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Welche Grenzen hat das Recht auf Asyl?

Michael Seibel • Michael Seibel: Auf der Suche nach einer Zahl   (Last Update: 10.10.2015)

Es wird gesagt, die Möglichkeiten Deutschlands, Flüchtlinge aufzunehmen, seien begrenzt. Selbstverständlich sind alle Ressourcen begrenzt. Selbst Wasser und Luft. Die Aussage wird erst dann zu einem Argument, wenn man begründete Angaben darüber macht, wo die Grenzen liegen und warum sie dort liegen.

Wie viele Asylanten kann Deutschland also aufnehmen?

Offensichtlich hängt eine mögliche Antwort darauf nicht allein von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ab, sondern stellt zugleich die Frage nach der Verteilung der Wirtschaftsleistung.


einerseits ...

Ein Standpunkt kann sein – und viele Menschen nehmen ihn ein – dass Fremde generell das Zusammenleben einer bestehenden Nachbarschaft stören. Wird dieser Standpunkt zur Grundlage gemacht, kann die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit so erheblich sein, wie sie will, bereits der erste Asylant wäre ein Asylant zu viel.


andererseits ...

Das gegenteilige Extrem wäre ein gelebtes striktes Gleichheitsideal. Es könnte der Maxime folgen, dass es letztlich keinen Grund gibt, der rechtfertigen kann, dass jemand unter schlechteren Bedingungen zu leben gezwungen ist als ein anderer. Dieser extrem egalitäre Standpunkt würde nicht nur politisches Asyl anbieten, sondern auch wirtschaftliches, weil es keine guten Gründe gibt, von einem Menschen zu verlangen, er dürfe nicht anstreben, seine Lebensverhältnisse zu verbessern, solange andere wesentlich auskömmlicher leben.


Leistungsfähigkeit am Bruttosozialprodukt gemessen

Unser Bruttosozialprodukt liegt bei mehr als 3,7 Billionen USD und verteilt sich auf ca. 80 Mio. Einwohner, also fast 50.000 USD/Einwohner/Jahr. Die Türkei etwa kommt kaum auf 12.000 USD/Einwohner/Jahr. Das deutsche Bruttosozialprodukt würde also für gut 300 Mio. Menschen reichen, ginge es einzig um ein striktes Menschenrecht auf Gleichheit. Diesen radikalen Standpunkt nimmt niemand ein. Er reicht allerdings, um zumindest gedanklich einen gewissen Abstand zu der These einzunehmen, wir könnten nicht alle 60 Millionen Menschen aufnehmen, die gegenwärtig auf der Welt auf der Flucht sind. Wir können sehr wohl.
Ein Asylrecht für alle ist rein unter dem Aspekt unserer ökonomischen Leistungsfähigkeit durchhaltbar.
Aber wir wollen nicht. Da wir es nicht wollen, sollten wir uns Rechenschaft über die Gründe ablegen, aus denen wir es nicht wollen. Einige mögen schlecht sein, andere mögen uns und anderen akzeptabel erscheinen.

Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge liegt gegenwärtig rein theoretisch irgendwo zwischen Null und mehr als 200 Millionen Menschen. Und offenbar hängt das von einer Reihe ganz unterschiedlichen Dimensionen ab, von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, den Wertmaßstäben, die wir ansetzen und – dem nachgeordnet – sicher auch von unseren praktischen Versorgungskapazitäten vor Ort.

Einige Bewertungsmaßstäbe sind:

Ein generelle Fremdenfeindlichkeit, konkrete Nächstenliebe, der Anspruch auf den Erhalt der öffentlichen Ordnung, der Anspruch auf Besitzwahrung, politisches Mehrheitsmanagement, der Einwanderungsbedarf der Wirtschaft, ein stabiles Sozialrechtssystem, das Festhalten am unbedingten Menschenrecht auf Leben oder radikaler, das Festhalten am unbedingten Gleichheitsgrundsatz

Mir ist persönlich nicht plausibel, warum das Leben durch Verhungern weniger gefährdet sein soll als durch politische Verfolgung.

Die Liste ist ergänzungsbedürftig. Aber da sie einige zentrale Begründungstypen benennt, mag sie zunächst hinreichen.

Gegen generelle Fremdenfeindlichkeit sprechen praktisch alle anderen Positionen. Selbst jemand, dem es vor allem um die Wahrung seines Besitzes geht, wird seinen Besitz im Austausch mit anderen weit effektiver wahren als durch Abschottung. Fremdenfeindlichkeit zielt nicht wirklich auf Besitzerhalt, sondern nimmt eine aggressive Position ein, in der sich der Fremdenfeind persönlich wohl und von anderen bestätigt fühlt.

