Kulturelle Identität 2
Michael Seibel •
Michael Seibel - Sprache der Fülle ... Fülle der Sprache
(Last Update: 10.01.2016)
Ich
möchte „kulturelle Identität“ in einem
komplexeren, vielstimmigeren Zusammenhang aufsuchen, und ich möchte
das anhand einer kurzen literarischen Erzählung tun. Sie hat wie
jede Erzählung etwas Punktuelles, weil sie von der besonderen
Situation einer fiktiven Person erzählt und man also keineswegs
sicher sein darf, ihr etwas Allgemeines abzugewinnen. Es kommt auf
der Ebene, die mich interessiert, aber nicht darauf an, dass das, was
es von bestimmten Menschen zu sagen gibt, auch für andere gilt,
sondern darauf, dass es für die besondere Person selbst die Art
von Dichte und Unabweisbarkeit bekommt, die es möglich macht,
sich darin selbst wiederzuerkennen. Wenn irgendwo, dann erwarten wir,
hier auf „kulturelle Identität“ in einer
nicht oder weniger reduktionistischen Spielart zu treffen und
etwas von dem zu finden, woran Menschen sich selbst erkennen und
nicht nur von dem, was man ihnen von außen zuschreibt, wenn sie
bereits in Reih und Glied stehen.
Kulturelle Identität als Ursprungs-Erzählung
Aber können wir eine Erzählung für bare Münze nehmen, die sich selbst als fiktiv klassifiziert? Muss man nicht unterscheiden zwischen der Erzählung und dem, wovon sie erzählt, was in ihr zur Sprache kommt? Wie können wir sicher sein, dass das, was zur Sprache kommt, auch das ist, was den Antrieb zu sprechen geliefert hat? Die Psychoanalyse hat uns ja dafür sensibilisiert, beides nicht zu schnell gleichzusetzen, Nietzsche ganz im Gegenteil dafür, beides nicht zu stark zu trennen.
Im Grunde ist die Antwort naheliegend. Wenn man es für möglich hält, dass kulturelle Identität ein wirksamer Antrieb ist, aus dem heraus Menschen so oder so handeln, dann unterstellt man, dass es ein mannigfaltig strukturiertes Medium an Sprache, an Regeln, an Gewohnheiten, an Dingen, an Lebensumgebungen, kurz: an Kultur gibt, in dem sich die Menschen orientieren und das bestimmte Handlungsalternativen näher legt als andere. Man unterstellt, dass die Freiheit zu denken und zu handeln sich in so etwas wie Kultur artikuliert und dass, was Kultur ist, ständig zwischen den Menschen formuliert wird.
Eben deshalb können literarische Narrative als Orte kultureller Identifikation gelesen und untersucht werden und zwar unabhängig davon, ob es sich um Tatsachenberichte handelt oder nicht.
Das Allgemeine im Herzen des Besonderen
In dem, was personale Identität ausmacht, muss sich das Gemeinsame zugleich als nicht beliebige Spezifizität ausdrücken, als Unvermeidbarkeit des Allgemeinen mitten im Herz des Besonderen. Auch das passiert in literarischen Erzählungen. Und wenn man darauf besteht, dass es kulturelle Identität wirklich gibt, dann besteht man im Grunde darauf, dass das Leben als irgendwie gerichtetes Fort- und immer Fortschreiten etwas von einem Narrativ, vielleicht einem Roman hat.
Dass dasjenige, was es vorantreibt, so etwas ist wie eine Handlung.
Es ist merkwürdig; wer das Menschenleben als eine Art Roman auffasst, macht sich leicht lächerlich. Nicht jedoch, wer von kultureller Identität spricht. Dabei wird beide Male Veränderung als Handlung in Sinnzusammenhängen aufgefasst. Ob das richtig oder falsch ist, möchte ich gar nicht entscheiden. Wenn man jedoch darauf besteht, von „kultureller Identität“ überhaupt noch zu sprechen und falls es mehr zu entdecken gibt als einen ideologischen Kampfausdruck, eine Bildungsillusion oder Erziehungswunden und aufgezwungene Formierungen, dann müsste sie sich auf dieser Ebene zeigen. Aber ob und in welcher Weise ein solcher kultureller Mehrwert existiert, ist alles andere als sicher.
Nicht zuletzt scheint es mir interessant zu untersuchen, was jemand eigentlich tut, der sich auf „kulturelle Identität“ wie auf ein Faktum bezieht.
In den Trümmern der weißen Gesellschaft
Die Erzählung In den Trümmern der weißen Gesellschaft, die ich dazu anzuhören vorschlage, stammt von Antjie Krog. Sie erzählt Wort für Wort von der kulturellen Identität einer jungen Frau und hat den folgenden Inhalt, den ich hier gekürzt wiedergebe, um ihn kommentieren zu können. Wer sie vollständig lesen möchte, der findet sie in Lettre international Dez. 2015. Es lohnt sich.
