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beschreiben vs. beeinflussen

Michael Seibel •    (Last Update: 30.10.2018)

Die klassische Demoskopie versucht, Meinungen, verbreitete Wünsche und öffentlich herrschende Urteile auf der Grundlage von Befragungen und deren statistischer Auswertung zu ermitteln. Im Rahmen von Marktforschung verbindet sich Demoskopie mit Ökoskopie, die nicht Befragungen durchführt, sondern Umsätze, Preisentwicklungen und Käuferstrukturen aufgrund der realisierten Käufe feststellt. Es geht also dabei nur sehr bedingt um Prognostik, sondern bestenfalls um Tendenzen und Trends aus der Fortschreibung von Veränderungen aus der nahen Vergangenheit in die nahe Zukunft.

Der Mensch (the concept of man), das ist die Person, die kauft und auf Fragen antwortet. Weder Demoskopie, noch Ökoskopie, die permanente Beobachtung von Einschaltquoten und Reichweiten in den Massenmedien zielen nicht auf Verhaltensänderungen, sondern auf Verhaltensbeschreibungen ab.


Ganz anders auf Seiten des Marketing, der Medien und der Politik. Hier wird der Versucht gemacht, Demoskopie zur Verhaltensänderung von Zielgruppen, zur Beeinflussung von Wahl- und Kaufentscheidungen zu nutzen. Solche Versuche nehmen eine mehr oder weniger manipulative Ausprägung an. Marktbearbeitung kann z.B. im Versuch bestehen, ein Produkt im Markt zu platzieren und überhaupt erst einmal bekannt zu machen, wobei man davon ausgeht, dass das Produkt den Präferenzen der Zielgruppe in besonderer Weise entspricht, also Wünsche erfüllt, die bereits bestehen. Es kann ebenso darum gehen, Wünsche zu wecken, die bisher nicht bestanden haben, also den Präferenzrahmen der Kunden zu verändern. In der Tat lässt sich diese Unterscheidung praktisch kaum eindeutig treffen. Ein Beispiel: die Autoindustrie reduziert den Treibstoffverbrauch pro KW. Statt den Flottenverbrauch so schnell wie möglich zu senken, was ökologisch sinnvoll ist, werden immer leistungsstärker motorisierte SUVs angeboten. Begründet wird das mit einer hohen Kundennachfrage, die allerdings erst durch das Angebot und dessen Kommunikation erzeugt wird.


Die Forderung, Kauf- oder politische Wahlentscheidungen beeinflussen zu können, wird faktisch erhoben, allerdings gerade nicht in Demoskopie oder Ökoskopie, sondern in Marketing, Verbänden und politischen Parteien. Hier geht man davon aus, dass eigenes Verhalten, sei es durch Produktplazierung und Werbung, durch die Inhalte der Wahlprogramme und durch Präsenz in den Medien oder durch den persönlichen Auftritt etc. fremde Wahlentscheidungen aktiv beeinflussen können. Mitarbeiter in Vertrieb, Marketing, Verbänden und Politiker werden für die ihnen diesbezüglich zugeschriebenen Effekte verantwortlich gemacht. Im Kampf um Umsätze und Stimmen ist ihre einzige Ressource ihr eigenes Verhalten, ihr persönlicher Einsatz als Vertriebler oder Wahlkämpfer oder öffentliche Person. Die eigene Verhalten soll also sehr wohl kausale Folgen auf die Kauf- und Wahlentscheidungen anderer Menschen haben.


