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Demokratische Kontrolle

Michael Seibel •    (Last Update: 31.08.2018)

Deutschlands Form der Demokratie ist nicht die direkte Demokratie, sondern die repräsentative Parteiendemokratie, die erst am Schluss einer langen Evolution steht. Politische Sachentscheidungen, politische Regelungen und Einzelentscheidungen werden – das ist niemandem neu – von gewählten politischen Vertretern und nicht gewählter Exekutive getroffen. Das Wahlvolk trifft auf kommunaler, Landes- und Bundesebene Personalentscheidungen statt Sachentscheidungen. Dennoch sind es Sachentscheidungen, die letztlich durch diesen Prozess legitimiert werden sollen. Wie soll das gehen, wenn die Wahlbürger letztlich Sachfragen gar nicht entscheiden? Das, was legitim ist, soll ja nicht nur der Weg sein, auf dem es zu Entscheidungen kommt, sondern dadurch gerade die Entscheidungen selbst.


Üblicherweise durch Formen von Kontrolle in der Trennung von demokratischer Legislative, hierarchischer Exekutive und autonomer Judikative. Institutionalisierte Kontrollmöglichkeiten müssen existieren, sonst lässt sich die Qualität von Herrschaft nicht sichern und ein Missbrauch demokratischer Macht nicht verhindern. Die Kontrollchancen verbessern sich, je stärker die Autonomie der einzelnen Institutionen, Akteure und Instanzen ausgeprägt ist. Die demokratische Legitimation des Parlaments, die Weisungsgebundenheit der Beamtenschaft und die richterliche Unabhängigkeit sind grundlegend. Wenn etwas, was als ungerecht eingeschätzt wird, zugleich unkontrollierbar wird, kann es nicht legitim sein. Das wäre in der Tat eine Gefahr für die Demokratie oder genauer, eine Gefahr für die durch ein demokratisches Verfahren erzeugte Legitimität.


Damit Personalentscheidungen Sachentscheidungen rechtfertigen können, müssen außerdem gleiche Mitwirkungsmöglichkeiten für alle Bürger bestehen. Der Zugang zu Parlamenten läuft bekanntlich in und über Parteien, der zu Verwaltungen und Gerichten über entsprechende Ausbildungen, die je nach Amt für jeden Bewerber gleich sein müssen. Alle Ämter müssen grundsätzlich jedem Bürger zugänglich sein. Zweifel an genau dieser prinzipiellen Möglichkeit sind ebenfalls auch unmittelbar Zweifel an demokratischer Legitimität. Sie betreffen im wesentlichen den Zugang zu den oberen Etagen des Bildungssystems.


Repräsentative Demokratie bedeutet allerdings letztlich, dass selbst dann, wenn jedermann grundsätzlich jedes Amt bekleiden können muss, nur eine kleine Minderheit es wirklich bekleidet und mithin Eliten regieren. In der 15. Legislaturperiode hat z.B. der deutsche Bundestag 598 Mitglieder. Auf einen Abgeordneten kommen demnach ca. 140.000 vertretene Bürger. Von diesen sind wiederum ca. die Hälfte in ihren jeweiligen arbeitsteiligen Berufen in Wirtschaft und Staat in zumeist engen Grenzen mit der Lösung spezialisierter Sachaufgaben betraut und erleben in eben diesen Grenzen, was es heißt, in der heutigen Arbeitswelt kompetent zu sein und entscheiden zu dürfen. Von daher müssten die meisten Bürger bei einigem Nachdenken über die Felder, auf denen sie selbst im Berufsleben als kompetent gelten, hohe Erwartungen an die Kompetenz ihrer Abgeordneten haben. Sie müssten eigentlich wissen, dass bloßes, wie auch immer informiertes öffentliches Meinen nicht reicht, um Sachentscheidungen kompetent zu begründen. Kein Arzt würde sich vom Stammtisch sagen lassen, was zu tun ist, nicht einmal von einem Ärztestammtisch. Niemand von denen, der nicht ein politisches Amt ausübt, erlebt das Ineinander von Kompetenz und Entscheidung allerdings auf dem Feld politischer Entscheidungen. Wie auch?


Zugleich ist unmittelbar evident, dass sich das Insgesamt der anstehenden politischen Sachentscheidungen unmöglich in Form direkter Volksentscheide treffen lässt. Eine Umgehungsstraße um ein bayerisches Dorf betrifft nicht allein die Dorfbewohner, die sich gegebenenfalls für einen Volksentscheid stark machen würden, sondern mindestens auch all die Ortsfremden, die im Laufe der Zeit die Straße benutzen, die Steuerzahler, eine Fülle weiterer Interessengruppen und am Ende sogar einen Asthmatiker auf einer nordfriesischen Insel. Über ein gewisses Maß an Volksentscheiden hinaus bestünde nicht einmal die Bereitschaft der Wahlberechtigten, sich sachkundig zu machen und überhaupt an Abstimmungen teilzunehmen.