„Dies ist meine erste Reise nach Hause, nachdem ich ein Jahr als DAAD-Stipendiatin in Berlin verbracht habe.
Auf der Fahrt vom Flughafen über die hochgelegene Straße stürzen meine Augen sich wie besessene Liebhaber auf die Landschaft meiner Kindheit. Die Welt ist erfüllt von Winterlüften und Gras.
(...)
Dieser Landschaft entstammen meine Knochen. ich bin aus dieser Weite des Himmels entstanden. aus diesem wogenden Horizont aus Grashalmen. Ich bin ein Teil davon. Nördlich von Bloemfontein führt die N1 nach Kroonstad. dem Ort im Norden der Provinz Freistaat im Landesinnern, wo ich aufgewachsen bin. Meine Schwester und zwei meiner Brüder leben immer noch dort. Und meine neunundachtzigjährige Mutter, Zwar haben wir uns im vergangenen Jahr ganz normale, altmodische Briefe geschrieben. doch habe ich sie lange nicht mehr gesehen.
(...)
Und plötzlich durchströmt es meinen Nacken, lösen sich die Nähte meiner Körperhülle, und meine Handgelenke werden leicht wie Spucke; hier habe ich zu meiner Zunge gefunden, hier, wo mein Mark entstand, wo das Ich, die Dichterin, geformt wurde.
(...)
was für ein trivialer Ort - Kroonstad, South Africa - die Heimatstadt der Erzählerin und ihrer Mutter
Ich klopfe nicht an, sondern betrete die Wohnung durch die Garage und staune. Vor meiner Abreise hatte meine Mutter sich die Hüfte gebrochen, seitdem wird sie rund um die Uhr versorgt. Wie die meisten älteren Menschen in der Stadt bestand auch sie auf einer weißen Pflegerin. Mir war klar, daß sie mit schwarzen Pflegerinnen würde vorlieb nehmen müssen, wenn auch nur widerwillig.
Meine Mutter sitzt am Tisch, den Rücken mir zugewandt. Unter den kurzgeschnittenen grauen Haaren ragt ihr dünner Nacken hervor. Neben ihr steht eine schwarze Frau, leicht zu ihr vorgebeugt, den Ellenbogen aufgestützt, und sagt: „Wie hübsch! Aber diese gelbe Blume, wollen wir sie mit dem Kürbis malen .. ?" Ich sehe, wie meine Mutter ihre Gabel mit einem Stück Kurbis zum Mund führt.
„lhre Mutter wollte nicht essen", erzählt Regina Nqabathi mir später, „aber ich habe mitbekommen, daß sie als junges Mädchen sehr gerne gemalt hat. Also habe ich dieses Bild gezeichnet, und wir malen es bei jeder Mahlzeit ab mit dem Essen auf ihrem Teller."
Meine Mutter starrt mich an. Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper. „Deine Haare lassen den Kopf hängen. Was ist bloß mit den Deutschen los?“ Wir brechen beide in Lachen aus, und ich nehme sie in den Arm, doch ich halte einen Buckel in den Händen und Knochen, die vor Altersverzweiflung und Einsamkeit spröde geworden sind. Wir unterhalten uns bis spät in den Abend und werfen die von der Schwester sorgsam geplanten Schlafenszeiten komplett über den Haufen. Gerade als ich kurz vor Mitternacht das Licht ausgeschaltet habe, höre ich Gepolter an der Tür. Die Tür geht auf. und da steht sie mit ihrem Gehgestell: „Ich wollte nur sichergehen, daß wirklich du es bist, die hier ist."
Als ich am nächsten Morgen die Tür öffne, sitzt sie bereits aufrecht und adrett gekleidet in ihrem Lieblingssessel. „Es freut mich so, diese Tür anzuschauen sagt sie, „und zu wissen, daß sie jeden Augenblick aufgehen kann und du hindurchspazierst. "
Als wir uns an den Frühstückstisch setzen, fragt sie: „Kackst du morgens oder später am Tag?“
Meine Mutter kann zwar hemmungslos und heftig fluchen, aber für einen Moment bin ich perplex: „Wovon in aller Welt sprichst du?"
„Wir haben kein Wasser. Ich habe eine große Flasche Trinkwasser, aber die ist zum Teekochen und Trinken, Wenn du morgens kackst, mußt du mit mir zur Farm fahren, um dort zu kacken. Wir können uns dort auch zwischen den Beinen waschen. Wenn du nachmittags kackst, mußt du später alleine hingehen. Das einzige Problem ist, daß dann der Rest der Familie auch dran ist."