Darin stecken zwei Behauptungen, die so gut wie nie bestritten werden: einerseits eine Kausalitätsbehauptung. Was A tut, kann bewirken, was B tut. Das ist zunächst ein Glaubenssatz, der seinen Ursprung im Kausalprinzip der Naturwissenschaften hat. Die zweite Behauptung ist eine Verstehensbehauptung, ohne die die Kausalitätsbehauptung nicht viel wert ist, dass falls es diese Wirkung von A auf B gibt, auch verständlich ist, wodurch sie genau zustande kommt. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte die Korruption sein. B tut etwas, weil A ihm Geld gegeben hat. Er tut es aus genau diesem Grund und hätte es sonst nicht getan. Wer dieses Beispiel ethisch anstößig findet, braucht es nur leicht zu modifizieren. A verspricht B ein Gehalt. Genau das bewirkt, dass B für ihn arbeitet. Oder auch: Ein Ladenbesitzer platziert ein bisher wenig verkauftes Produkt so, dass es von Kunden leichter wahrgenommen wird, dass der Kunde geradezu 'nicht mehr daran vorbeikommt' und fortan verkauft es sich besser. Spitzenverkäufer gelten in ihren Unternehmen bisweilen geradezu als kleine Zauberer, Politiker, die öffentlich erfolgreich sind, als Heilsbringer. Die Fähigkeit, andere zu beeinflussen, übersetzen sich viele Soziologen seit Max Weber mit dem Wort Charisma, was nichts weiter ist als ein Platzhalter für ein unverstandenes Rätsel oder besser für eine falsch gestellte Frage.


Allerorten wird der Versuch gemacht, sich selbst als Verkäufer oder Wahlkämpfer zum Akteur zu machen und Fremdentscheidungen dadurch zu determinieren. Das begründet das Bedürfnis, den Handlungsspielraum des eigenen Verhaltens möglichst zu vergrößern und Handlungsspielräume potentieller Kunden möglichst zu verkleinern. Demnach macht es einen Unterschied, ob ein Ladenbesitzer nur dadurch Kaufentscheidungen beeinflussen kann, dass er ein Produkt geeignet platziert oder ob er zusätzlich die individuellen Wünsche seiner Kunden kennt und ob diese Kenntnis ihm von seinen Kunden mit einem Minimum eigener Leistung geliefert wird. Ironischerweise kommt der Ladenbesitzer damit gegenüber Informationsanbietern wie Google, Facebook, Amazon in genau die passive Position, die er eigentlich seinem eigenen Kunden zugedacht hatte.

Im WEB 2.0 hören Kunden und Wähler auf, nur demoskopisch statistisch interessant zu sein. Aus statistischen Plural-Wesen werden in ihren Sozialbeziehungen beobachtbare Einzelwesen. Aus Publikum wird User.

Wenn Politiker auf Demoskopie schauen, bekommen sie eine Vielzahl von Aussagen des Typs zu hören: x % der jeweiligen Grundgesamtheit lehnen ab oder befürworten y. Es scheint also darum zu gehen, die Umwelt der Befragten so zu verändern, dass das Maß der Zustimmung steigt und sich in der Wahlentscheidung niederschlägt.

Es ist gut, sich deutlich zu machen, wie weit entfernt der demoskopische Blick und vor allem jede daraus abgeleitete politische Reaktion von einer Meinungsbildung entfernt ist, die auf persönlichen Gesprächen beruht. Ein persönliches Gespräch gibt Gelegenheit, die Meinung des Gesprächspartners vor dem Hintergrund seiner Lebensumstände zu verstehen. Je nachdem, wie hoch die Vertrautheit mit dem Leben des anderen ist, in welchem Kontext das Gespräch stattfindet und was der Gesprächspartner bereit ist, von seiner Lebenswirklichkeit offen zu legen, kann sich ein äußerst differenziertes Bild der Bedeutung eines Urteils ergeben, für den, der es äußert und für den, der es verstehen will. Sofern reagiert wird, kann das die Reaktion auf die Einstellungen und Wünsche eines ganz bestimmten Menschen sein. In diese Dimension stößt die Demoskopie nie vor. Sie befragt zwar die Menschen einzeln, aber sofern es zu politischen Reaktionen kommt, sind das Reaktionen auf summarische Ergebnisse.



