Primat der Politik
Michael Seibel • Wer setzt die Ziele? • Num pacta sunt servanda? • ethische Integrität • Bruttoinlandsprodukt (Last Update: 24.07.2018)
Wer verantwortet die Verteilung der Güter? Heute ist ein Wirtschaftsunternehmen für die Versorgung seiner Mitarbeiter und ihre Arbeitsbedingungen nur dann und nur in soweit verantwortlich, als sein Geschäft in einem rechtlichen Rahmen stattfindet, der es dafür verantwortlich macht. Ist es Aufgabe eines Unternehmens, das wirtschaftlich tätig ist, Kapital anzuhäufen? Nein, und auch nach marktwirtschaftlichem Kriterien ist es nicht Unternehmenszweck, Kapital anzuhäufen, sondern Gewinne zu erwirtschaften und an ihre Eigentümer zu verteilen, nach Regeln, die nicht sie selbst, sondern der politische Gesetzgeber geschrieben hat, die jedes Unternehmen allerdings durch die Verträge, die es selbst eingeht, ständig ausreizt und bestätigt. Die Verteilung ist völlig unabhängig davon, wer am Ende hungert und wer nicht. Die Verantwortung dafür tragen nicht die Unternehmen, sondern die Politik, denn die Aufgabe der Unternehmen ist durch den rechtlichen Rahmen bestimmt, in dem ihre Arbeit stattfindet.
Es gibt einen grundlegenden Primat der Politik, nicht zwar gegenüber dem Wirtschaften als solchem, wohl aber als Ordnungsmacht. Es wird viel dafür gestritten, dass die Politik sich möglichst wenig in den laufenden Wirtschaftsbetrieb einmischen sollte, und dass sie guter Gründe bedarf, wo sie selbst wirtschaftlicher Akteur wird wie bei Staatsforsten oder Wasserversorgung oder im Dienstleistungsbereich bei der Produktion von Bildung, Justiz oder innerer und äußerer Sicherheit, für die sich entweder kein Privatanbieter findet, weil sich die Kosten nicht auf einzelne Nutzer umlegen lassen oder die man – wenigstens in Deutschland – aus politischen Gründen nicht bereit ist, einem Privatanbieter zu überlassen.1 Aus einer ganzen Reihe von Gründen kann es in der Marktwirtschaft ein Prinzipienbruch sein, wenn der Staat selbst Unternehmer wird. Aber aus dem Gebot, die wirtschaftliche Aktivität weitgehend der Privatwirtschaft zu überlassen, folgt in keiner Weise, dass die Wirtschaft den Primat vor der Politik hätte.
Selbstverständlich begrenzt heute umgekehrt die Wirtschaft die Entscheidungsspielräume der Politik. Es bestehen Zwänge, denen die Politik von Seiten der Wirtschaft unterliegt. Wir werden uns mit zwei dieser Zwänge bei der Diskussion des bedingungslosen Grundeinkommens näher beschäftigen, mit dem Ziel der Vollbeschäftigung und des Wirtschaftswachstums.2 Aber diese Groß- und Hauptzwecke des heutigen globalen Wirtschaftsverständnisses drehen den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft nicht in einen Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik um. Was für die Politik zum Zwang wird, ist das, worauf sie sich selbst festgelegt hat, weil sie sich darauf festgelegt hat und solange sie sich darauf festlegt und keinen Tag länger. Gerade da, wo Entscheidungsbefugnis durch Wahlen delegiert wird, regiert Politik über Programme und ist an die Erwartungen gebunden, die sie erzeugt und auf die sie sich beruft. Und deshalb wird das Wort der Wirtschaft wichtig, lässt sich mit dem Verlust von Arbeitsplätzen oder dem Wegzug von Unternehmen und Kapital argumentieren und wird Politik erpressbar, aber nicht Politik schlechthin, sondern die Politik, die bestimmte Versprechen, wie etwa das Versprechen Wohlstand durch Marktwirtschaft, gegeben hat.
Die Politik gibt den Rahmen des Wirtschaftens sogar in Gänze vor. Die oft erhobene Forderung, Staat und Politik müssten sich aus der Wirtschaft so weit wie möglich heraushalten, wenn diese einmal in Bewegung gekommen ist, entbehrt jeder rationalen Grundlage.
