Der Diskurs der Besorgten
Michael Seibel • Michael Seibel - Was berechtigt eine Sorge? (Last Update: 28.10.2015)
Bevor
ich auf die Sorgen zu sprechen komme, die der Zustrom von Asylanten
in Deutschland bei vielen auslöst, muss ich einige grundlegende
Bemerkungen machen, die Zustimmung und Ablehnung in
Diskursen betreffen.
Zustimmung und Erfahrung in
Diskursen
Was
wir von der Gesellschaft und über die Welt wissen, in der wir
leben, wissen wir zum Teil aus eigener Anschauung und zu einem
anderen Teil vom Hörensagen aus Medien. Man kann streiten,
welcher Teil der größere ist. Meist ist zu lesen, der Teil
des Wissens, den wir aus Massenmedien beziehen, sei der bei weitem
größere. Andererseits scheint Wissen aus eigener
Anschauung (das 'Dabei-Gewesen-Sein') eine höhere Dignität
zu haben.
Zweifellos
sind beide, unsere eigenen Anschauungen und medial vermittelte
Nachrichten aufs engste miteinander und mit unserem Erleben
verbunden, haben Anteil an unserer Erfahrung und fließen in
unsere Urteilsfindung, unseren Willen und unsere
Handlungsbereitschaft ein.
Aber
selbst das 'Dabei-Gewesen-Sein', das Wissen aus eigener Anschauung,
ist keine Garantie für besondere Authentizität. Wer bei
einem gut gemachten Rockkonzert dabei war, hat möglicherweise
eine faszinierende mediale Inszenierung erlebt, aber kein Leben, das
wahrer wäre als der Kopfschmerz am nächsten morgen. Das
Erlebnis des Rockkonzerts ist nicht wahrer, sondern interessanter als
der Kopfschmerz.
Ist 'interessant' gleich 'real' ?
'Interessant'
ist der Wert, den jegliche Nachricht haben muss, um Gehör zu
finden, sei es die intimste Nachricht im Gespräch zweier
Menschen, sei es deren virale Verbreitung im Internet, sei es die
publizistische Nachricht in Massenmedien. Ist sie uninteressant, dann
hat sie keinen Nachrichtenwert. Und je nachdem, um was für eine
Art von Diskurs es sich handelt, sind es ganz unterschiedliche
Merkmale, die eine Nachricht interessant machen. Im Fachgespräch
zweier Physiker wird etwas anderes auf Interesse stoßen als
beim Verkaufsgespräch in einem Möbelgeschäft oder bei
der Lektüre einer Tageszeitung.
Es
wird immer wieder auf die Rekursivität der Medien hingewiesen,
dass über kurz oder lang das zu unserer Realität wird, was
uns als Nachricht vorgeführt wird, auf die sich wieder neue
Nachrichten beziehen. Uns ist real, worüber ständig als
über etwas Reales gesprochen wird, was fortdauernd als real in
Diskursen erscheint. Sicher werden auch Märchen erzählt,
und selbstverständlich gab und gibt es explizit Diskurse mit
fiktionalen Inhalten. Aber ein Reales, das nicht in Diskursen als
solches anerkannt wird, ist nicht vorstellbar.
Der
Asylant ist in diesen Sinn ein Diskurs.
-
Was sage ich da? -
Ein
Asylant ist doch kein Diskurs. Ich treffe Asylanten persönlich.
Im Augenblick ist die ehemalige Mannesmann-Zentrale
Erstaufnahmeeinrichtung. Ich sehe fremde Kinder auf der Straße
Fußball spielen. Fröhliche kleine Jungen. Man hat ihnen
Gummibälle geschenkt. Ich sehe Menschen und keine Diskurse. Ich
sehe zunächst nicht, was sie von einem Einheimischen im
geringsten unterscheidet. Sie sind allerdings verdächtig
freundlich, aber einige schauen auch weg. Die Anzahl Unbekannter, die
grüßen, ist höher als gewöhnlich.