Nächstenliebe, Empathie von Fall zu Fall, im Nahbereich bedingungslos, wird in der Ferne unbestimmt. Der seinen Nächsten liebt wird sagen, dass er ihm gibt, solange er es nötig findet und solange er kann. Und er wird ihm in die Augen schauen können, wenn er nicht mehr kann. Er beansprucht nicht, angeben zu können, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen kann. Fern ab jedes moralischen Rigorismus ist das offenbar Antrieb vieler Helfer, die konkret eingeschritten sind, als Flüchtlinge in Massen ankamen.


Irritierte Sozialstaatserwartungen deutscher Bürger

Irritierend wirkt dann, Flüchtlinge in menschenunwürdigen Verhältnissen zu sehen. Es ist einerseits eine Sache des Mitleids. Es ist andererseits schwer erträglich, sich selbst in einer Ordnung lebend wahrzunehmen, in der Menschen massenweise gezwungen sind, in Regen und Kälte auf der Straße zu übernachten. Diese Ordnung, auf die wir uns als Deutsche verlassen möchten, hält ihr Schutzversprechen nicht. Und diese Ordnung scheint gefährdet. Hier mag von manchen eine Grenze der Aufnahmefähigkeit gesehen werden, um den Gefährdungseindruck loszuwerden. Adäquat allerdings und bei weitem überzeugender (sowohl zur Angstbewältigung wie im Sinne realer Hilfe) wäre, zusätzliche Betreuungsmöglichkeiten zu schaffen und durchzuhalten.

Viele Grenznennungen, wenn nicht die meisten, sind jedoch Sache ambivalenter Geschmacksurteile, die um Argumente verlegen sind. Viele solcher Grenznennungen rekurrieren auf keinerlei eigenen Erfahrungen mit Flüchtlingen und bieten sich als Ziel medialer Kampagnen geradezu an. Kampagnen des Typs: Lasst uns dem Flüchtling ein Gesicht geben, um die allgemeine Akzeptanz zu erhöhen oder in gegenteiliger Stoßrichtung: Hunderte moslemischer Flüchtlinge liefern sich stundenlange Schlägereien mit Christen.


Anspruch auf Besitzwahrung

Ein mächtiges Argument ist der Anspruch auf Besitzwahrung. Es ist wahr: die Betreuung von Flüchtlingen verschlingt in jedem Fall Ressourcen, schmälert also zunächst den zu verteilenden Reichtum. Das Thema ist deshalb sensibel, weil niemand Wert darauf legt, durch Flüchtlingsbetreuung Verteilungskonflikte zu bekommen, die den Rahmen wesentlich ausweiten, in dem Steuergesetzgebung, Arbeitgeber und Gewerkschaften die sich alljährlich neu stellende Verteilungsfrage lösen und die sich im Lauf der Jahre in Gesetzesform verfestigt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass die Frage, wer die Lasten tragen soll, sensibler ist als die Frage, wie hoch die Lasten in absoluten Zahlen sein dürfen. Die Aufgabe der Flüchtlingsbetreuung aktualisiert ältere Verteilungskonflikte, die innergesellschaftlich und auf europäischer Ebene seit langem bestehen rund um die Frage offener Grenzen für Güter, Kapital und Menschen.


Eingespielte Routinen der Eigentumsumverteilung

Politik geht mit Verteilungskonflikten und nicht nur mit absoluten Kosten- und Leistungsgrößen um und ist dabei auf Wählerstimmungen, Kompromisse und Koalitionsbildung angewiesen, die es einer medialen Dauerbearbeitung unterzieht. Der Handlungsrahmen von Politik ist zugleich durch die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und durch bestehende Rechtsrahmen beschränkt. Politisch hängt die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge, da sie eine Sache von weit mehr als einer Legislaturperiode ist, stark von erreichbarer Zustimmung ab. Um sie wird täglich gestritten und sie ist wohl kaum längerfristig prognostizierbar. Ich vermag nicht sicher zu unterscheiden, ob hier überhaupt Raum für so etwas wie Grundwerte bleibt oder ob die Rede davon letztlich nur Teil der medialen Bearbeitung von Wählerstimmungen ist.