Offenbar passiert es häufiger. daß in der Stadt das Wasser ausgeht. Wer es sich leisten kann, fährt dann zu einer der Farmen in der Nähe, um seine Notdurft zu verrichten - die anderen werden krank. Meine Mutter rümpft die Nase: „Stell dir vor, die wichtigste Betriebstätigkeit der Farm besteht heutzutage darin, Tag für Tag eine Lawine an kommunalen Fäkalien wegzuspülen! Und man kann nicht gerade behaupten, daß das eine Ernte ist, die Einnahmen bringt."
(...)
„Was möchtest du heute sonst noch machen? Wollen wir Käsekuchen essen gehen oder den alten Friedhof besuchen? Oder wollen wir zu deinem Cousin Paul fahren und uns seine Viecher angucken?”
„Nein, fahr mich bitte durch die Stadt, damit ich dir zeigen kann, wie die da alles verschandelt haben."
Meine Mutter ist Expertin. wenn es um „die da" geht und nach unserem morgendlichen Kacken läßt Sie ihrem Ärger freien Lauf. Mit ist unangenehm bewußt, daß Regina auf der Rückhalt sitzt. Fast alle alteingesessenen Familienbetriebe an der Hauptstraße sind verschwunden, Die meisten Läden wirken nichtssagend und werden von Chinesen geführt. und „jeder Laden verkauft dasselbe billige Zeug - wie in aller Welt soll man da eine Auswahl treffen?“
„Kaufen die Leute dann bei den Chinesen, Regina?”
„Ja, es ist billig, vor allem die Plastiksachen.“
Meine Mutter guckt mich an, als wolle sie sagen: ich gab's auf. Bei uns zu hause war das Wort „Plastik“ eine Metapher für alles, was als minderwertig, falsch und verachtenswert galt. Mein Vater betrieb eine Farm mit Wollschafen, und alles, was wir aßen. war aus eigener Herstellung. Unsere Utensilien waren aus Holz. Stahl oder Silber. Meine Mutter kochte das Essen in Silit-Töpfen und servierte es auf englischem Porzellan.
(...)
Landstreicher haben den Bahnhof niedergebrannt, der jetzt nur noch dasteht, mit verrußten Mauern, wahrend das Fundament als Toilette dient. „Die leben so lange in einem Gebäude, bis es völlig hin ist – von Instandsetzung haben die noch nie was gehört. Die Stadt ist voll von leerstehenden Gebäuden, Ruinen, für die man eine neue Verwendung sucht. Deine High-School ist jetzt ein Verwaltungszentrum, das alte Kloster eine Ausbildungsstätte, das Pfarrhaus eine Reifenwerkstatt."
Autos und Fußgänger tummeln sich auf den Straßen. „Siehst du! Wo sind die Weißen? Wo sind wir? Das ganze Stadtbild ist nur noch schwarz!"
„Aber auf der Geburtstagsfeier deines Sohnes waren doch viele Weiße?”
„Ja, aber man muß erst einen Stein hochheben, bis einige von uns hervorgekrochen kommen."
(...)
Als wir beide jünger waren. haben wir uns wild über ihren Rassismus gestritten - und das, was sie meinen „Verrat“ am Afrikaner nannte. Das hat uns voneinander entfremdet und bei uns beiden schmerzhafte Lernprozesse ausgelöst. Mit ihrer ausgedehnten, englische, niederländische, deutsche und russische Literatur umfassenden Bibliothek und mit ihrer Liebe zur Lyrik hat sie meine Existenz als Dichterin geprägt. Ich lehne ab, was aus ihr geworden ist, aber ich werde sie niemals nicht lieben können.
Ich beeile mich aber hinzuzufügen, daß seit dem Anbruch der Demokratie die Zeit und die Geschichte auf meiner Seite sind. Das, woran sie geglaubt hat, ist nicht nur gescheitert, sondern hat sich als durch und durch. bis auf den afrikaansen Kern verdorben erwiesen. Ihre Helden wurden als Mörder entlarvt, ihre Sprache verachtet, ihre Lebensweise bedroht. ihre Werte als kriminell bloßgestellt. Sie verkörpert eine Entwicklung im Endstadium.
Gleichzeitig lebt sie im Brennpunkt Südafrikas - eine alte Frau unter zunehmend selbstbewußt auftretenden Schwarzen. Dafür verzeihe ich ihr so manches, denn in gewisser Weise führt sie ein intakteres südafrikanisches Leben als ich im gut organisierten, von der Opposition regierten Kapstadt. Also bin ich nachsichtig mit ihr: „War es so schlimm, das Waschen?"