Die Marktwirtschaft ist rechtlich so verfasst, dass die Unternehmen in Konkurrenz Leistungen zu erbringen und dadurch Gewinne zu erwirtschaften haben und diese vertraglich geregelt vollständig an die Haushalte ihrer Mitarbeiter und ihrer Kapitaleigner abzugeben haben, abgesehen von dem Teil des Gewinns, den sie benötigen, um ihre Aufgabe auch zukünftig erbringen zu können.
Wenn ich hier von Politik rede, von die Politik sogar, dann scheint dringend erforderlich zu präzisieren, was mit diesem äußerst summarischen Wort eigentlich gemeint ist. Wer ist das? Heutige Medien vom Fernsehen bis social media, die allem ein Gesicht geben, an das die Affekte ihrer Abonnenten und follower andocken können, haben dazu beigetragen, dass wir uns, wir, die Bürger der Polis, wir Macher von Politik und zugleich Politikbetroffene an ein Schwanken zwischen zwanghafter Personalisierung und paranoider Anonymisierung gewöhnt haben, wenn wir uns auf die Suche nach dem Anderen machen, der für unsere Lebensbedingungen verantwortlich ist. Es ist aber nicht der Andere. Wir sind es selbst.
Dieser Gedanke der Autonomie scheint heute vielen Menschen unglaublich unattraktiv, sein Inhalt unerreichbar, obwohl jedermann öffentlich das glatte Gegenteil behauptet. Es ist, als verlangten sie vom Anderen in einem wieder stärker gegen jedes Außen militarisierten Denken, sich gleichsam zu zeigen und in offener Feldschlacht zu stellen. Stellte er sich aber, der fremde Andere, der Manipulator und Verführer, sie würden laufen wie die Hasen. Aus solcher Sicht zwischen zwanghafter Personalisierung und paranoider Anonymisierung scheint Politik Parteipolitik und im schlechten Sinn schon auf dem Sprung zu einer Art Feudalismus der Eliten zu sein. Sie scheint das Gesicht des jeweiligen Vorsitzenden oder prominenten Repräsentanten angenommen zu haben, der seinen Wählern nicht mehr zuhört, sondern ganz anderen, Leuten wie seinesgleichen oder Wirtschaftsmagnaten und Interessenvertretern. Aus solcher Sicht stellt sich die Teilhabefrage beginnend bei der Teilhabe am Konsum, aber auch darüber hinaus im antiken aristotelischen Sinn als Frage nach der Teilhabe an der Politik. Man neigt heute leicht dazu, in der Teilhabefrage kleiner zu denken als die Antike. Kulturteilhabe ist weder nur Konsum oder freies Spiel, sondern ebenso politische Teilhabe.
Der Eindruck, die Wirtschaft habe das Kommando vor der Politik übernommen, und wickle gleichsam menschenlos nur noch ihr eigenes Programm ab, ist Ausdruck des eigenen Rauswurfs aus der Politik, aus der Selbst- wie aus der Mitbestimmung. Der Andere hat das Sagen, die Doppelbestimmung meiner selbst als zoon politikon, als der, der in Gemeinschaft mit anderen Forderungen an alle formuliert, die zur Gemeinschaft gehören können und der genau von diesen Forderungen, deren Kodifizierung und Institutionalisierung betroffen ist, ist ins Stottern gekommen und scheint nicht mehr für alle zu gelten, so wenig wie die aristotelische Demokratie für Frauen und Sklaven.3
Wenn das der grobe Rahmen des Politischen und einer heute möglicherweise typischen Dysfunktion des Politischen ist, wenn es wenigstens ein Stück weit einen Begriff des Ganzen liefert und wenn es darin einen Primat der Politik gibt, dann fragt sich, wie die Politik zu ihren Zielsetzungen kommt. Ein Versuch, der Politik ein Ziel zu geben, war die durchgefallene Schweizer Volksinitiative zum bedingungslosen Grundeinkommen. Ist der Gedanke gescheitert, nur weil die Initiative gescheitert ist? Ist der Gedanke eines bedingungslosen Grundeinkommens überhaupt ein guter Gedanke?