Systemträgheit im Umgang mit Asylanten

Die Aufnahmefähigkeit wird weiter begrenzt durch das Maß an bürokratischen, organisatorischen und rechtlichen Widerständen und dem sich daraus ergebenden Zeitbedarf, die der Flüchtlingsaufnahme konkret entgegenstehen, durch die Systemträgheit des Rechtsstaats. Hier auch nur näherungsweise zu sagen, welche Wirkungen etwa allfällige Genehmigungsverfahren auf die Aufnahmefähigkeit Deutschlands für Flüchtlinge haben, fehlt mir die Fachkenntnis.


Ökonomische Gründe für ein Einwanderungsgesetz

Der Ruf nach einem neuen Einwanderungsgesetz versucht, so ökonomisch richtig er in der Sache wohl ist, die Flüchtlingsaufnahme in eine ökonomische Chance umzumünzen. Weil diese Begründung rein ökonomisch ist, hat sie mit Fragen der Menschlichkeit und im Grunde mit der Flüchtlingsfrage selbst nichts zu tun. Ein Flüchtling und ein Green-Card-Einwanderer haben nichts miteinander gemein, außer dass beide Ausländer sind. Die verbindende Assoziation ist ein Ressentiment. Hier Ausländer, die Geld kosten, dort solche, die Geld bringen. Hier wird von der Politik eine Größenordnung möglicher Einwanderer um 100.000 pro Jahr angegeben und es scheint bei einer kleiner werdenden deutschen Bevölkerung nachprüfbare, diskussionsfähige Argumente für solche Zahlen zu geben.


Verfasstes Asylrecht

Für das Festhalten am unbedingten Menschenrecht auf Leben in Form des Asylrechts gibt es nur eine wirklich relevante Zahl, nämlich die Zahl der Kriegs- und politischen Flüchtlinge weltweit, bzw. derer von ihnen, die bei uns ankommen. Deutsche Politiker unterschiedlicher Lager versuchen gegenwärtig, diese Zahl so klein zu machen wie möglich, etwa in der Debatte über sichere Herkunftsländer. Das Argument, wir könnten nicht alle aufnehmen, ist nicht per se richtig.

Wir könnten es durchaus bezahlen, aber wir scheuen die damit aufkommenden Verteilungskonflikte der Deutschen untereinander.

Künftig vorstellbare Verteilungskonflikte zwischen jetzt schon sozial schlechter gestellten Menschen und Zuwanderern verschieben nur den Austragungsort des eigentlich brisanten Konflikts nach unten.



Ich sehe keine ernstzunehmenden Gründe in einer zu begrenzten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands, aus denen wir uns der Integrationsaufgabe nicht stellen könnten.


Erreichbarer Konsens

Die unbekannte kritische Größe ist der erreichbare Konsens in Verteilungskonflikten, die aufkommen, sobald die notwendigen Integrationsleistungen nicht mehr aus dem Steueraufkommen eines wirtschaftlich besonders erfolgreichen Jahres bezahlt werden können. Einsparungsopfer aus vorhersehbarer Konfliktscheu werden vermutlich die Flüchtlinge selbst und andere sozialschwache Gruppen sein, also Sozialleistungsempfänger. Man wird erneut vor wachsender Kriminalität, sozialer Kälte, ungestrichenen Schulklassen und Löchern im Asphalt warnen.

Selbst die Befürchtung, die Deutschen würden als Wertegemeinschaft durch den Islam in Frage gestellt, reflektiert noch die Ahnung, dass wir Deutschen keine so einige Wertegemeinschaft sind, wie wir es uns in Erinnerung an unser kulturelles Erbe ständig bestätigen. Unsere Einigkeit kann an genau den Stellen von außen in Frage gestellt werden, wo sie keine ist, wo wir dünnhäutig sind, das ist eher nicht in den Kirchen, sondern im Wirtschaftsleben, in Fragen des fair trade, an den Arbeitsplätzen und bei der Vermögensverteilung. All das sind Themen, bei denen wir nicht immer gute Gründe haben und für das wir ständig eine möglichst reibungslose Konjunktur brauchen, um auch mit weniger guten Gründen sozialen Frieden zu wahren.

Die Angst, dass befremdliches Verhalten von einer Kultur getragen sein könnte, ist begründet. Nur muss es keine uns fremde Kultur sein. Saufende deutsche Jugendliche sind Kollateralschäden des deutschen Kulturerbes, dass seit Jahrhunderten locker mit Alkohol umgeht. (Goethe trank bekanntlich zwei Flaschen guten Rheinweins täglich). Indem wir in den letzten Jahrzehnten die Rechte von Frauen gestärkt haben und unsere Homophobie ein Stück weit abgebaut haben, haben wir unter uns selbst bemerkt, dass Kulturkämpfe einer nicht nachlassenden Anstrengung bedürfen. Sicher kommt einiges auf uns zu, wenn wir uns jetzt auch noch dafür interessieren sollen, was unter Muslimen z.B. den Chauvinismus gegenüber Frauen verfestigt. Und unter uns: fremde Kulturen sind keineswegs immer und für jeden eine Bereicherung.

