Grenzen schließen
Michael Seibel •
Michael Seibel - Grenze als letales Denkmodell
(Last Update: 04.04.2016)
Eine
der ersten Assoziationen, die mit dem Wort Grenze
verbunden sind, dürfte der Gedanke des Schutzes und des
selektiven Austausches sein. Biologische Organismen etwa weisen
Grenzen gegen die sie umgebende Außenwelt auf. Im Begriff des
Organischen wird gedacht, dass es jeweils substantielle Kriterien
dafür gibt, was als Organ zum Organismus gehört und was
nicht. Organismen ohne Grenzen gibt es nicht. Im Begriff des
Organismus macht man sich eine bestimmte Vorstellung vom Leben
selbst. Man sieht Organismen vor sich im kontrollierten Austausch mit
ihrer Umwelt, der sie Energie entnehmen. Die Regeln, nach denen der
Austausch stattfindet, nach denen dem Stoffwechsel dienende Produkte
von auszuscheidenden Giften unterschieden werden, gehören zum
Insgesamt der Regeln, nach denen sich der Organismus erhält. So
denkt – in Kürze – die Systemtheorie. Das System,
das ist das Organische, sofern es Regeln folgt, die sich beschreiben
lassen.
Grenze, System, Organismus
Wenn die Systemtheorie etwas nun allerdings nicht denkt, dann sind das schlechterdings verschlossene Grenzen. Denn Grenzen werden über den Austausch gedacht, der an ihnen stattfindet, und nicht primär über den Ausschluss dessen, was auf der anderen Seite der Grenze verbleibt, denn es geht um Stoffwechsel. Organismen ohne Austausch mit ihrer Umwelt würden sterben oder deutlicher gesagt: Organismen mit geschlossenen Grenzen, das ist einfach ein dummer Gedanke.
Nun beinhaltet allerdings auch der Begriff des Organischen selbst eine Grenze, und zwar eine Plausibilitätsgrenze. Sofern es überhaupt Sinn macht, etwas Existierendes wie z.B. ein Lebewesen, aber auch eine soziale Formation als System zu betrachten, wird dessen Existenz in Begriffen von Selbsterhaltung gedacht. Selbsterhaltung meint keine bewusste Militanz, die etwa die eigene Existenz gegen fremde Existenz nach dem Motto fressen oder gefressen werden aufrechnet. Aber Selbsterhaltung ist immer in zweifacher Hinsicht prekär: sie ist von außen bedroht und in ihrem Inneren dem Schicksal der Sterblichkeit unterworfen. Unsterbliche Organismen sind göttlich, d.h. reine Fiktion, wenn man von Turritopsis dohrnii einmal absieht, die ihrer inneren Gefährdung durch ihre Stammzellenausstattung entgegentritt, oder um es mit Menschenmaß auszudrücken, durch ihre Fähigkeit zur permanenten kreativen Selbsterfindung.
System und Tod
Systeme überlisten den Tod und die Endlichkeit nicht. Systeme existieren streng genommen nicht. Ich gehöre zu denen, die es für den Grundfehler des Hegelschen Systemdenkens halten und all derer, die in seinem Sinn weitergemacht haben, auf der Existenz von Systemen zu bestehen. Ich halte Systeme für gedankliche Selbstverewigungen von Leuten, die gerne unsterblich wären oder von Leuten, die gern Verantwortung loswerden, weil sie sich in Systeme stellen, die ihnen nicht erlauben, etwas anderes zu sein, als sie nun einmal sind. Systeme sind befristete Ausnahmesituationen der Kontingenz und darüber hinaus Phantasmen der Selbstvernotwendigung.
Austauschflächen
Was das Systemdenken allerdings kann: es kann eine wenigstens einigermaßen plausible Begründung für Grenzen liefern, nämlich als Austauschflächen. Es gibt Grenzen eine Funktion. Das können Denkweisen nicht, die in Grenzen zuallererst das Ende eines Reiches sehen, jenseits dessen Ordnung faktisch durch Gewalt ersetzt ist.