Bruttoinlandsprodukt
Deutschland erwirtschaftete 2017 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 3,26 Billionen Euro, von dem 2,43 Billionen Volkseinkommen an ca. 82 Millionen Menschen in ca. 41 Millionen Haushalten verteilt wurde. Die Staatsquote am BIP beträgt heute in Deutschland ca. 44,5%. Wie zu verteilen ist, ist voll umfänglich eine politische und in geronnener Form eine rechtliche Frage. Wie viel da ist, um verteilt zu werden, ist dagegen eine wirtschaftliche. Beides ist ineinander verschränkt und die politisch-rechtlichen Regularien der Erstellung und der Verteilung haben gravierende Auswirkungen auf das Zustandekommen der Wirtschaftsleistung.
Aber die Verschränkung von Produktion und Verteilung ändert nichts daran, dass die Frage, wen das Wirtschaften ernähren soll, alle oder manche eben nicht (= 800 Millionen), und wen in welchem Umfang, auf der Ebene des Sozialen eine politische Frage ist und auf der Ebene der Individuen eine existentielle.
Es ist paradoxerweise keine Frage, die man Wirtschaftsunternehmen stellen kann, denn deren Verfasstheit sieht keine Antwortmöglichkeit vor. Selbstverständlich behauptet jedes Unternehmen den besonderen Nutzen seiner Leistung und die Dringlichkeit, es bei der Produktion nicht durch Regularien oder Steuern zu behindern. Jeder Repräsentant eines Unternehmens, der etwas anderes sagt, würde nicht für sein Unternehmen sprechen, sondern als Privatperson ein politisches Statement abgeben. Wenn politisch gewollt ist, dass sich wirtschaftliches Handeln im Rechtsrahmen der Marktwirtschaft dadurch entfaltet, dass Gewinne erwirtschaftet werden, dann kann man Lobbyisten nicht vorwerfen, es gehe ihnen nur um höhere Gewinne und nicht um Menschlichkeit. Eine bessere Idee wäre es, nach der ethischen Integrität der Kapitaleigner zu fragen.
ethische Integrität
Das ethische Niveau und die Folgen seiner Handlungen hat der zu verantworten, der in das Leben anderer eingreift. Und selbstverständlich greift jeder täglich in das Leben anderer Menschen ein, der nicht völlig vereinsamt ist. Jeder handelt dabei aus seinen eigenen ethischen Maßstäben heraus. Die einschlägige Frage dazu stellt die biblische Episode von Kain und Abel: Bin ich der Hüter meines Bruders?4 Wir nehmen Rücksichten und bewegen uns dabei in einer Art informellen, weit gefächertem Netz von kulturellen Einverständnissen darüber, was richtig ist und was falsch, zusammen mit anderen, von denen sich manche als integer erweisen und andere, die sich asozial verhalten und shitstorms lostreten, sobald sie sich unbeobachtet fühlen.
Kaum irgendwo sonst greifen wir jedoch stärker in das Leben anderer ein als beim Wirtschaften, bei Arbeit und Versorgung, und erleben gleichzeitig, wie andere in unser Leben eingreifen und unser Leben von anderen bestimmt wird. Angesichts der Verfassung unserer Wirtschaft treten das eigene ethische Urteil und der informelle Konsens hinter Gewinnzielen und Konkurrenzverhältnissen der Menschen zurück, die bei der Arbeit und auf dem Markt miteinander zu tun haben.
Marktwirtschaft besticht dabei durch die Einfachheit ihrer Grundform. Die ist – mit Hamlet zu reden – von keinerlei Blässe eines ethischen Gedankens angekränkelt. Sie suspendiert ethische Integrität. Das Informelle des kultivierten Umgangs wurde und wird täglich mehr durch einen formellen Rechtsrahmen mit hoher Regelungsdichte ersetzt.
Ich wüsste kaum ein Gegenbeispiel gegen diese Richtung einer Entwicklung des modernen Wirtschafts- und Finanzsystems, bei der ethische Integrität immer ephemerer wird, hätte nicht der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus, einer der Initiatoren der Mikrofinanzidee, vor einiger Zeit ein sehr eindrucksvolles geliefert. Er gründete 1983 in Bangladesh die Grameen Bank, die Menschen ohne Einkommenssicherheit Kleinkredite ermöglicht.