Auch bedingungslose 'Menschlichkeit' - ist Verhandlungssache
Mein
eigener Blick ist natürlich ebenfalls nicht voraussetzungslos.
Ich bin gewohnt, in Fremden, die mir freundlich grüßend
gegenübertreten, keine Gefahr zu sehen. Die Anerkennung, die ich
ausdrücke, indem ich sage, das sind doch Menschen und keine
Diskurse, diese Menschen sind nicht etwas, das in seinem So-Sein
davon abhängt, wie über es gesprochen wird, ist selbst Teil
eines Diskurses, nämlich der langen und bis heute nicht
abgeschlossenen Aushandlung individueller Menschenrechte. Dieser
Diskurs, der Teil meiner persönlichen und kulturellen Erziehung
ist, hat mein Verhältnis zu diesen Menschen, denen ich jetzt
gerade zum ersten mal begegne, schon bestimmt, als noch keiner von
ihnen auch nur in Sicht war, noch in irgendwelchen Medien von ihnen
die Rede war. Ich stehe ihnen also vollkommen kritiklos gegenüber.
Und das finde ich ebenso richtig, wie einem neugeborenen Kind
vollkommen kritiklos gegenüberzustehen.
Selbstverständlich
bin ich nicht naiv. Sollte ich nachts überfallen werden, wäre
das durch keine Menschenfreundlichkeit gedeckt und der Angreifer
würde aus mir sogleich seinen Feind machen. Es würde jedoch
keine Rolle spielen, ob der Angreifer ein Asylant oder ein
Einheimischer wäre.
Grund für Asyl ist nicht 'Übereinstimmung' mit Asylanten
Und
ebenso wenig naiv bin ich in einer weiteren Hinsicht. Wenn ein
Erwachsener, woher er auch immer kommt, in Deutschland um Asyl
bittet, gehe ich keinesfalls davon aus, mit ihm in irgendwelchen
Überzeugungen übereinzustimmen. Möglicherweise ist er
ein Befürworter der Scharia. Ich weiß es nicht. Ich kenne
ihn nicht. Aber es ist auch nicht der Glaube an die Übereinstimmung
seiner und meiner Überzeugungen, aus dem heraus ich dafür
bin, ihm Asyl zu gewähren, sondern es ist einzig und allein
meine eigene Überzeugung, dass verfolgtes Leben zu schützen
ist. Und dass es meine Überzeugung ist, heißt nicht, dass
ich mich für den genuinen Erfinder dieser Überzeugung
halte. Ich teile vielmehr diese Überzeugung. Ich führe eine
Tradition fort, einen Diskurs, der vor mir begonnen hat und sich
ständig verändert.
Der
Satz: 'Der Asylant ist doch kein Diskurs, er ist zu allererst ein
Mensch' ist selbst Teil eines Diskurses, einer langen
Erziehungsgeschichte und einer noch viel längeren politischen
Geschichte und Geistesgeschichte, Ziel brutalster Unterdrückung,
aber auch Teil aktueller Streitgespräche, etwas, dass in Medien
präsentiert werden muss, wenn wieder die Rede davon ist, der
Asylant sei kein Mensch, sondern eine Gefahr, die man loswerden muss.
Das
Bestehen auf voraussetzungsloser Akzeptanz im Satz 'Er ist ein
Mensch' ist also selber alles andere als voraussetzungslos. Es
ist eine Errungenschaft. Sie hat ihren Weg ins deutsche Grundgesetz
gefunden, denn der grundsätzliche Rang, der jedem Individuum vor
der eigenen Gruppe oder Volksgemeinschaft gegeben wird, verarbeitet
die Erfahrung faschistischer Herrschaft, verklärt aber auch
janusköpfig die Ideologie persönlicher Leistung im
Kapitalismus.
Es
ist praktisch unmöglich, all die Kontexte und Nebenklänge
zu überblicken, in die man sich mit seinen Überzeugungen
begibt. Aber das scheint mir charakteristisch für jede
Selbstbestimmung, für jedes eigene Auftauchen aus Diskursen.