Das Web 2.0. verändert dieses Verhältnis. Die Beobachtung einzelner Menschen ist natürlich nicht erst seit der umfassenden Digitalisierung der Lebenswelt möglich, aber erstmals sind nicht nur Minderheiten von Menschen einzeln beobachtbar wie für einen klassischen Geheimdienst oder einen Verhaltensforscher, sondern relevante Mehrheiten, komplette Zielgruppen oder – wie bei Chinas möglichem social scoring – jeder einzelne Mensch.

Allerdings müssen wir sogleich eine Einschränkung machen: Wenn zwei Menschen im Gespräch miteinander übereinstimmen, hat das Voraussetzungen und Wirkungen auf beiden Seiten, die für den anderen sichtbar werden, die Luhmann, wie oben gehört - beim Weg über Medien regelmäßig vermisst. Im Gespräch ist es kaum möglich, Urteile des Gesprächspartners anzuhören, ohne sich irgendwie dazu zu verhalten und sei es gleichgültig. Für Luhmann sind Medien eben Medien, man steht dem anderen eben nicht leiblich gegenüber und erfährt ihn nicht unmittelbar.


Heute wird bisweilen bereits bezweifelt, dass es einen grundlegenden Unterschied macht, ob sich Menschen unmittelbar begegnen oder ob sie Kontakt via social media aufnehmen. Auch das hat inzwischen Geschichte. Es ist in der Tat nicht leicht anzugeben, worin beim einem beruflichen Kontakt der Nachteil bestehen soll, wenn sich zwei Menschen telefonisch, also über ein Medium informieren, als wenn sie sich zum selben Zweck persönlich treffen. Längst ist der direkte Kontakt in unendlich vielen Alltagssituationen schlicht ineffizient verglichen mit dem medialen.


Je nachdem, was der Einzelne von sich zu erkennen gibt, ist das Menschenbild derer, die ihn untersuchen, ein grundlegend anderes und abhängig von seiner eigenen Mediennutzung und den Anforderungen, die sich alltäglich an ihn stellen, verändert sich sein eigenes Lebensbild.

Als ein Beispiel dafür, wie der theoretische Blick auf den Menschen als Forschungs-Gegenstand sich ändert, hier Kietzmanns Social Media Honeycomb:





Der amerikanische Soziologe Elihu Katz hatte schon in dem 60er Jahren angeregt, Einstellungen entlang den drei Ws zu untersuchen: Wer man ist, was man weiß und wen man kennt.22

Kietzmanns Social Media Honeycomb ist nur ein weiteres elaboriertes Beispiel dafür, in welcher formalen Struktur Individuen als User gesehen werden und von woaus Einflussmöglichkeiten etwa des Marketing auf ihn erwartet werden. Social-Media-Bausteine sind bei Kietzmann Identität (Womit identifizieren sich User selbst?), Gespräche (Wer kommuniziert mit wem in welchem Ausmaß?), Austausch (Wie verteilen die User Inhalte untereinander?), Präsenz (Wissen die User voneinander, wenn sie erreichbar sind), Beziehungen (In welchen Beziehungen stehen User untereinander?), Reputation (Was wissen Nutzer über die soziale Geltung anderer und von Inhalten) und Gruppen (Wie und in welchem Ausmaß bilden User Gruppen?). Sieht das alles zusammen nicht schon sehr viel mehr so aus wie ein richtiger Mensch? Viel vollständiger, wesentlicher und viel weniger abstrakt? Oder bleibt es ein Zombi?





Was ist planbar und was nicht?23 Das Wissen über den Einzelnen existiert zunehmend mehr außerhalb der einzelnen Menschen. Das Subjekt, das sich selbst bislang nicht durchsichtig war, scheint gerade außerhalb des Menschen neu zusammengesetzt zu werden. Diesmal als luzide und berechenbar wie nie, ohne die Freiheit...


… die sich zweifellos dennoch geltend machen wird.


Die Entwicklung hat gerade voll angefangen. Ich bleibe dabei.





Anmerkungen:

22 Vgl. Katz, Elihu/Lazarsfeld, Paul Felix, Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. Wien 1962.

23 Schema aus Michael Jäckel, Medienwirkungen S. 355


Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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