„Er entwickelte ein System, in dem sich die Kreditnehmer – zu 97 Prozent Frauen – aufgrund persönlicher Bindungen zur Rückzahlung verpflichtet fühlten. Voraussetzung für die Kredite war, dass sich in den Dörfern kleine Gruppen zusammenschlossen, die von Bankangestellten geschult wurden und füreinander bürgten. Und sie wurden Miteigentümerinnen der Bank – diese befindet sich heute zu 94 Prozent im Besitz der über sieben Millionen meist weiblichen Kreditnehmer. Im Ergebnis erreichte die Bank eine Rückzahlquote von 98 Prozent. Dieses Ergebnis erreicht keine andere Bank der Welt. 2006 erhielt die Organisation, der Yunus angehört, für diese Praxis der Geldvergabe den Friedensnobelpreis. Die Grundlage ihres Handelns, das Vertrauen, hatte spürbar zur Verringerung der Armut geführt, weil es Eigeninitiative, Berufstätigkeit und Gemeinsinn erhöhte.“5
Wir kennen das anders. Der Einzelne kommt, sofern er Geld hat, am Markt als Kunde vor. Autonome Entscheidungen sind dort zur Sache des Geschmacks und des Budgets umgedeutet. Im Wirtschaftsgeschehen ist die Dimension der Ethik als persönliche Integrität sowohl auf Seiten der Anbieter, wie auf der Nachfrageseite beim Kunden systematisch zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber durch Rechtsregelungen (vom Verbraucherschutz über das Arbeitsrecht und durch das gesamte Zivilrecht etc.) gedoppelt, letztlich sogar ersetzt. Ebenso formalisiert agiert notwendigerweise die genehmigende und kontrollierende Exekutive.
Die kulturelle Dimension des eigentlich Ethischen ist an den politischen Gesetzgeber delegiert, wird dort in Gesetzgebung umgesetzt und zugleich irritiert. Denn das, was die Einzelnen aus ihrer Erziehung und aus ihrer Erfahrung heraus für richtig halten, der ganze Reichtum der Vorstellung davon, was im Umgang von Menschen miteinander richtig und was falsch ist, erscheint als verspätet und relativ unwirksam gegenüber der rechtlichen Betrachtung. Einerseits kommt der Gesetzgeber der eigenen Entscheidung regelmäßig zuvor. Die persönliche Entscheidung ist – außer in den seltenen Fällen radikaler Innovation – rechtlich bewertet, bevor sie überhaupt geschieht. Andererseits wird der kulturelle Gehalt des Ethischen, die Vorstellung des Guten durch die Wirtschaftsprinzipien Konkurrenz und Effizienz als überall präsente Erfahrungsgehalte unterlaufen und umgewertet.
Im Wirtschaftsleben autonome Entscheidungen aufgrund der eigenen ethischen Maßstäbe zu treffen und nicht allein aufgrund eines wirtschaftlichen Nutzenkalküls, kann ein nicht unerhebliches Maß persönlicher Integrität erfordern. Es ist unter Marktbedingungen zunehmend weniger möglich, im wirtschaftlichen Handeln Rücksichten auf andere zu nehmen, es sei denn im Austausch gegen eigene Vorteile.
Num pacta sunt servanda?
Das
heutige Wirtschafts- und Finanzsystem ist unwidersprochen krisengefährdet,
was für sich genommen kein Argument dagegen ist. Die
kapitalistische Marktwirtschaft, sozial oder marktliberal, zeichnete sich
von Anfang an dadurch aus, Krisen zu generieren und sie dann zu
überleben. Insofern sind Argumente wie das, dass wir gegenwärtig
um unseres eigenen Wohlergehens willen die nachfolgenden Generationen
mit unabzahlbaren Schuldenbergen konfrontieren, einigermaßen
dünn. Wer sagt, dass später gezahlt werden müsse, dass
geschlossene Verträge zu halten sind, sagt eigentlich nichts
anderes, als dass alles beim alten bleibt. Das wirtschaftliche
Zusammenleben der Menschen, das lässt sich wohl für alle
bisherigen Gesellschaften sagen, ist Gegenwartsbewältigung,
selbst wenn es sich im religiösen Leben oder im Feudalismus
anders darstellt. Wirtschaften bewältigt Gegenwart in einem
Zeithorizont von höchstens dreißig oder vierzig Jahren.
Die Kreditwirtschaft ist dabei eine ehrwürdige Form des
Wirtschaftens, die die Gegenwart bewältigt, indem sie auf die
Zukunft optiert. Gegenwart meint einen Horizont, der meist viel
kürzer ist als ein individuelles menschliches Leben. In dieser
Hinsicht lohnt ein Blick auf die Taktung von vergesellschafteter
Zeit. Jobs werden befristet. Politiker für ein paar Jahre
gewählt. Vorstände erhalten Zeitverträge, und
Vorratshaltung beschränkte sich immer schon auf überschaubare
Zeiträume.