Chilons Aufgabe - Erkenne dich selbst - stellt sich heute auch
von dieser Seite her. Entwirre die Voraussetzungen deines eigenen
Denkens!
Der
Asylant ist ein Signifikant in Diskursen
-
also zurück -
Der
Asylant ist ein Signifikant im Diskurs oder genauer, in sehr
vielen unterschiedlichen Diskursen. Alles, was man über jemanden
sagt, wenn man ihn einen Asylanten nennt, bezieht seine Bedeutung aus
Diskursen. Ebenso alles, was man ihm zuspricht, wenn man über
ihn sagt, er sei zu allererst ein Mensch. Und ein Asylantenheim würde
wahrscheinlich von niemandem angesteckt, wenn es nur ein Gebäude
ohne Bedeutung wäre.
(Es wäre allerdings auch als Gebäude
nie sinnlos gebaut worden. Man findet nie reine Dinge. Aus Diskursen
schert nur das Uninteressante aus.)
Nun
variieren manche Diskurse ihre jeweiligen Themen sehr stark, andere
arbeiten mit weit geringeren Bedeutungsvariationen, bestehen geradezu
darin, Bedeutungsvarianten möglichst stillzustellen, um
Eindeutigkeiten zu produzieren und verändern ihre gültigen
Bedeutungsvariationen nur sehr langsam. Unterschiedliche Diskurse
existieren nebeneinander. Man kann nicht voraussetzungslos von einem
in den anderen wechseln. Wissenschaftliche Diskurse bemühen sich
um möglichst unveränderliche Bedeutungen, selbst wenn sie
ständig neue 'Ergebnisse' produzieren. Diskurse via Massenmedien
und Internet versuchen meist im Gegenteil, Bedeutungen in Bewegung zu
versetzen und zu halten und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
So
taucht der Begriff Asylant in Publizistik und
Medienöffentlichkeit in einer extremen Bedeutungsbreite auf. Wie
der Blick auf einschlägige Google Suchergebnisse zeigt, kann ein
Asylant in medialen Diskursen vieles sein. Im juristischen
Diskurs ist seine Bedeutung entschieden enger gefasst, aber auch hier
nie ganz stillgestellt. Aber auch juristische Diskurse haben eine
gewisse Breite an Bedeutungsmöglichkeiten, sonst würden sie
aufhören, überhaupt Diskurse zu sein. Über etwas zu
sprechen, das völlig eindeutig ist, ist streng genommen
unmöglich. Man muss zumindest unterstellen, dass die Rede für
den, an den sie ergeht, irgendeinen Mitteilungswert hat und sei es
auch nur der, dass er durch sie in einer Ansicht bestätigt wird,
die er bereits hat. Sie erzeugt dann den Unterschied zwischen einer
bestätigten und einer unbestätigten Bedeutung.
Unterschiedliche
Diskurse stellen unterschiedliche Anforderungen an Realitätsprüfung,
Beweis oder Wiederholbarkeit durch andere. Soweit ich sehe, sehen
alle Diskurse die Zustimmung anderer als Prüfungsmöglichkeit
vor. Sehr unterschiedlich sind jedoch die Regeln, die festlegen,
aufgrund von was mit Zustimmung zu rechnen ist.
Die fiktive
Schulklasse
Als
Beispiel diene eine fiktive Schulklasse, in der das Tragen einer
bestimmten Marke von Sneekers gerade ein Muss ist. Das Beispiel
scheint einfach genug, da es kaum Geschichte auf Seiten aller
Beteiligten voraussetzt und die Diskurse, die beim Zustandekommen
dieser Mode in einer Schülergruppe eine Rolle spielen, dadurch
überschaubar sind. Es hat Vorbilder gegeben, über die
gesprochen wurde. Man wird sich durchaus auch reflektierend darüber
verständigt haben, was an den Vorbildern beeindruckend war und
bewundernswert. Es wird möglicherweise zu Serien von Geschichten
gekommen sein und zu einer sich stabilisierenden phantastischen
Umgebung für des Geschehen in der Gruppe, das die
Gruppenmitglieder verbindet, und nur von innerhalb der Gruppe
erlebbar ist, weil man Teil der Gruppe sein muß, um miterleben
zu können, was es heißt, ein bestimmtes Idol zu verehren.