Der Systembegriff fordert so wenig wie der des Organismus, dass dessen Selbsterhaltung als ein Wert angesehen wird. Man kann sich ohne weiteres Organismen vorstellen, die kein Selbst sind und deren Erhalt auch außer Biohistorikern kaum jemand sonst für wertvoll hält (Yersinia pestis z.B.). Selbsterhaltung muss also kein Wertbegriff sein.
Keine Gnade
Der systemtheoretische Blick auf Grenzen ist zweifellos der modernere, aufgeklärtere. Er unterscheidet sich vom archaischeren Blick einer selbstmächtigen Herrscherpose nicht darin, dass er keine Grenzschließung vorsieht, sondern dadurch, dass eine Grenzschließung nach Regeln abzulaufen hätte, die auf Systemfunktionen Rücksicht nimmt und nicht nach Gusto veranlasst wird. Der systemtheoretische wäre möglicherweise sogar der inhumanere Blick, eskamotierte er doch das ältere Moment der Gnade.
Begründbarkeit mit Ohnmacht bezahlt
Übersetzt auf die Realität der Flüchtlingswanderung wäre es die systemtheoretische Position, die ein Einwanderungsgesetz fordert und die archaischere, die irgendwo mit oder ohne Einwanderungsgesetz mehr oder weniger willkürlich Aufnahmequoten setzt. Beides passt bei vielen Menschen nebeneinander ins selbe argumentative Korsett, obwohl es offenbar wenig miteinander zu tun hat. Und dass es nebeneinander passt, ist aus der Nähe besehen nicht überraschend. Die Systemperspektive reduziert den einzelnen auf seine Funktion als Organ eines größeren Organismus und überantwortet ihn damit dem Chirurgen, sollte er sich als entzündeter Blinddarm zu erkennen geben. Begründbarkeit wird mit Ohnmacht bezahlt. Zu glauben, dass etwas verstanden ist, schließt die Selbstunterwerfung unter die gefundenen Gründe ein.
Um die Gestalt eines Systems hervortreten zu lassen und dessen Selbsterhaltung darüber hinaus als Wert ethisch zu besetzen, was nichts anderes heißt, als es gleichzeitig für notwendig und sterblich zu halten, müssen die Menschen sich gleichermaßen damit identifizieren und sich aus ihm zurückziehen.
Andererseits nutzt der Wahlbürger, stärker emotionalisiert als informiert (wie auch anders?) die Möglichkeit, qua Wahl seine Befindlichkeit auszudrücken, statt einfach nur Notwendigkeiten zu ratifizieren. Darin verfährt er vergleichsweise archaisch, nach Bauchgefühl, residualchristlich oder verängstigt, selbstherrlich oder deprimiert, jedenfalls ohne zu großen Anspruch an überprüfbare empirische Begründungen, von denen niemand garantieren kann, dass sie überhaupt existieren.
Grenze = Schießbefehl
Die Forderung, die Grenzen zu schließen, ist zu ende gedacht gleichbedeutend damit, auf die Menschen zu schießen, die die Grenze dennoch unautorisiert überschreiten wollen.
Diejenigen, die eine Grenzschließung für nicht anerkannte Flüchtlinge fordern, weisen diese Konsequenz natürlich weit von sich. (Man erinnert sich an den Aufschrei der Empörung anlässlich des Satzes von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky „Soldaten sind Mörder.“) Man begreift sich schließlich nicht als Mörder. Man realisiert nur das 'Recht' jedes Staates, seine Grenzen zu schützen (also den moralisierten Selbsterhaltungsgedanken) und die eigenen Bürger dadurch zu schützen. Und selbstredend gibt es nicht-letale Mittel, Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Warum also gleich schießen?
Lassen sich Grenzen schließen, ohne auf Menschen zu schießen? Das hängt vom Nachdruck ab, mit dem Grenzen von der einen Seite aufgerichtet und mit dem sie von der anderen Seite überschritten werden. Wie es darum steht, sehen wir in den spanischen Exklaven in Nordafrika und den dortigen Zaunhöhen, an Berlin, Nordkorea, Larnaka etc..