Und selbstverständlich ist die Rolle der Frau im Islam für uns weder maßgeblich, noch letztlich tolerierbar. Toleranz, dem anderen gegenüber gibt ihm nicht die Erlaubnis zum Übergriff. Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, kommen aus einer Position der Schwäche, der Verfolgung. Deutschland als aufnehmendes Land ist in der Position der Stärke. Und nichts zwingt dazu, diese Position aufzugeben, es sei denn Selbstaufgabe.


Integration ist nicht Selbstaufgabe. Ganz im Gegenteil.

Es hat mit Selbstaufgabe nichts zu tun, eine Burkaträgerin oder den Klang der arabischen Sprache neben sich zu ertragen, selbst dann nicht, wenn er wesentlich häufiger zu hören ist als bisher. Hier können wir von den New Yorkern lernen, einer Stadt, in der auf vielen Strassen fast nur noch spanisch gesprochen wird, ohne dass jemand schockiert wäre. Selbstaufgabe wäre es, wenn die sich in der Tat ungebeten stellenden Integrationsaufgaben nicht konsequent gelöst würden. Spracherwerb, Jobs, bezahlbarer Wohnraum, Teilnahmechancen am gesellschaftlichen Leben sind die Felder, die über Gettoisierung oder Integration entscheiden. Und in der Tat konsequente Strafverfolgung nicht nur von Armutskriminalität, sondern vor allem auch von rechter Gewalt.

Es gibt, wie aus Duisburg zu hören, durchaus wieder Orte, an die sich nach Einbruch der Dunkelheit selbst mancher Polizist nicht traut. Aber selbst das ist kein genuines Ausländerproblem, sondern ein Ausgrenzungsproblem, selbst wenn es in Duisburg tatsächlich Ausländer sind, die Probleme machen. Der Ruf nach mehr Polizei an diesem Ort ist diskutierbar und vermutlich richtig, aber damit allein kommt Integration nicht voran (Ohne sie allerdings wahrscheinlich auch nicht). Es verwundert, wie viel Sinn für komplexe Zusammenhänge die meisten Menschen haben, wenn es um Technik geht. Jedem ist klar, das Hunderte von Zulieferern am Bau eines Fahrzeugs beteiligt sind und dass tausende von Fragen geklärt werden müssen. Doch kaum geht es um soziale Konflikte, schnurrt der Sinn fürs Komplexe zusammen auf den Ruf nach mehr Polizei oder schärfere Richter und aufs Monitum, man müsse doch einmal auf die Probleme mit Ausländern hinweisen können, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden. Man müsse, so heißt es unter Politikern, für die „Sorgen der Menschen“, gemeint sind deutsche Wähler, Verständnis haben.

Daran ist etwas wahr. Verantwortung wahrzunehmen beginnt damit, dass man hinschaut und klar ausdrückt und bespricht, wo Handeln nötig ist, dass man Sorge trägt.
Zu bemerken und es öffentlich auszusprechen, wenn etwas im Zusammenleben mit Ausländern schief läuft, gehört in der Tat nicht in die rechte Ecke. Oft allerdings nennt sich Sorge, was aus der Nähe besehen ein Gefühl der Überforderung ist oder fremdenfeindliches Ressentiment.

Woran kann man das unterscheiden? Sorgen, die nach Lösungen suchen, haben es an sich, dass sie fähig sind, richtig zu gewichten. Überforderte Besorgnis kann das nicht und sieht sich selbst übergroß, Fremdenfeindlichkeit will das nicht. Was z.B. ist die Sorge einer Deutschen, vermehrt dem Chauvinismus arbeitsloser islamischer Jugendlicher ausgesetzt zu sein im Vergleich mit der Sorge einer Syrerin um ihre Familie im Krieg? Jemanden, dem es schwer fällt, in dieser Frage richtig zu priorisieren, würde ich als überfordert betrachten. Wenn ich dann noch bemerken müsste, dass sich diese Verletztheit und Schwäche in Gesellschaft anderer in aggressiver Pose gefällt, müsste ich von einem Ausländerfeind sprechen. War die Deutsche, die sich sorgt, je selbst von den in Rede stehenden Chauvinismen betroffen? Sie war es zumeist nicht. Und fragt man weiter, von welcher Seite im Laufe ihres Lebens ihre Rechte als Frau in Frage gestellt wurden oder von wem sie Übergriffe zu erleiden hatte, wird sie ehrlicherweise antworten, dass es deutsche Männer waren.