„Ja, es war schlimm, aber ich habe den Kopf weggedreht und meinen Blick auf das Stahlschränkchen neben dem Bett gerichtet und gedacht: Wir haben es selbst heraufbeschworen‚ wir haben es selbst heraufbeschworen.“
Ich halte vor dem Restaurant, in das ich meine ganze Familie zum Lunch eingeladen habe. Wir lachen viel und albern herum, Regina sitzt neben meiner Mutter, schneidet ihr das Fleisch, legt einen Arm um sie, wenn sie Wasser trinkt, und begleitet sie äußerst geduldig zur Toilette. Wie normal dies wirkt, eine schwarze Frau in der privilegierten und privaten Sphäre meiner Familie, wie meine Brüder Sesotho mit ihr sprechen, wie sie über unsere Geschichten lacht.
Während der winterliche Nachmittag die kühlen Schatten langsam dehnt, trage ich mich plötzlich, wie viele Weiße in meinem Land von schwarzen Menschen mit unverdienter Liebenswürdigkeit umsorgt werden.
Es ist der Tag meiner Abreise. Ich treffe meine Mutter in der Küche an. sie kocht einen speziellen Maismehlbrei auf einen Gaskocher. ‚Heute gibt es keinen Strom‘. sagt sie. und dann bemerken wir beide, wie der Ärmel ihres Morgenmantels plötzlich Feuer fängt. Sie scheint unfähig, ihre Hand zu bewegen, ich renne umher, mein Gott, kein Wasser in der Leitung, ich schreie, und Regina schüttet ebenso gefaßt wie geschickt den Krug mit Trinkwasser über ihren Arm aus.
Kurz bevor ich gehe, lege ich eine CD ein, die ich in Deutschland für sie gekauft habe: Die Winterreise - Im Schatten des Krieges, gesungen von Peter Anders, am Klavier begleitet von Michael Raucheisen. Die Aufnahme entstand in Berlin, als die Russen bereits im Anmarsch auf die Stadt waren.
Peter Anders "Winterreise" Franz Schubert 1948
Meine Mutter liegt auf ihrem Bett. Ihr Arm steckt im Verband, Sie hält den leichten Quilt zwischen ihren zerbrechlichen, von Rheuma angegriffenen Fingern, Im ersten Lied, Gute Nacht, werden wir beide wie aus heiterem Himmel getroffen, als der Sänger das Wort „fremd" artikuliert: „Fremd bin ich eingezogen, / fremd zieh’ ich wieder aus." So fremd sind wir in diesem Land geblieben.
Was soll ich länger weilen,
daß man mich trieb’ hinaus?
Laß irre Hunde heulen
vor ihres Herren Haus
Bei Anders’ wunderschön aspiriertem „H" sehen wir uns an. meine Mutter und ich, und ich werde der Verzweiflung in unseren Augen gewahr. Wie verleihen wir unserem Leben Sinn? Wer sind wir, die hier in diesem afrikanischen Land der Winterreise lauschen? Sind wir zwei Freaks? Sind wir elitär? Bestimmt! Zwei misfits, die die Hunde heulen hören vor dem einzigen ihnen vertrauten Haus, das auf Ungerechtigkeit errichtet wurde. Doch noch unangemessener ist, wie eindringlich gerade diese Aufnahme über Jahrzehnte des Schmerzes hinweg zu uns spricht in unserem brüchigen Dasein, das so von rassistischer Unmenschlichkeit zerrüttet wurde.
(...)
Und ich bin ergriffen. Eine Mischung aus Trauer und Zuneigung, tiefem Verlust und Scham, Und Liebe. Sanft berühre ich sie — die bebende Kehle meines Alphabets, Keine „Ruhe" mehr in den Trümmern der weißen Gesellschaft.
Als ich mich im Flugzeug anschnalle. erscheint eine SMS auf meinem Handy: Der Staat möchte unsere Farm im Rahmen der Landumverteilung aufkaufen. Entscheide dich: ja oder nein?
Die kleine Maschine hebt ab. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.“
Anstelle einer Interpretation
Es gibt also drei Personen: die Ich-Erzählerin, ihre Mutter und Regina, deren Pflegerin.
Die Spannungslinie: die Wiederbegegnung der Erzählerin mit der Landschaft auf der Heimfahrt. Eine Art Kamerafahrt von der Totale ins Detail, zunächst gröbere Landschaftsmerkmale, dann Details, an die einzelne Erinnerungen gebunden sind. Dann eine erste, umfassende Identifikation:
„Hier habe ich zu meiner Zunge gefunden.“
Dann die Ankunft am Elternhaus, Erinnerung bricht sich an Gegenwart. Die Erzählerin begegnet ihrer gealterten, dementen, pflegebedürftigen Mutter. Sie feiern Gegenwartsvergessen im Gespräch bis in die Nacht.