Sollten die Sneekers mit der bewunderten Person, ihren Leistungen und
Lebenssituationen in Verbindung gebracht worden sein, so kann das
Tragen dieser Sneekers zugleich Zustimmung und Partizipation
gegenüber den Objekten der Bewunderung ausdrücken und der
Träger darf seinerseits von den anderen, die ebenfalls am
bewundernden Diskurs teilnehmen, Bestätigung erwarten, wenn er
Sneekers der betreffenden Marke trägt.
Bemerkenswert
scheint mir auch zu sein, dass diese die Gruppe vereinigende
Bewertung auch trotz größerer Unterschiede der bisherigen
Erziehungserfahrungen der Kinder möglich ist. Es passiert also
durchaus etwas Neues, das nicht einfach als Produkt der elterlichen
Erziehung angesehen werden kann oder als deren sinngemäße
Fortschreibung. Es scheint durchaus nicht erforderlich zu sein, das
Netz der Kommunikationen jedes einzelnen Schülers bis in dessen
Frühkindheit zurückzuverfolgen, um die plötzliche
Marken-Begeisterung zu verstehen.
Gegen
den Vorgang ist wenig zu sagen. Man teilt einen bestimmten Geschmack
und erlebt Zustimmung. Etwas Akzidentielles wird Erkennungszeichen.
In diesem einfachen Rahmen lassen sich alle möglichen Urteile
über die Innen- und die Außenwelt der Gruppe fällen,
ohne dass es einer weiteren Realitätsprüfung bedürfte.
Damit kann jemand verächtlich werden, einfach, weil er die
entsprechenden Sneekers nicht trägt.
Und
machen wir uns nichts vor, in diesem Kontext ist er wirklich
verächtlich, zumindest ebenso wirklich, wie in meiner
diskursiven Welt ein Asylant wirklich und grundsätzlich
ein verfolgter Mensch ist, der Schutz verdient.
Damit
sage ich nicht, dass beide Standpunkte auch nur im geringsten
gleichwertig sind. Aber es wäre falsch, dem infantilen Diskurs
vorzuhalten, dort werde Zustimmung ohne entsprechende Prüfung
erwartet, nur, weil er auf andere Weise prüft als ein
Wissenschaftler seine Experimente oder ein Richter seine Beweise.
Faktencheck, Kompetenz und Zustimmung
Es
erfordert Qualifikationen, einen medizinischen Diskurs zu führen,
andere, an einem juristischen angemessen teilzunehmen, aber auch, um
mit seiner 10-jährigen Tochter kompetent über Sneekers zu
reden oder mit einem Populisten über Asylanten. Und es führt
zu nichts, als Außenstehender dem Eingeweihten seine
Diskurskompetenz abzusprechen. Das macht man weder mit seinem Arzt
oder seinem Anwalt, noch mit seiner Tochter. Warum sollte das
gegenüber einem Populisten funktionieren?
Und
im Grunde will man nicht in seinen Diskurs eintreten, um ihn immanent
eines Besseren zu belehren, wie es die zu versuchen scheinen, die
bemüht sind, Populisten mit Fakten zu konfrontieren nach dem
Schema: Behauptet wird: Asylanten vergewaltigen vermehrt deutsche
Frauen. Fakt ist: es tritt keinerlei Häufung in diese Richtung
auf. Also unterlasst die Behauptung!
Das
Schema funktioniert deshalb nicht, weil es denen, die solche
Behauptungen aufstellen, nicht um die Zustimmung derer geht, die sie
widerlegen.
