen Strafvollzug«.
Die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens bezieht sich aber konsequenterweise auch auf Menschen, die ganz offensichtlich – und vermutlich sogar nach eigener Einschätzung – nicht bedürftig sind, denn: Auch Millionäre sollen Grundeinkommen bekommen. (…) Durch eine angemessenere Besteuerung höherer Einkommen würde das Grundeinkommen mit der Steuerschuld verrechnet, so dass denen, die viel haben, das Geld zwar auch ausbezahlt, aber doch gleich wieder als Steuer zurückfließen würde.
Das bedingungslose Grundeinkommen folgt dem Gerechtigkeitsprinzip, das wir an anderer Stelle aus dem Gemeinwesen kennen und ganz selbstverständlich finden: Kindergärten, Schulen und Universitäten werden auch von Kinderlosen mitbezahlt; Menschen, die niemals Bus oder Bahn fahren, finanzieren den öffentlichen Nahverkehr mit; überzeugte Bahnreisende zahlen auch für den Autobahnbau; und Bibliotheken oder Theater werden auch aus Steuern derjenigen subventioniert, die Kultur für das Überflüssigste auf der Welt halten. Das bedingungslose Grundeinkommen ist erweiterte praktizierte Solidarität eines Gemeinwesens, das alle Individuen gleich behandelt.
4. Kein Zwang zur Arbeit
Dieses Kriterium löst die größten Emotionen und Widerstände aus, weil es am konsequentesten mit unseren Denkgewohnheiten bricht. Denn das bedingungslose Grundeinkommen soll nicht nur ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt werden, sondern auch ohne Zwang zur Arbeitsleistung. Dadurch unterscheidet es sich explizit von allen Modellen einer Grundsicherung, die allesamt eine Verpflichtung zur Arbeit beinhalten. Wir kennen uns gut damit aus, wie es ist zu arbeiten, ohne dafür entlohnt zu werden, aber die Vorstellung, ohne Arbeit Geld zu kriegen, beunruhigt in vielerlei Richtungen: Wer würde dann noch die gesellschaftlich notwendigen, aber ungeliebten Arbeiten verrichten, ja, wer würde dann überhaupt noch arbeiten? Oder liegt in der Befreiung vom Zwang zur Arbeit nicht die einzige Chance, adäquat auf den Verlust von immer mehr herkömmlichen Erwerbsarbeitsplätzen zu reagieren? Müssen zukünftig nicht überhaupt viele Menschen damit rechnen, nur noch befristet, projektbezogen, eine leidlich bezahlte Arbeit zu finden?
Von der Befreiung des Zwangs zur Arbeit verspricht sich das BIEN-Netzwerk eine neue – notwendige – Vielfalt von nebeneinander existierenden Arbeits- und Tätigkeitsformen. Besonders in diesem Punkt liegt der gesellschaftliche Mehrwert: in der Freiheit, zwischen den unterschiedlichen Sphären des Lebens wählen zu können, zwischen bezahlter Arbeit, Beziehungsarbeit, beruflicher Neuorientierung oder Erweiterung – und ja: auch Müßiggang –, die sich gegenseitig unterbrechen, ergänzen, gar bedingen können. Was den Wechsel zwischen Erwerbs- und Beziehungsarbeit anbelangt, ist dieser gegenwärtig – unfreiwillig – immer noch meist den Frauen vorbehalten, mit den bekannten negativen Konsequenzen für den Wiedereinstieg ins Berufsleben, an den nach wie vor männliche Maßstäbe angelegt werden. Ein Grundeinkommen könnte helfen, genau diese Standards zu verändern, und für beide Geschlechter Durchlässigkeiten in ihren Biographien erzeugen.“7
Die Größenordnung
Zur Verdeutlichung, welche Verteilungsfragen entstehen und in welchen Rechtsrahmen eingegriffen wird:
Das durchschnittliche monatliche Bruttoeinkommen der knapp 38 Mio. Privathaushalte in Deutschland belief sich im Jahr 2016 auf 4337 Euro. Wichtigste Einnahmequelle mit einem Anteil von 63% waren die Einkünfte aus Erwerbstätigkeit: Durchschnittlich 2751 Euro im Monat stammten aus unselbstständiger und selbstständiger Tätigkeit. Danach folgten mit 961 Euro monatlich bzw. anteiligen 22% die öffentlichen Transferzahlungen wie z. B. Renten der gesetzlichen Rentenversicherung (494 Euro), staatliche Pensionen (145 Euro), Kindergeld/-zuschlag (84 Euro), Arbeitslosengeld I (19 Euro) und II (48 Euro) bzw. Sozialgeld. Einnahmen aus Vermögen in Höhe von 421 Euro trugen 10% zum Haushaltsbruttoeinkommen bei. Einkommen aus nichtöffentlichen Transferzahlungen (203 Euro), beispielsweise Werks- und Betriebsrenten sowie Unterstützung von privaten Haushalten, und aus Untervermietung machten mit 5% einen geringen Anteil aus.
Wenn alle 82 Millionen Menschen bedingungslos mit 1000 Euro monatlich ausgestattet werden sollten, würde das ca. 1 Billion Euro jährlich kosten, grob gerechnet 1/3 der Wirtschaftsleistung, bzw. gut 41% des Volkseinkommens, fast das Doppelte der gesamten heutigen Steuereinnahmen, was bei 3,26 Billionen jährlicher Wertschöpfung nicht grundsätzlich unmöglich wäre, aber mit der bestehenden Rechtsordnung, mit der staatlichen Budgetverteilung, mit dem Prinzip der Aufteilung von Lohn- und Kapitaleinkommen (zur Erinnerung: 68,6% Arbeitseinkommen, 31,4% Vermögenseinkommen) und vielem mehr auf den ersten Blick ziemlich unvereinbar ist. Die Gegenrechnung, dass dann aber auch sämtliche bestehenden Sozialleistungen entfallen könnten und an anderer Stelle gespart würde, macht letztlich das Konfliktpotenzial, das im Thema steckt, noch deutlicher. Das, was so als einsparbar vorgerechnet wird, sind auch Transfers aus Versicherungsleistungen, auf die niemand freiwillig verzichtet, der sie selbst angespart hat.
Es gab etwas mehr als 1. Mio. Empfänger von Grundsicherung (darauf entfielen ca. 1,7% der Bruttoeinkommenssumme). Das ist eine ganz andere Größenordnung als > 80 Mio. möglichen Beziehern von Grundeinkommen. Ohne jeden Zweifel wäre eine weit großzügigere und breiter angelegte Armutsabsicherung als die heutige mit Aufwendungen möglich, die nur einen Bruchteil der Kosten eines existenzsichernden Grundeinkommens ausmachen würden und die daher möglicherweise auch nur auf einen Bruchteil der politischen Widerstände stoßen würde. Aber worauf würde die Gesellschaft dann verzichten? Versuchen wir, das zu denken.
Anmerkungen:
6 Dorothee Spannagel: Das bedingungslose Grundeinkommen: Chancen und Risiken einer Entkoppelung von Einkommen und Arbeit. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, 24.Mai 2015, S.19f.
7 Götz Werner/Adrienne Goehler, 1000 Euro für jeden, Berlin 2010, 2.Kap.
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