Am nächsten Morgen wird die Vergangenheit als Maß ans Jetzt angelegt. Zwei Motive sind dabei zentral, das Kacken (die Entdeckung von Mängel und Verfall allerorten), die Metapher Plastik (die allgemeine Entwertung)
Die Weißen, die Sachwalter der alten Werte haben sich verkrochen. („man muß erst einen Stein hochheben, bis einige von uns hervorgekrochen kommen.“) An deren Stelle überall Schwarze, Inder, Fremde, von denen die pflegebedürftige Mutter sich nicht gern berühren lässt. Fremd und liebenswürdig zugleich.
Die Mutter: „Tut mir leid, daß ich ununterbrochen rede, aber ich habe Angst, daß du verschwindest, wenn ich aufhöre.“ Die Mutter ist dement, die Tochter weiß. Die Chancen stehen schlecht, dass Verschwinden all dessen, was die Mutter einmal geliebt hat, aufzuhalten.
Es folgt eine Reflexion der Tochter im Medium rationaler Sicht auf das Südafrika der Gegenwart – Sie wird der Mischung aus Ablehnung der Mutter (ihres Rassismus - Außenverhältnis der Mutter) und gleichzeitiger Liebe zu ihr inne (ausgedehnte Bibliothek=Geist, Liebe zur Lyrik – Innenverhältnis der Mutter).
Wie sinnbildlich ein kurzer dramatischer Höhepunkt: die Mutter brennt.
Es folgt eine Reflexion im Medium von Ergriffenheit: Franz Schuberts - Fremd sind wir eingezogen. Eine Regression in die Urheimat Europa.
Die Erzählung endet mit der Abreise der Tochter und deren eigener, rätselhafter Unfähigkeit, das letzte Stück afrikanisches Land widerstandslos aufzugeben.
Spannungslinie der Erzählung
Die Spannungslinie der Erzählung ist – jetzt noch knapper gesagt - eine Wellenbewegung aus spontaner, von Erinnerungen gestützter Identifikation, die sich am gegenwärtigen Leid der Mutter bricht, um sogleich die Vergangenheit als gemeinsames Maß von Mutter und Tochter gegen die Gegenwart und deren offene Mängel in Stellung zu bringen, um dann wieder vor der Ambivalenz des Verhältnisses zur Mutter wie vor einem Rätsel zu stehen und in eine Reflexion zu münden, die zugleich eine gefühlsdurchtränkte Regression zurück in die Zukunft ist, denn sie landet in Europa, das zugleich das Europa der Romantik und der Gegenwart ist, und diese Landung bietet eine Position, die erlaubt, an einem letzten Stück Afrika festzuhalten, ohne sich als Rassist fühlen zu müssen.
Wie ich finde eine bemerkenswert komplexe kulturelle Identität und – wenn man die Rahmenbedingungen bedenkt – eine sehr starke. Zudem gleichsam eine Nachkriegsidentität und sicher keine, die erneut in den Krieg will. Möglicherweise mag die ungebrochene Mitläuferschaft eines begeisterten Jugendlichen praktisch wirksamer werden, aber sie ist viel ärmer an kulturellen Bestimmungen.
Selbst-Identität - Reichtum und Bruch
So weit die Geschichte. Identität rein als Selbst-Identität zu verstehen ist offensichtlich zu eng oder zumindest erklärungsbedürftig. Man muss vielfältiges anderes identifizieren und man muss sich mit vielfältigem anderen identifizieren, bevor man sagen kann, das bin also ich. Verengt wäre auch, Identität auf das zu beschränken, woran jemand von außen und von anderen erkannt wird, wie seine genetischen Merkmale, sein Fingerabdruck, seine Personalpapiere oder seine Kleidung. Zuschreibungen aufgrund beruflicher und sozialer Rollen erinnern wenigstens daran, dass auch Zukunftserwartungen einen Platz innerhalb der personalen Identität haben. Erzählungen von Identität haben zumeist auch eine kontra-faktische Dimension, erzählen auch von Möglichkeiten, Erwartungen und Brüchen. Wie sollte kulturelle Identität, falls es sie gibt, ohne eine Blickrichtung in die Zukunft auskommen? Oft wird jedoch unterm Titel „kulturelle Identität“ nur in konservatorischer Absicht über das gesprochen, was eine Gesellschaft geworden ist, nicht, was sie werden will. Und wenn dann doch einmal jemand von Zukunft spricht, erkennt man zu oft den Demagogen und Rattenfänger. (An einer Stelle zitiert Huntington Richard Hofstädter mit dem bemerkenswerten Satz über die USA »Als Nation ist es unser Schicksal gewesen, keine Ideologien zu haben, sondern eine zu sein.«)
Die eigene Identität schließt die Vielfalt des Wiedererkennens und des sich Zurechtfindens in der eigenen Gegenwart und Geschichte ein wie auch das, woran jemand andere als sich selbst gleiche erkennt. Um z.B. einen Verwandten zu erkennen, muss ich nicht nur den anderen formal identifizieren, sondern ich muss wissen, was mir Verwandtschaft bedeutet. Und das kann sich deutlich von dem unterscheiden, was Verwandtschaft anderen (selbst meinen Verwandten) bedeutet. Jedenfalls bestimmt auf dieser Ebene die Tatsache, das ich mit jemandem verwandt bin, nicht nur dessen Identität für mich, sondern auch ein Stück weit meine eigene. Die eigene Identität besteht konkret aus einer nicht abzählbaren Fülle von Beziehungen. Literatur kann sie erscheinen lassen, so wie die Erzählung von Antjie Krog. Wenn man so über kulturelle Identität reden kann, dann gibt es sie, sonst nicht.