Bei
näherer Hinsicht zielt der Faktencheck auch nicht darauf ab, den
Populisten durch Widerlegung zur Umkehr zu zwingen, sondern darauf,
ihn aus dem eigenen Diskurs und der Gemeinschaft derer, die daran
teilnehmen, auszuschließen.
Dass
wir als Menschen alle über die selbe Vernunft verfügen, wie
Kant meinte, heißt selbst wenn es zutreffen sollte, nicht, dass
es im Grunde nur einen einzigen Diskurs gibt, dessen Argumente jedem
zwingend erscheinen. Ich glaube auch nicht, dass man sich auf die
Position zurückziehen kann, dass wir im Grunde alle über
die selbe Rationalität verfügen und dass es vor allem
deshalb zu Missverständnissen kommt, weil wir gewohnt sind,
unsere Eigeninteressen zu verschweigen oder zu beschönigen,
sodass wir, wären wir nur frei genug davon, uns in kantischer
Manier einigen könnten. Ich würde dafür plädieren,
Populisten weder für primär verlogen, noch für primär
verblödet zu halten.
Was
tut man, wenn man einem Populisten vorhält, dass Asylanten
deutsche Frauen nicht in höherem Maß vergewaltigten als
deutsche Männer das tun? Man konfrontiert ihn mit Fakten. Man
sieht sich berechtigt und verpflichtet, ihm den Gebrauch des
unsachlichen Arguments zu verbieten, weil in dem Diskurs, den man
selbst favorisiert, Argumente nach bestimmten Regeln verifiziert
werden müssen und weil man sich im eigenen Diskurs an das Gebot
gebunden fühlt, sachlich falsche Argumente nicht zu verwenden.
Warum
nun sollte sich der, der sich aus unserer Sicht benimmt wie ein
unverbesserlicher Lügner, dem Verbot unterwerfen, das mich
selbst bindet? Doch wohl vermutlich aus einem ähnlichen Grund,
aus dem ich selbst mich diesem Verbot unterwerfe.
Und erneut ruft
Chilon mir (und nicht ihm) zu: Erkenne dich selbst! Was ist denn dein
Grund? Was bindet dich?
Wir führen nicht den selben Diskurs
Soweit
es um Zustimmung geht, zählt allein das, wodurch Zustimmung
erreicht wird. Im mir vertrauten Diskurs ist ohne bestimmte Formen
der Prüfung, deren nicht immer unaufwendige die ist, ob
Tatsachenbehauptungen richtig sind, kaum Zustimmung zu erwarten. Im
Dialog des Lügners, der Falschmeldungen in die Welt setzt, ist
das offenbar anders. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob der
Demagoge und ich überhaupt in ein und denselben Diskurs
auftauchen, wenn wir z.B. beide unsere Meinung im Internet
veröffentlichen. Auf eine Google-Anfrage hin wird man beide
Statements nachgewiesen bekommen, ganz so, als handele es sich um
einen einzigen Diskurs, in dem zwei Diskutanten zwei
grundverschiedene Positionen vertreten. Da die Diskursregeln, denen
er folgt, jedoch andere sind als die, denen ich selbst folge, spricht
alles dafür, dass es sich um zwei verschiedene Diskurse handelt.
Um
derlei Fragen, ist es ein Diskurs oder sind es zwei verschiedene
Diskurse, wird auch anderswo gestritten. Man denke nur an die
Debatten um die Frage, ob die Psychoanalyse eine Wissenschaft ist
oder nicht, die nichts anderes ist als solch ein Streit. Den
wesentlich langwierigeren und nachhaltigeren Streit kennt man bei der
Frage, ob Religion und Naturwissenschaften einen gemeinsamen Diskurs
führen oder nicht. Dieser Streit ist längst einvernehmlich
entschieden. Sie tun es nicht.
