Subjekt und Freiheit
Michael Seibel • die unausrottbare Verwechselung von Freiheit und Zufall (Last Update: 30.10.2018)
Die berechtigte Kritik am Subjektbegriff, die sich spätestens seit Freud durch das gesamte zwanzigste Jahrhundert bis in die Systemtheorie zieht, zeigt bei Themen wie der Öffentlichkeit, dass sie möglicherweise erheblich übers Ziel hinausgeschossen ist. Obwohl das Bewusstsein nicht 'Herr im eigenen Haus' und sich nicht selbst durchsichtig oder Grund seiner selbst ist, wäre es falsch, mit der falschen Vorstellung eines ganz und gar seiner selbst bewussten Subjekts den Begriff der Freiheit aufzugeben, mit dem luziden Subjekt des Handelnden den Begriff des Handelns selbst. Niemand kann seine eigenen Handlungsgründe, die sich in Wünschen und Bedrohungsszenarien konzentrieren, bis an ihre Quelle zurückverfolgen. Aber andererseits erlaubt nichts, das obsolete Einzelsubjekt durch ein abstraktes Kollektivsubjekt wie die Öffentlichkeit, die Gesellschaft oder deren Gegenüber, die öffentliche Gewalt, den Staat oder irgendeine systemische Kausalität zu ersetzen oder auf den Subjektbegriff ganz zu verzichten.
Der Einwand, das Bewußtsein werde misverstanden, wenn man es für ein Subjekt hält, dass überhaupt irgendetwas konstitutiert (m.a.W.: das frei ist) und wenn man es am Ende gar für den Gestalter von Geschichte hält, beansprucht für sich, um stichhaltig zu sein, ein Mehr an Wissen über das Bewußtsein, als es das kritisierte klassische Bewußtsein von sich selbst hat. Heute wird solch ein Anspruch typischerweise von Seiten der empirischen Wissenschaften erhoben. Im Trend liegen dabei die Biowissenschaften und die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung.
Damit stellt sich eine entscheidende Frage: Ist das derart prätendierte neue Wissen seinerseits unbewußt? Autoren wie Yuval Noah Harari weisen auf ein Auseinandertreten von Intelligenz und Bewußtsein hin.
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Es könnte gut möglich sein, dass den Nerds von silicon valley und wall street bei aller Intelligenz zunehmend jegliches Bewußtsein fehlt, was sie da tun.
Und die Computer-Algorithmen, die große Datenmengen verarbeiten, hatten nie welches.
Aber zumindest für die Kritik muss das Wissen, unter Berufung auf das das klassische Subjekt kritisiert wird, selbst ein Bewußtsein von Wissen sein.
Wenn der Kritiker das Kritisierte nicht ein klein wenig besser versteht als dies sich selbst, sollte er sich wohl besser mit der Kritik zurückhalten.
Wenn es dem klassischen Subjekt mit guten Gründen Konstitutivität abspricht, übernimmt es damit entweder selbst die Last der Konstitutivität
(was sich die Wissenschaften in der Moderne immer schon gern zugetraut haben, wenn sie darauf verweisen, dass es ohne sie kein Penicillin und keine Mondfahrt gäbe)
oder übergibt sie an eine übergeordnete Instanz,
etwa an die symbolische Ordnung oder die Intersubjektivität und ersetzt damit nur Pest durch Cholera. Man hat in die eine black box, ins Bewuß,tsein hineingeschaut, wenn auch nur ein kleinses Stück weit, und man glaubt entdeckt zu haben, dass es sich
gleichsam nicht um mehr handelt als um ein relativ unterkomplexes Peripheriegerät, das allein nichts zustandebringt.
Also ersetzt man die zu simple black box durch die nächste. Sie etabliert die Undurchschaubarkeit eine Etage höher.
Oder - und das ist die Haltung der empirischen Wissenschaften, sie hält sich ganz heraus und erklärt die Vorstellung von Konstitutivität zu etwas Religiösem, auf das verzichtet werden kann.