Das Problem, dass eine Lücke zwischen der Wahl von Personen und der Legitimität von Sachentscheidungen klafft, hat prinzipiellen Charakter und wird durch die ebenfalls nur prinzipielle Zugänglichkeit von Ämtern für jedermann keineswegs geschlossen.

Es gab Zeiten, in denen die Lücke weniger weit zu klaffen schien und etwa eine Entscheidung für die Person Kurt Schumachers die Zustimmung eines Sozialdemokraten zu dessen absehbaren Sachentscheidungen hoch wahrscheinlich machte.


Eben diese Lücke zwischen der Wahl von Personen und der reinen Delegation von Sachentscheidungen war und ist der Ort der öffentlichen Meinung und der Rolle der Medien bei deren ständiger Neubildung. Sie vertieft sich durch die soziale Distanz der Gewählten von ihren Wählern. Es ist zudem ein Irrtum mit langer Tradition zu meinen, die Medien würden den Medienkonsumenten mit dem nötigen Wissen ausstatten, um selbst kompetente Sachentscheidungen treffen oder wenigstens nachvollziehen zu können. Dies nicht, weil sie dazu grundsätzlich nicht in der Lage wären, das sind sie durchaus, denn wie anders informiert sich ein Wissenschaftler, ein Berufstätiger, ein Politiker, wenn nicht ganz überwiegend aus den unterschiedlichen Medien, die ihm im Laufe seines Lebens zur Verfügung stehen? Erfahrung ist der Erfahrungslosigkeit in aller Regel überlegen, aber Erfahrung, die ihre Grenzen nicht kennt, ist mitunter noch weit bornierter als der Erfahrungslose. Es besteht kein Zweifel daran, dass ein engagierter Bürger grundsätzlich ebenso wie jeder Politiker in der Lage ist, sich zu konkreten Sachverhalten mit Hilfe von Medien und eigener Anschauung sachkundig zu machen. Nur besteht die öffentliche Meinung nicht aus Sachkunde, sie besteht nicht aus Wissen, das es erlaubte, kompetente Sachentscheidungen zu treffen. Sie verlangt nicht einmal danach. Heute kommt der moderne Bürger bereits mit dem spezialisierten Wissen, das das Berufsleben ihm abverlangt, zu nah an die Grenzen seines Differenzierungsvermögens, als dass er sich ähnlich detaillierte Kenntnis auf dem Feld des Allgemeinen wünschen würde, das die öffentliche Meinung bedient. Öffentliche Meinung ist viel eher eine Art magisches Entscheidungssimulakrum. Die Rolle, die bessere Informiertheit im Hinblick darauf spielen könnte, ist selbst aufklärungsbedürftig und keineswegs selbstverständlich.


Wie gut muss eigentlich jemand informiert sein, um etwas mit Aussicht auf Erfolg in seinem Sinn delegieren zu können? Welche Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten muss er haben, falls etwas aus dem Ruder zu laufen droht? Beide Fragen stellen sich in Politik, Technik und Wirtschaft ständig und sind dort immer wieder neu entlang der jeweiligen Sachaufgaben beantwortbar. Jedenfalls gibt es normalerweise keinen Grund zu besonderer Ratlosigkeit, wenn dasjenige, worüber Informationsbedarf besteht, einigermaßen stabil strukturiert ist, denn dann sind die Entscheidungen, die aktuell durch Delegierte zu treffen sind, Aktualisierungen einer Struktur mit Wiederholungscharakter, und es reicht für den, der Aufgaben delegieren muss aus, die entsprechende Struktur zu verstehen, um Aufgaben sinnvoll delegieren zu können. Er muss nicht über alle Details aus dem Tagesgeschäft informiert sein. Was er zudem braucht, ist ein Maß, das ihm erlaubt, Zwischenergebnisse einzuschätzen. Die Vorrangstellung, die die Ökonomie heute hat, besteht wesentlich darin, dass sie ein solches allgemeines Maß hat, um welchen Preis auch immer. Sie bietet sich als dieser Lieferant eines Maßes heute überall an, vor allem auch in der Politik. Das ist der Hauptgrund, warum heute viele Beobachter fälschlich meinen, die Ökonomie habe der Politik das Kommando abgenommen. Und was der Kontrolleur ebenfalls braucht, ist die Autorisierung zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit, der Effizienz und politischen Rechtfertigung selbst. Welcher politische Akteur lässt sich wann für was verantwortlich machen und ggf. ersetzen und belangen?