Zustimmung und Diskurs-Macht
Bei
solchen Streitigkeiten geht es nie nur um Meinungen, sondern um
Machtverteilungen. Die Abspaltung eines Diskurses (z.B. der
Wissenschaften von der Religion) muss als Machtverlust aufgefasst
werden, der Versuch eines Diskurses, der offenbar anderen Regeln
folgt, möglichst nicht als anderer erkannt zu werden, sondern
als zugehörig, stellt im Gegenteil den parasitären Versuch
dar, einen Teil von dessen Macht für sich zu reklamieren.
Es
ist in der Tat für Populisten nicht günstig, als irrational
dazustehen, wenn die Mehrheit der Öffentlichkeit und vor allem
Schlüsselstellen der Publizistik sich bestimmten Formen der
Realitätsprüfung verpflichtet sehen. Es zeichnet den
Populisten andererseits aus, dass er offensichtlich auf einem ganz
anderen Feld zustimmungsfähig ist. Ich halte mich noch zurück
damit, diesem zweiten Feld einen Namen zu geben, bevor ich es nicht
etwas deutlicher vorgestellt habe.
Alarm und Sorge
Jedenfalls
ist eine Kompromissbildung zu erkennen, die in der Öffentlichkeit
folgendem Argumentationsmuster folgt:
1.
Es trifft zu, dass Asylanten nicht signifikant öfter blonde
deutsche Frauen vergewaltigen als deutsche Männer das tun...
2.
aber wie können wir sicher sein, dass das so bleibt, wenn mehr
Ausländer kommen?
Der
populistische Diskurs konfrontiert uns typischerweise mit einem
Doppelgesicht von Alarm und Sorge.
Und
zwar mit einer bestimmten Form diese rhetorischen Figur, denn die
Ansprache über Alarm und Sorge selbst ist neben dem
Unterhaltungsangebot eine der Grundvarianten der öffentlichen
Rede, der Rhetorik und Publizistik, die sie z.B. vom
wissenschaftlichen Diskurs unterscheidet, der grundsätzlich
weder alarmistisch ist, noch Sorge thematisch macht.
Spezifisch
für den Populismus ist jedoch, dass er in endlosen
Wiederholungen und Kreisungen in sich selbst die Prüfungsformen
hintergeht, die wir gewohnt sind, mit dem Prädikat rational
zu versehen, bevor wir es zur Zustimmung kommen lassen.
Ein
Blick auf die populistische Wendung:
… es
muss erlaubt sein zu sagen...
Dazu
ein eindeutiges Ja, die Meinungsfreiheit erlaubt, fast alles
zu sagen.
Und
gleich hinterher ein ebenso eindeutiges Nein, der rationale
Diskurs erlaubt es nicht, ständig etwas zu wiederholen, dass
falsch ist.
Und
sogleich der Schwenk zurück: Ja, der Diskurs der passiven
Sorge erlaubt es nicht nur wieder, er erzwingt es geradezu. Man kann
dem Hypochonder nicht verbieten, sich für todkrank zu halten.
Ich
zitiere also einige Sorgen.
"Ich
will nicht Schulen erleben, wo Eltern Angst haben müssen, wenn
ihre Kinder Schweinefleisch zum Frühstück mitbringen. Wir
müssen unsere Identität behalten."
"Es
ist sicher nicht jeder Muslim ein Terrorist."
"Eltern
fragten sich, ob Hunderte Männer in den Turnhallen von Schulen
eine Bedrohung für ihre Kinder sind. Die Angst ist da."
"Es
gebe bereits "Banden von Asylanten", die das Asylrecht
kriminell missbrauchten“
„Ich
habe die Sorge, dass wir mit der Integration von Asylanten an einen
Punkt kommen, an dem wir überfordert sind.“
Frage:
was berechtigt eine Sorge?
Das
hängt davon ab, in welchen Diskurs man nach der Berechtigung
fragt. In populistischen Diskursen erscheint eine Sorge durch die
Zustimmung der Besorgten berechtigt.
„Finden
Sie nicht auch, dass...?“
Solche
Aussagen sind nicht mit einer Art Faktencheck zu erledigen, wenn sie
längst auf eine Weise Zustimmung gefunden haben, die der
Zustimmung zu den Sneekers meines Lupus ex fabula vergleichbar ist.