Debatten um politische und ethische Grundausrichtungen denken all zu leicht in Weltaltern.
Nicht unoriginell ist folgender das bedingungslose Grundeinkommen betreffende Vorschlag:
„ John Rawls hat in seiner Theorie der Gerechtigkeit dargelegt, dass über die Grundprinzipien der Verteilungsgerechtigkeit nur entscheiden sollte, wer dabei keine eigenen Interessen im Spiel hat.1 Dies ist ein auf den ersten Blick sehr theoretischer, aber logisch umso schlüssigerer Gedanke. Demnach sollten Grundsatzentscheidungen über Verteilungsgerechtigkeit unter einem fiktiven „Schleier des Nichtwissens“ über die je eigene Interessenlage getroffen werden. In solcher fiktiven Situation würden aktuelle Interessen und Interessenkonflikte bei der Entscheidung keine Rolle spielen.(...) Unter dem Schleier des Nichtwissens müsste jeder befürchten, letztlich – nach dem Lüften des Schleiers – selbst zu den Schlechtestgestellten einer Gesellschaft zu gehören. Jeder hätte daher ein Interesse daran, dass es den Schlechtestgestellten so gut geht wie irgend möglich. Eben dies wäre demnach der politisch angestrebte Zustand, wenn Interessenkonflikte (...) keine Rolle spielten. Hierüber besteht also philosophisch gesehen ein eigentlicher moralischer Verfassungskonsens. Eigentlich hat eine solidarische Gesellschaft alles daranzusetzen, das Los ihrer schlechtestgestellten Bürger zu optimieren.
(…) Der Einfluss von Eigennutz auf die politische Entscheidung über ein Bürgergeldsystem ließe sich nämlich durch einen scheinbar sehr einfachen Verfahrenskunstgriff weitestgehend ausschalten. Dafür müsste nur ein Bürgergeld zur Entscheidung gestellt werden, von dem lebende Generationen ausgenommen sind. Die lebenden Generationen müssten also über die Einführung eines Bürgergeldsystems nicht für sich selbst, sondern für die Nachgeborenen entscheiden.“ 5b
Der Autor bemerkt allerdings sogleich, dass unklar ist, was eine Entscheidung der Elterngeneration rechtfertigen sollte für etwas, das allein die nachfolgende Generation betrifft. Wer in Ewigkeitszeiträumen dankt, unterstellt eben immer auch, dass seine Kinder nie erwachsen werden.
Die traditionelle Ewigkeitsattitüde des Ethischen, die mit dem Prinzip der Vertragstreue 'pacta sunt servanda' auf das Rechtssystem übertragen wird, erweckt freilich einen anderen Eindruck, den des allein Verläßlichen. Solange arbeiten heißt, sich zu wiederholen, besteht durchaus kein Widerspruch zwischen Ewigkeitsattitüde und Gegenwartsbewältigung.
Jedenfalls sieht, wer heute zum Schuldner wird, heute keine günstigere Gelegenheit als eben die, heute unter der Bedingung 'pacta sunt servanda' zum Schuldner zu werden, sei es, weil er heute keine Alternativen hat oder weil heute die Konditionen stimmen. Wenn es später darum geht, die Schuld zurückzuzahlen, wird er dies nicht deshalb tun, weil er ein nibelungentreuer Schuldner ist, sondern, weil es zum Zahltag immer noch die beste ihm zur Verfügung stehende Möglichkeit sein wird, ein loyaler Schuldner zu sein.
In diesem System können sich Gläubiger und Schuldner erheblich verschätzen. Das weiß letztlich jeder Gläubiger. Aber es geht ums Jetzt. Es geht in der Ökonomie immer um jetzt, allerdings in der besonderen Form der Vorausplanung. Griechenland wird zurückzahlen, … wenn es Griechenlands beste Option sein wird, zurückzuzahlen.
Wer setzt die Ziele?
Nach wie vor fällt es vielen, die sich im öffentlichen Raum äußern, ausgesprochen schwer, zwischen dem wirtschaftlichen Innenraum des Kapitalismus einerseits zu unterscheiden und der Politik andererseits als dem Format, in dem soziale Ziele und damit die Forderungen verhandelt und durchgesetzt werden, die Menschen an andere stellen, mit denen sie zusammenleben, und drittens den ethischen und existentiellen Fragen, die sich jedem Menschen als bedürftigem Wesen stellen, das sich den Forderungen anderer zu stellen hat.