Sie ist äußerst erfolgreich darin, Prozesse zu beschreiben und auf Gründe zu verzichten. Sie riskiert damit aber einen unbezahlbaren Preis: Sie verliert komplett die Dimension des Ethischen. Die Frage "Was sollen wir tun?" wird der statistischen Wahrscheinlichkeit
von Stimmungen überlassen oder alternativ der Selbstverpflichtung auf Techniken. Dem widerspricht, dass es Wissenschaft, nicht einmal mittelalterliche, gar nicht erst gäbe ohne geordnete Kooperation, also ohne
entsprechend abgestimmte Antworten auf eben die Frage: "Was sollen wir tun?", "Was macht Sinn?". Der Verzicht der Wissenschaften auf die Dimension des Ethischen ist ungeschichtlich und
kultiviert die Haltung: Augen zu und durch!
Eine Welt ohne Ethik wäre eine Welt ohne Abstimmungsbedarf. Abstimmung durch nichts als Zwang ist letztlich in keiner Gesellschaft möglich.
Der Begriff der Freiheit öffnet die
Dimension des Ethischen auch ohne causa sui und völlige Selbstdurchsichtigkeit. Freiheit ist nicht ein
anderes Wort für Unbestimmtheit oder Zufall. Wenn etwa ein
Politiker entscheidet, dann ist es nicht die Funktion, die
entscheidet, sondern der Mensch, der die Funktion innehat und das
auch dann, wenn er ohne seine Funktion gar nicht erst in die Lage
käme, entscheiden zu können. Außerdem wird jede
Entscheidung unter Rahmenbedingungen getroffen, die niemals
vollständig beschreibbar und schon deshalb nie vollständig
verstehbar sind. Also unter Bedingungen von Unsicherheit. Jede
Entscheidung ist ein Sprung. Die Gründe dafür, wie ein
Mensch entscheidet, der eine Funktion ausfüllt, sind nicht
schlechterdings durch die Funktion determiniert. Wir erinnern uns an
die Entschlossenheit der Regierung Kohl bei der Wiedervereinigung.
Eine andere Regierung hätte anders entscheiden können.
Nicht jeder entscheidet gleich, der eine Funktion zu einem bestimmten
Zeitpunkt ausfüllt. Der Versuch etwa, Sachentscheidungen im
Beamtenapparat an bestimmte einheitliche Kriterien zu binden und die
Beamtenschaft darauf zu verpflichten, Entscheidungsfreiheit also
professionell zu beschränken, kommt bis heute nicht über
die Kriterienbindung hinaus zu wirklich algorithmisch
standardisierten Sachentscheidungen. Wo es darum geht, werden
Menschen durch Maschinen ersetzt. Bevor man sich über
öffentliche Wirksamkeit verständigt, sollte man sich seines
Begriffs der menschlichen Freiheit vergewissern. So weit ich sehe,
wird das normalerweise unterlassen.
Jede Initiative ist ein Überhang an Freiheit gegenüber dem, was andere von uns erwarten und unseren Verpflichtungen anderen gegenüber. Ebenso gibt es ein Moment von Freiheit bei jeder Annahme eines Angebotes. Es kann Alternativlosigkeit streng genommen nur geben, wenn es etwas gibt, das schlechterdings nicht zur Disposition steht, und wenn dieses Etwas für alle, die miteinander darüber sprechen, das selbe ist. Alternativlosigkeit ist immer eine soziale Erfindung und als das die einzige Möglichkeit, den Satz wahr zu machen: „Ich bin gezwungen, x zu tun, weil sonst y geschieht“. Die Menschenrechte sind in diesem Sinn und leider nur in diesem Sinn alternativlos.
Jede Entscheidung beinhaltet ein Moment der Freiheit. In diesem Sinn ist jede Entscheidung eine 'einsame' Entscheidung, obwohl es nichts sozialeres gibt, als in Gesellschaft zu entscheiden. Diesem Begriff unbedingter Freiheit steht eine andere Freiheitsauffassung gegenüber, die betont, dass Freiheit Teilnahmebedingungen erfordert. Wenn der Wähler in der Wahlkabine allein zu lassen ist, dann deshalb, damit niemand an seiner Stelle entscheidet. Man will ihm ersparen, unter Druck zu geraten. Daher die Forderung nach geheimer Wahl. In einem radikaleren Freiheitsverständnis bedarf Freiheit allerdings nicht bestimmter Verhältnisse, sondern findet bestimmte Verhältnisse vor. Selbstverständlich würde der Soldat in der Wahlkabine das Wahlergebnis massiv verändern. Aber auch dann bleibt es die freien, wenn auch womöglich lebensgefährliche Entscheidung des Wählers, auf die Drohung einzugehen oder nicht. Vielen Freiheiten drohen Sanktionen. Immer droht irgend etwas, mit oder ohne Soldat, mit oder ohne Beamtenverhältnis, mit und ohne sozialer Absicherung. Zumeist sind Entscheidungs- und Verhaltensalternativen nicht schlechterdings gleichwertig. Der Freiheitsbegriff kann offenbar verschiedene Bezugsgrößen haben. Im einen Fall wird Freiheit im Verhältnis zu dem gesehen, was seit Platon das Gute heißt, im anderen wird das selbe Verhältnis gleichsam noch einmal umklammert von einem Verhältnis zur Unversehrtheit.