Aufnahmebereitschaft und Verteilungskonflikte

Wo die zahlenmäßige Grenze liegt, an der man massenhaft auf kaum zu lösende Situationen treffen würde, hängt durchaus nicht von bestehenden hohen deutschen »Aufnahmebereitschaft« und auch nicht primär von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ab, sondern von unserer Fähigkeit, zu neuen Lösungen unserer internen Verteilungskonflikte zu kommen. Denn das – und nicht Goethe unterm Kopfkissen oder das Kreuz an der Wand – ist das, was in Deutschland kultiviert oder eben nicht kultiviert ablaufen kann, ist die deutsche Leitkultur.
Wenn die Wirtschaftsleistung im guten Jahr vielleicht um 3% zunimmt und im besonders schlechten um 1 % zurückgeht, dann sind das die Größenordnungen, an deren Verteilung wir gewohnt sind. Von den anderen 98% lassen wir die Finger. Sie unterliegen außer im Katastrophenfall einem strikten Eigentumsschutz, den viele im Zweifelsfall wahrscheinlich höher bewerten als den Schutz von Asylanten.

Wenn wir die Integrationsleistungen, die zu erbringen sind, um einem Flüchtling mittelfristig in die Lage zu versetzen, selbstständig in für ihn und seine Familie befriedigenden Verhältnissen zu leben, aus dieser alljährlichen Marge finanzieren wollen, ist die Aufnahmefähigkeit für Asylanten allerdings beschränkt. Fachleute mögen genauer rechnen, ich schätze man kommt auf etwas unter eine Million Menschen jährlich.

Wir gehen Verteilungskonflikte nicht an und werden möglicherweise mehrheitlich bereit sein, grundgesetzlich garantierte Menschenrechte dafür zu beschneiden, selbst wenn wir uns in der folgenden Runde von Verteilungskonflikten nicht einmal mehr auf unsere eigenen elementaren Rechte berufen können.

Wir hätten das Recht auf Eigentum über das Recht auf Leben erhoben und über den Gedanken, dass Eigentum verpflichtet.

Aber glauben wir wirklich, die Flüchtlingsbewegung würde aufhören, wenn wir das Recht auf Asyl aus dem Grundgesetz streichen würden? An den Fluchtgründen würde das nichts ändern.

Ich habe also drei Zahlen zu bieten, die eine gewisse Plausibilität haben:

Wir können uns Null Flüchtlinge leisten oder ca. 1 Million oder sämtliche 60 Millionen Kriegsflüchtlinge der Welt. Die Wirtschaftsleistung reicht für alle drei Zahlen.

Möglicherweise sind wir viel freier, als uns lieb ist, eine dieser drei Zahlen zu wählen. Wir bestimmen dadurch, was wir sein wollen und nicht nur, wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen wollen. Die delphische Forderung: Erkenne dich selbst, ist auf diese Wahl anwendbar.


Abschreckung

Noch ein Wort zum Versuch, als Aufnahmeland ein möglichst abschreckendes Bild nach außen abzugeben: Dabei denke ich an die Fabel von den beiden Männern, die ein bissiger Hund verfolgt.
'Warum', fragt der eine, 'läufst du weg? Der Hund ist eh schneller als du.' - 'Aber ich muss doch gar nicht schneller sein als der Hund, ich muss nur schneller sein als du!'

Was will man, einfach nur nicht das freundlichste Aufnahmeland sein? Wirklich unattraktiv für Flüchtlinge ist das Land, aus dem sie geflohen sind. Will man das noch unterbieten, um sicher zu sein, dass niemand mehr kommt?


Eine Frage, die bleibt

Mir ist unklar, was uns eigentlich so wirksam davon abhält, das Tabu präzise zu bestimmen, dass wir über die Frage von Eigentum und Verteilung gelegt haben. Es ist aus der Tatsache faktisch bestehender Interessenunterschiede nicht erklärbar. Über Interessenunterschiede zu reden wäre unschwer. Auffällig ist, wie viele Deklassierte die bestehende Sozialordnung verteidigen, aber nicht wie etwas, dem man rundherum zustimmt, sondern wie eine Lüge, die man um keinen Preis zu gestehen vorhat.

weiter ...




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