Wenn auf der Seite, von der Flüchtlinge kommen, Todesgefahr herrscht, lässt sich die Grenze nur aufrecht erhalten, wenn der nicht autorisierte Grenzübertritt ebenfalls lebensgefährlich ist oder zumindest als lebensgefährlich gilt. Aber was anderes heißt das, als dass beim versuchten Grenzübertritt auf die Flüchtlinge geschossen wird?
Substanzlose Unterschiede
Und woher soll ein Unterschied zwischen denen kommen, die aus einer Kriegssituation fliehen und denen, die vor dem Hunger fliehen? Diese Unterscheidung ist völlig substanzlos.
Eine spezielle Beleidigung für den Intellekt ist auch die Behauptung, dass es inhumaner sei, auf Kinder, auf Frauen und alte Leute zu schießen, als auf erwachsene Männer. Der Grund für solche Haarspaltereien kann wohl nur sein, dass man Babies nicht zutraut, allein über die Mauer zu kommen, und dass sich mithin ihre Tötung schwerer als von ihnen voll zu verantwortender Grenzübertritt rechtfertigen lässt als etwa bei einem männlichen Leistungssportler. Wie gesagt, die Unterscheidung ist zynischer Quatsch.
Zwei Alternativen
Was ist also zu tun, wenn zwischen zwei benachbarten Regionen ein extremes Gefälle der Lebensbedingungen besteht? Die Antwort liegt auf der Hand. Es gibt zwei grundsätzliche Alternativen. Entweder kommt über kurz oder lang der Schießbefehl (= simpel, aber hässlich und zugleich scheinbar ungefährlich für die, die sich schützen) oder man verringert das soziale Gefälle (= scheinbar komplex, schwierig, mit Geduld und Machtverzicht verbunden).
Wie sieht die Abschottung, die Aufrichtung einer undurchlässigen Grenze aus, die einfache Lösung? Deren ultima ratio ist der Schießbefehl. Und solange noch nicht geschossen wird, entspricht dem eine Strategie der Abschreckung.
Unbemerkte Kriegstreibereien
Nun würde der Schießbefehl nichts nützen, wenn die andrängende Seite die stärkere, wirkungsvoller bewaffnete wäre. Ist eigentlich den Propagandisten geschlossener Grenzen klar, dass sie sich letztendlich in die lange Reihe derer einreihen, die ihre Nachbarn in den letzten Jahrtausenden immer wieder durch Ausschluss dazu aufgefordert haben, die Grenzen als Eroberer niederzureißen?
Grenzaufrichtung ist ausnahmslos (selbst als Chinesische Mauer) keine Strategie der Stärke. Sie wird nur gern so dargestellt, gerade weil sie aus Angst gefordert wird. Sie erscheint stark, solange sie auf die Vereinzelung derer setzt, die über die Grenze wollen. Es ist eine überhebliche, mörderische und zugleich blinde Strategie. Sie ist mörderisch, weil sie letztlich schießen muss, falls die Spannungen zunehmen, überheblich, weil sie letztlich diejenigen unterschätzt, die über die Grenze wollen und blind, weil sie die Bedingungen leugnet, die das Gefälle der Lebensbedingungen wachsen lassen. Territoriale Grenzen sind eben nur ein Typ von Grenzen und nicht einmal der wichtigste und nächste.
Außerdem geht die Ideologie der Grenzaufrichtung davon aus, dass die Schwachen schwach bleiben, als ob wie im Kalten Krieg Supermächte die Grenzen unverrückbar machen. Das dürfte eine Täuschung sein. Sie haben massiven Anteil am Gegenteil, daran nämlich, die Flüchtlingsbewegung ins Rollen zu bringen.
Der Ruf danach, Grenzen zu schließen, ist grundlegend falsch, egal, ob eine halbe Million Menschen kommen oder viele Millionen. Auch das Überlastungsargument macht ihn nicht richtiger. Es werden so lange mehr und mehr Menschen kommen, wie das soziale Gefälle wächst, das sie nach Europa treibt. Es abzubauen, ist nicht die schwierigere, sondern die einzige Lösung. Auf lange Sicht ist das Denkmodell Grenze nicht nur mörderisch, sondern vor allem auch selbstmörderisch.
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