Heute besteht weitgehend unabhängig davon, wie man dem Leib-Seele-Problem gegenübersteht, kein Zweifel mehr daran, dass mentale Leistungen Leistungen des durch und durch materiellen Organismus sind. Selbst wenn man von der Tatsache absieht, dass mit der Quantenmechanik Wahrscheinlichkeiten Einzug in die Kette von zuvor mechanistischen Ursachen und Wirkungen und in das Verständnis der Eigenschaften der Materie gehalten haben, was von so manchen Theoretikern als Chance gesehen wird, dem Begriff der Freiheit ein Bürgerrecht in den Wissenschaften zurückzuerstatten, ist der lebende Organismus nicht nur des Menschen, er mag kausal bestimmt sein, wie immer er will, gar nicht anders beschreibbar als durch seine Fähigkeiten, sich anzupassen und mit Unbestimmtheiten umzugehen. Zwei Menschen müssen sich in der gleichen Situation nicht gleich verhalten. Man hat dagegen gehalten, dass sie in die gleiche Situation nicht unter den gleichen Voraussetzungen eintreten, und dass die Situation also nicht wirklich die gleiche ist. Das würde erklären, warum sie die Situation verschieden bewerten und sich verschieden verhalten. Zwei einzelne Zellen des selben Organismus mit der selben Funktion dagegen würden unter gleichen Voraussetzungen praktisch gleich funktionieren und unterschieden sich höchstens nach ihrer Funktionsstärke. Alles wäre also mechanisch zu verstehen, und Freiheit wäre ein Effekt zunehmender Komplexität. Zunächst aber einmal ist Freiheit ein Gedanke und hat mit Komplexität nichts zu tun. Freiheit ist eine Verständnischance und nicht ein Platzhalter für etwas, was noch zu komplex ist, um verstanden zu werden. Falls ein Zellbiologe bei der Arbeit an seinem Gegenstand mit dem Begriff Freiheit nichts sollte anfangen können, heißt das nicht, dass die Materie keine Freiheitsgrade, sondern nur Determinismen kennt und also auch ein Biologe, der Primaten untersucht, mit dem Begriff auch seinerseits nichts anfangen darf. Und umgekehrt heißt das nicht, dass ein Zellbiologe mit dem Freiheitsbegriff etwas anfangen muss, nur weil ein Verhaltensforscher seinen Primaten Freiheiten einräumen muss, wenn er ihre Anpassungsfähigkeit verstehen will. Der Laplacesche Dämon, also die Fiktion, unter der Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und aller Initialbedingungen sämtliche künftigen Weltzustände vorhersagen zu können, löst sich nicht erst durch die Quantenmechanik in eine Fiktion auf, sondern dadurch, dass dieser Gedanke als Modell komplexer ist als das, was mit seiner Hilfe erklärt werden soll. Ich sehe kein grundsätzliches Problem darin, Freiheit als grundlegende Möglichkeit zu verstehen, die der Organismus dem Menschen gerade in seiner Materialität einräumt.
Die Rückbesinnung auf den Begriff der Freiheit wird deshalb beim Thema Öffentlichkeit dringlich, weil es dabei um Prozesse der Willensbildung und -artikulation geht, die auf Wahlentscheidungen hinführen. Man hat dabei zu wählen, welchem Menschenbild man folgen möchte, ob man sie als von außen determinierbare Entitäten oder als grundsätzlich freie Wesen versteht und ob man überhaupt an der Kategorie der Wahl festhalten möchte.
Anmerkungen:
18b vergleiche beispielsweise: Yuval Noah Harari, Homo Deus, München 2017, S.445 ff.
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