Es handelt sich in der Tat um ein Geschmacksurteil, das Gefallen und
Missfallen zum Thema hat. Und das ist so weit von jeder Beliebigkeit
entfernt, wie es nicht ins Belieben des einzelnen Schulkindes aus
unserem Beispiel gestellt ist, ob es eine bestimmte Sneekersmarke
goutiert oder nicht. Sein Geschmacksurteil ist insofern nicht
beliebig, als es an die Teilnahme an bestimmten Diskursen geknüpft
ist.
Um
die dabei obwaltende Notwendigkeit nachzuvollziehen, bedarf es etwas,
das Nietzsche eine Genealogie der Sorgen genannt haben würde.
Denn
es stellt sich die Frage: Was ist eine Sorge?
Heidegger
Niemand
hat innerhalb der Philosophie der Sorge eine grundlegendere Rolle
eingeräumt als Heidegger in Sein und Zeit. Für
Heidegger sind wir Menschen ganz grundsätzlich besorgte Wesen.
Er hat in der Sorge eine Grundbefindlichkeit des Daseins (ein
Existential) gesehen. Unser Dasein ist durch
das In-der-Welt-sein bestimmt. Alles, was der Mensch tut, denkt und
hofft, ist bezogen auf die Welt, in der er lebt und aus der er die
Bedingungen und Möglichkeiten seiner Lebensgestaltung schöpft.
›Sorge‹ ist für ihn die konstitutive Grundstruktur
des menschlichen Daseins und nicht einfach nur ein Gefühl, Sorge
ist die » Ganzheit des
Strukturganzen des Daseins «,
so Heidegger in Sein und Zeit (§
39).
Aber für Heidegger
ist die Sorge gerade darin nicht etwas Passives, und es geht der
Sorge nicht darum, die Schuld an der Ausgesetztheit und Endlichkeit
des eigenen Daseins auf andere abzuschieben. Sie ist wesentlich in
die Zukunft vorlaufende Entschlossenheit oder Selbst-ständigkeit.
»Das
Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge [. . . ] Der Ruf des
Gewissens, das heißt dieses selbst, hat seine ontologische
Möglichkeit darin, dass das Dasein im Grunde seines Seins Sorge
ist.« (Heidegger, Sein und Zeit § 57)
Ganz
alltäglich würde, wer sich Sorgen macht, dass das Dach
seines Hauses undicht sein könnte, sein Dach einer Inspektion
unterziehen oder, falls er sich damit überfordert fühlt,
einen Handwerker beauftragen. Wer sich nicht wohl fühlt und sich
sorgt, krank zu sein, der würde zum Arzt gehen, von dem er
Diagnose und Therapie erwartet. Wessen Kind Schwächen in einem
Schulfach zeigt, wird, falls er sich deshalb Sorgen macht, versuchen,
Hilfestellungen zu geben.
Wer
sich konkrete Sorgen macht, wird also normalerweise bestrebt sein,
das Problem zu verstehen und Abhilfe zu schaffen. Er wird nicht auf
einen Zustand hinarbeiten, der den Anlass seiner konkreten Sorge
verewigt. Er wird zum Gegenteil eines Bedenkenträgers. Wenn man
Heideggers Maßstab anlegt, wird man sagen, er wird die Sorge
annehmen und Verantwortung übernehmen, offen und nicht aus einer
Festungsmentalität heraus.
Daraufhin
lohnt es, die mitgeteilten Sorgen durchzusehen.
Äußerungen
wie "Es ist sicher nicht jeder Muslim ein Terrorist"
ist abstrus und beleidigend. Steckt dahinter wirklich die Sorge, der
eine oder andere Asylant könnte ein Terrorist sein? Würde
hinter dem strukturgleichen Satz „Nicht jeder Papst ist ein
Kinderschänder“ wirklich eine Sorge um Kindeswohl
stecken oder erschöpft sich solch eine Aussage nicht in der
beleidigenden Absicht?