Es ist ein Unterschied, ob man mit Gleichheit eine Idee und ein Postulat oder erlebte und erzählbare Verbundenheit meint.
Eine Technik der Konkretisierung
Technisch ist zu bemerken: An die Erzählung lässt sich eine lange Liste von Fragen stellen. Und es ist die Möglichkeit einer solchen Befragung, die uns auf die konkrete Dimension von Identität hinweist.
Was erkennt die Erzählerin wieder?
Und woher kommt die Freude, das Bedauern, das Erstaunen beim Wiedererkennen?
Woran ist die Erzählerin gewohnt und was überrascht sie?
Wen und was liebt die Erzählerin?
Wie drückt die Erzählerin Fürsorge aus?
Woran erinnert sich die Erzählerin (Und woran gemeinsam mit anderen)?
Was verachtet, bedauert, freut, belustigt, schützt die Erzählerin?
Was macht der Erzählerin Angst?
Woran zweifelt die Erzählerin?
Welche Erwartungen hat die Erzählerin?
Welche sozialen Vorstellungen hat die Erzählerin?
Wovon ist die Erzählerin überzeugt?
Welche Eindrücke vergegenwärtigen ihr Rassenunterschiede?
Was stellt sie sich zur frühere Rassentrennung?
Was schätzt die Erzählerin?
Woran fühlt sich die Erzählerin gebunden?
Woran bemerkt sie, dass sich ihre Einstellungen verändert haben?
Was macht der Erzählerin ein schlechtes Gewissen?
Worüber wundert sich die Erzählerin?
Was will die Erzählerin nicht verlieren?
Und wie gehört das Gefühl zur Erzählerin: … Fremd zieh ich wieder aus?
Auf das, was an solcher Identität kulturell zu nennen ist, käme man, indem man fragt: welche vorhandenen Narrative zitiert die Erzählerin damit eigentlich, worin sind ihre Liebe, ihr Erstaunen, die Ausdrucksformen ihrer Emotionalität und Rationalität unoriginell?
Identität: ist das nicht letztlich Reflexion?
Eine meiner letzten Fragen wäre: Wie reflektiert die Erzählerin das alles? Romantiker meinten, es handele sich gerade bei der Reflexion um den eigentlichen Kern von Identität, um die innere Unendlichkeit des Menschen. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Kern ist oder nicht vielmehr der Rest, der ohne all die anderen Fragen keinen Inhalt hätte.Je mehr man sich in den Text vertieft, desto länger wird die Liste möglicher Fragen und desto facettenreicher wird der Text. Wir kennen etwas Ähnliches aus der verbale Psychotherapie, die es mit Menschen zu tun hat, die in einem Zwei-Personen-Prozess von sich erzählen. Verbale Psychotherapie würde auf vielfältige Weise versuchen, den Erzähler vom latenten Narrativ, von noch nicht Erzählten zum Oberflächen-Narrativ zu führen, zu dem, was wir allgemein eine Geschichte nennen. Der Psychoanalytiker Daniel Stern spricht vom „narrativen Selbst“. Für die Psychotherapie ist da etwas, das sich ausdrücken will und sich noch nicht ausgedrückt hat. Gegen diese Trennung teile ich Nietzsches Vorbehalt. Identität dürfte immer beides zugleich sein, Unausdrückliches, das gerade ausgedrückt wird und Ausgedrücktes, das gerade vergessen wird, ohne Grund hinter dem Ausdruck und ohne Sinn hinter dem Vergessen. Identität als starre funktioniert nicht.