Diese Unterscheidung in der Doppelrolle von Forderndem und Geforderten ist in der Tat nicht einfach, denn jeder, der von morgens bis abends wirtschaftlich aktiv ist und dort in einer hoch mobilen Konkurrenz steht oder in einem ziemlich immobilen Produktionskollektiv, fest angestellt oder qua Internet atomisiert zum scheinselbstständigen Erfüllungspartikel einer internationalen Ausschreibung, ist wie auch immer zugleich Teil der politischen Willensbildung und existentiell Betroffener von dem, was Politik, sie mag im Modus des Konflikts oder des Kompromisses ablaufen, entscheidet. Sobald man sich der Mühe der Reflexion unterzieht, werden diese drei Perspektiven auf ein und dieselbe Sache untrennbar voneinander.
Noch einmal: Der Markt macht nicht die Regeln, sondern die Politik. Das wird oft bestritten, lässt sich aber am leichtesten gerade dort beweisen, wo es nicht läuft, z.B. durch Nordkorea, gilt aber ebenso für die Länder, in denen es läuft wie in Deutschland mit einer seit langem starken Wirtschaft oder durch China mit seiner immer stärkeren. Läge die Entscheidungsmacht auf Seiten der Wirtschaft, dann wären das nordkoreanische Regime, Hitlers Kriegswirtschaft oder Maos Kulturrevolution wohl unmöglich gewesen. Das wirtschaftlich Unsinnige ist keineswegs das politisch Unmögliche. Ein anderes Argument für die Allmacht der Wirtschaft argumentiert, die Politik werde aus der Wirtschaft ständig bestochen. Mir fehlt dagegen jede Phantasie mir vorzustellen, warum man jemand bestechen sollte, der nichts zu entscheiden hat. Die jeweiligen politischen Entscheidungen geben mehr und etwas anderes wieder als bloße Anpassungen an den Markt, nämlich unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft von Herrschaftsordnungen und das angestrebte soziale und damit durchaus auch an das kulturelle und 'geistige' Zusammenleben der Menschen.
Die Vorgaben an die Wirtschaft, die gesellschaftlichen Zielformulierungen müssen politische sein ganz einfach deshalb, weil sie gar nichts anderes sein können. Und wenn festgestellt wird, dass die Wirtschaft wesentliche politisch gewollte Ziele nicht erfüllen kann, ist die Wirtschafts0rdnung entsprechend zu verändern und nicht die Ziele. Die Antwort darauf, ob Ziele realistisch sind oder nicht, ergibt sich insofern nicht aus der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Selbst beim bedingungslosen Grundeinkommen ist die Frage sekundär, wie es zu finanzieren sei, selbst wenn es bei 1.000 Euro pro Monat für jeden in Deutschland in der Summe um 1 Billion Euro gehen sollte. Die erste Frage ist eine ganz andere: Ist es gut und erstrebenswert?
In folgendem will ich versuchen, einen gedanklichen Rahmen zu beschreiben, der weit genug ist für das Format der Frage und - wie ich ebenfalls hoffe - weiter als der Rahmen, in dem das bedingungslose Grundeinkommen bislang diskutiert wird.
Anmerkungen:
1 Markantes Beispiel, wie unterschiedlich die Positionen in dieser Hinsicht sein können, sind für mich die privaten Betreiber von Gefängnissen in den USA. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.
2 Inflationsabwehr sei an dieser Stelle als drittes Hauptziel der europäischen Wirtschaftspolitik nur kurz genannt.
3 Eine Randbemerkung, die vielleicht ernster ist als sie klingt: selbst Frauen und Sklaven im antiken Griechenland hätten vermutlich Populisten gewählt, wenn sie ihrem sukzessiven Rauswurf aus der Politik hätten beiwohnen müssen, von der sie freilich von vorn herein ausgeschlossen waren.
4 Genesis, 1.Mose 4,1-16
5 Vgl. Götz Werner/Adrienne Goehler, 1000 Euro für jeden, Berlin 2010, 11.Kap.
5b Vgl. Burghart Wehner, Die politische Logik des bedingungslosen Grundeinkommens, Zum Bürgergeld im 22. Jahrhundert, Wiesbaden 2018, S. 8f.
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