"Ich
will nicht Schulen erleben, wo Eltern Angst haben müssen, wenn
ihre Kinder Schweinefleisch zum Frühstück mitbringen. Wir
müssen unsere Identität behalten."
Ist,
wer so redet, besorgt oder nicht? Sagt der: „Ich habe Angst,
wenn meine Kinder Schweinefleisch zum Frühstück
mitbringen“? Dann wäre die nächste Frage, geht es ihm
darum, ein Problem zu erkennen und zu lösen? Gibt es eine
Realitätsprüfung und wie sieht die aus? Könnte man
also gemeinsam durch die Schule gehen und konkrete Gefährdungen
identifizieren, um diese dann abzustellen? Oder werden phantastische
unbetretbare Räume in der Phantasie und im Diskurs geschaffen,
Orte, an die man nicht gehen darf, gefährliche Orte, Orte der
Ausgrenzung?
Der
Widersinn solcher Orte ist da am größten, wo die dorthin
Ausgeschlossenen, die Gettoisierten auch noch für die Tatsache,
dass es Gettos gibt, verantwortlich gemacht werden.
Sperrzonen
Plötzlich
hat man in Duisburg oder Dortmund Zigeunergettos, in die niemand
ziehen will, weil sie durch die Zigeuner heruntergekommen sind. Sie
sind es, die nicht aufräumen, die Grundstückspreise
versauen und übergriffig werden. Es sind also die
Ausgeschlossenen, die sich selbst ausschließen. Das ist die
ständig wiederholte Formel eines ausländerfeindlichen
Populismus.
Inhalt
der zugehörigen Form von Sorge ist es, Freiheitsräume nicht
mehr betreten zu können, unfrei und passiv zu sein und –
hier schreit dann alles nach Aktion – , diese Grenze
durchbrechen zu müssen.
Wollen wir das als Sorge gelten lassen?
Nochmals
der Vergleich mit dem möglicherweise undichten Dach: Der
ausgrenzende Populismus verhält sich, als dürfe man das
Dach von dem Moment an, in dem man ein Loch vermutet ohne Genaueres
zu wissen, nicht mehr betreten. Es könnte am Ende ja wirklich
ein Loch haben. Es zu betreten, könnte demnach gefährlich
sein. Man könnte stürzen. Man muss es sperren. Schlimmer
noch: Am Ende wird behauptet, jemand habe hinterhältig und
unablässig Regen aufs Dach gekippt und dafür gesorgt, dass
das eigene Dach zum No-Go-Area wird. Jetzt endlich sei man erwacht
und habe es bemerkt. Es sei nicht fünf vor zwölf, sondern 5
Uhr 45.
„Eltern
fragten sich, ob Hunderte Männer in den Turnhallen von Schulen
eine Bedrohung für ihre Kinder sind. Die Angst ist da."
OK,
lasst uns die Verhältnisse anschauen und zu einem Urteil kommen.
Wenn das stimmen sollte, wohin dann mit den Hunderten von Männern?
Eine Antwort darauf gehört dann mit zur Lösung. Weg damit!
… ist keine Antwort.
Oder
doch? Selbst bei Zigarettenkippen haben wir uns daran gewöhnt,
dass man sie nicht einfach auf die Straße schmeißt, weil
wir uns in einem geradezu Heideggerschen Sinn um Sauberkeit sorgen.
Weg
damit! … ist ein eindeutiges Zeichen, dass unsere Sorge
beendet ist.
Zwei
Kriterien für Sorgen, die keine sind, sondern nur aufgewärmtes
Ressentiment, hätten wir:
1.
sich sorgen, ohne zu besorgen, ist keine Sorge und
2. die Kurzformel:
weg damit! Steht dafür, dass jemand sich definitiv keine Sorgen macht.
Das
erste dieser beiden Kriterien kennzeichnet die faktenresistente
Zirkularität des Ressentiments, die zweite die Schwelle zur
aggressiven Aktion.
weiter ...
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