Erzählung als Essenz
Solche sich selbst erweiternde Fragen müsste man also auch an das, was bei Huntington kulturelle Identität heißt, stellen können. (Es ist allerdings klar, dass diese Vieldeutigkeit genau nicht das ist, womit man ein Truppe von Soldaten auf ein Kriegsziel einschwört. Ganz im Gegenteil. Man würde sich unweigerlich auseinander dividieren. In diesem Sinne sind es nicht kulturelle Identitäten, die die Menschen vereinigt, sondern bloße Parolen.) Dazu müsste man sich allerdings mit komplexen, sei es lebenden, sei es erzählten Personen befassen und nicht mit einer summarischen Identität ganzer Gruppen. Nach meinem Eindruck wird man feststellen, dass personale und konkrete kulturelle Identität nicht die Seinsweise eines beobachtbaren Objekts haben, sondern eher die einer Erzählung, also etwas, das letztlich nur auftaucht, wenn Menschen sich aufeinander beziehen, miteinander zu sprechen beginnen und vor allem, wenn sie über sich sprechen. Identität ist also eher Akt als Faktum.
Identität als aggressiver Lebensbrühwürfel
Diese Akte kommen bei Huntington nur vor, wo Krisen geschürt werden. Kämen sie anders vor, würde die vermeintliche Einheit des Begriffs in eine Vielheit von Phänomenen auseinanderbrechen. Problematisch an Huntingtons Darstellung ist nicht allein, dass Identität auf die begrenzte Gretchenfrage wie hältst du es mit der Religion reduziert wird, sondern dass selbst dieser Teilaspekt nicht (literarisch) durchformuliert, sondern zum Schlagwort und zur Aufzählung vereinheitlicht und verdünnt wird. Der Zweck dieser Vereinfachung liegt auf der Hand. Huntington steuert damit die Meinungsbildung seiner Leser und dahinter tritt sein analytisches Interesse im Grunde zurück. Für Huntingtons Leser macht die Vereinfachung die Urteilsbildung einfacher, aber die Urteile nicht richtiger. Es wird durchaus nicht klar, warum der Islam mit seinen Nachbarn nicht auskommt.
Man warnt vor Dekadenz
Worauf wollte Huntington hinaus? Er warnt vor Dekadenzanzeichen:
„Viel bedeutsamer als wirtschaftliche und demographische Fragen sind Probleme des moralischen Verfalls, des kulturellen Selbstmords.“
Er nennt:
„1. die Zunahme asozialen Verhaltens wie Kriminalität, Drogenkonsum und generell Gewalt;
2. der Verfall der Familie, damit zusammenhängend die Zunahme von Ehescheidungen, unehelichen Geburten, Müttern im Teenageralter und Alleinerziehenden;
3. zumindest in den USA der Rückgang des »Sozialkapitals«, das heißt der freiwilligen Mitgliedschaft in Vereinen, und das Schwinden des mit solchen Mitgliedschaften einhergehenden zwischenmenschlichen Vertrauens; 4. das generelle Nachlassen der »Arbeitsethik« und der zunehmende Kult der vorrangigen Erfüllung persönlicher Wünsche;
5. abnehmendes Interesse für Bildung und geistige Betätigung, in den USA am Absinken der akademischen Leistungen ablesbar.“
(ebd. S. 500)
Das ist eine bekannte Liste. Wir sind gewohnt und halten es in der Regel für rational und ausreichend, diese Argumente der konservativen Kulturkritik mit Blick auf Statistiken zu bewerten. Wenn wir nachweisen können, dass Kriminalität und Drogenmissbrauch nicht weiter zunehmen und deutsche Schulen im internationalen Ranking wieder einen Platz gut gemacht haben, neigen wir dazu, Entwarnung zu geben. Die konservative Sorge ließ sich dadurch noch nie beruhigen. Und wenn ich mich in sie hineinversetze, kann ich das gut verstehen.
Literarische Nagelprobe
Ich schlage auch hier ein literarisches Experiment vor. Man stelle sich eine Erzählung vor, die ausschließlich von einer Welt handelt, die sämtliche Indizien des kulturellen Verfalls hinter sich gelassen hat, ein Utopia ohne Ehescheidung und Bildungsferne, ohne Drogen und Kriminalität, einen Paradiesgarten, in dem alle verbotenen Früchte hängen bleiben. Eine solche Geschichte ist so schlecht, unplausibel, unlebendig und falsch, dass selbst ein Disney oder Spielberg nicht in der Lage wäre, sie zu irgendetwas Anschaulichem aufzumöbeln. Diese tote Vorstellung beschreibt allein für sich kein Paradies, sondern nur vor dem Hintergrund ihres Gegenteils.
Ob wir kultiviert handeln oder nicht ist nicht daran messbar, ob es Ehescheidungen, Kriminalität und Schulversagen gibt oder nicht, sondern wie wir gesellschaftlich damit umgehen, dass es all das gibt. Aus diesem Stoff ist Kultur.
In diesem Sinn ist Huntington Hinweis auf Roosevelt doppeldeutig, der gesagt haben soll:
»Der eine absolut sichere Weg, diese Nation in den Ruin zu stürzen, ja ihr jede Möglichkeit zu nehmen, als Nation weiterzubestehen wäre, sie zu einem Sammelsurium zankender Nationalitäten werden zu lassen.«
Diese Aussage kann man in zwei Richtungen verstehen, sie kann sagen wollen, veranstaltet etwas anderes als Gezänk oder sie kann sagen wollen sperrt Verschiedenheit aus. Huntington, sonst ein Demokrat, kippt in dieser Frage in die rechte Ecke.
„In den neunziger Jahren ließ die Führung der USA diese Entwicklung nicht nur zu, sondern förderte mit Fleiß die Verschiedenartigkeit anstelle der Einheit des Volkes, das sie regierte. Die Machtinhaber anderer Länder haben, wie wir sahen, manchmal versucht, ihr kulturelles Erbe zu verleugnen und die Identität ihres Landes von der einen Kultur zu einer anderen zu verschieben. Bis heute haben sie damit in keinem einzigen Fall Erfolg gehabt, vielmehr haben sie schizophrene, zerrissene Länder geschaffen. Die Multikulturalisten in Amerika verwerfen auf ähnliche Weise das kulturelle Erbe ihres Landes. (...) Die Geschichte lehrt, daß ein so beschaffenes Land sich nicht lange als kohärente Gesellschaft halten kann.“
Zwei Seiten von Identität
Wir stehen also vor zwei im Grunde sehr unterschiedlichen Feldern, auf denen Identität eine Rolle spielt, grob gesagt vor Vielfalts-Erzählungen und vor Kriegsgeschrei. Einmal geht es um plurale Orientierungen auf einem sehr weiten Feld von Möglichkeiten, Situationen und Menschen, vielleicht jahrzehntelangen persönlichen Geschichten, in einer Welt, die zugleich erlebt und als Selbsterfindung geschaffen werden muss, die dicht und plausibel ist im Erzählen und im Erleben und auf der anderen Seite geht es um ein Feld der Ab- und Ausgrenzungen, der Legitimation von Gewalt, der Umwidmung von Aggression, die den Anderen zunehmend als Feind aufbaut und das Gespräch mit ihm abbricht und auf dem das Selbst hinter der Identität mit seinesgleichen zu verschwinden beginnt, um gedeckt von Gruppen losschlagen zu dürfen. Und auch diese Ebene ist nicht weniger dicht und plausibel, aber in einer ganz andersartigen Erzählung, im „Schema von Aktion und Reaktion, Druck und Gegendruck“, das Huntington nur angedeutet hat, ohne es wirklich weiter zu verfolgen.
Kulturelle Identität scheint da eine komplexe Gestalt anzunehmen, wo sie gerade nicht praktisch zur Selbstrechtfertigung und bei der Gruppenbildung in Anspruch genommen wird.
Ich vermag nicht zu sagen, ob diese Seite von Identität ohne die andere zu haben ist. Ließe sich von Identität überhaupt reden, die nicht etwas formiert, d.h. auf etwas bestimmtes beschränkt und etwas anderes ausschließt? Die Markierung des Nicht-Identischen als Objekt eines (aggressiven) Ausschlusses ist schon für Hegel der eigentlich identitätsstiftende Akt. In Hassdynamiken ist es einigermaßen offensichtlich der Bruch der großen Verbote, die Schaffung eines Außenraums, in dem sie nicht gelten und in dem das Verbotene erlaubt ist, ist es die schuldbelastete Verabredung zum Einsatz von Gewalt, der die Rituale des Treueschwurs, der unverbrüchlichen Einheiten und dergleichen, der Geheimniswahrung, der die Bildung von Gemeinschaften als Einheiten mit bestimmter Identität, der Verräter, Feinde, Fremden und Wertlosen heraufbeschwört.
Und wenn man etwas unparteiischer hinschaut, bemerkt man, dass das nicht nur in Hassdynamiken wie den von Huntington auf dem Balkan angesprochenen so ist, sondern dass die Festigkeit gesellschaftlicher Ordnungen, ihr Undynamisches, das worauf mit der größten Selbstverständlichkeit auch in der freiheitlichsten Demokratie gepocht wird, das Sonderrecht des Einheimischen vor dem Fremden, aus dem selben Holz geschnitzt ist, aus kultureller Identität.
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