Heute beklagen sich Wähler darüber, ihr Vertrauen in ihre politischen Vertreter verloren zu haben und damit zugleich ihr Vertrauen in ein bestehendes politisches System. Beklagen sie sich zurecht? In einem Wirtschaftsunternehmen wäre mangelndes Vertrauen in einen Mitarbeiter ein nur sehr vorübergehender Grund zur Klage. Es wäre vielmehr ein Grund, den betreffenden Mitarbeiter entsprechend zu korrigieren oder ihn gegebenenfalls zu entlassen. Vor allem böte der Vorgang kaum genug Grund, gleich dem ganzen Unternehmen zu misstrauen. Dazu gäbe es allerdings Anlass, wenn die Kontrolle im Unternehmen systematisch unmöglich gemacht würde. Das russische Sprichwort sagt: Vertraue, aber prüfe auch (Dowerjai, no prowerjai). Vertrauensprobleme sind in Wirtschaft und Politik regelmäßig Kontrollprobleme. Sie stellen sich für den Wähler in der repräsentativen Parteiendemokratie systembedingt immer, da er keine andere Möglichkeit hat als die, sich auch in der Rolle des Kontrolleurs bis auf den Wahlakt selbst von anderen vertreten zu lassen. Es ist etwas völlig verschiedenes, ob der Wähler auf etwas vertraut oder sein gewählter Vertreter, der mit Kontrollmöglichkeiten ausgestattet ist. Vertrauen ohne Kontrollmöglichkeit ist blindes Vertrauen und als das in der Tat etwas, dass in Krisen virulent werden kann.


War gerade von einer Kluft zwischen dem Guten und dem Legitimen zu sprechen, so hier von einer Lücke zwischen Vertrauen und Kontrolle. Beide Spannungsverhältnisse sind keine Gründe, aus denen sich gegen die Form der demokratischen Entscheidungsfindung argumentieren ließe. Es sind im Gegenteil gerade die Stärken der demokratischen Form, dass sich in gewissen Grenzen auch mit unguten Entscheidungen anderer leben lässt und dass in gewissen Grenzen vertrauensvolle Verhältnisse zum unbekannten Mitbürger möglich sind, ohne ihn kontrollieren zu müssen.

Im Populismus scheinen aber gerade aus diesen Stärken Schwächen zu werden.


Die Öffentliche Meinung wird in diesem Zusammenhang nicht nur Entscheidungs-, sondern auch Kontrollsimulakrum. Es geht in ihr nicht wirklich um bessere Entscheidungskriterien für jedermann und um die effektive Ausübung von Kontrolle, sondern um die beiden Lücken, die mit den Titeln Legitimität (des Falschen) und (blindes) Vertrauen / drohender Kontrollverlust in der repräsentativen Parteiendemokratie notwendig verbunden sind. Die Öffentliche Meinung kann offensichtlich in beide Richtungen wirken, ausgleichend, aber ebenso auch polarisierend.

Der Appell an Populisten, sich doch bitte besser zu informieren, greift insofern nicht, als auch der Bestinformierte im Rahmen der öffentlichen Meinung, als deren Teil er sich gegebenenfalls versteht, durch bessere Information keine zusätzliche Kontrollmöglichkeit gewinnt, außer der Kontrolle über seine eigenen Affekte. Die Öffentliche Meinung ist zunächst ein Feld der Affektkontrolle der Bürger, denen die repräsentative Demokratie blindes Vertrauen abnötigt, bevor sie, wenn überhaupt, zur Kontrolle von politischen Akteuren bei ihrer Arbeit wird. Der Zustand des blinden Vertrauens ist der Urzustand des Demokraten, der sich vertreten lässt, und genau das ist die Stärke der Demokratie und ihr blinder Fleck zugleich. Wir neigen dazu, nicht anzuerkennen, dass sich die Rolle der Öffentlichkeit und der Öffentlichen Meinung nicht ändert, wenn sich die Demokratie von einer direkten in eine repräsentative verwandelt. Die Aussage eines öffentlichen Akteurs: „Ich bin der Meinung, dass ...“ verändert in einer direkten Demokratie möglicherweise Entscheidungen und in einer repräsentativen verändert sie - was eigentlich? Stimmungen und Meinungen anderer, die auch alle nicht entscheiden. Einen Satz wird man sich zweimal überlegen, gesagt in einem Rahmen, in dem er etwas ändert. Einen Satz ohne Konsequenzen wird man möglicherweise dramatisieren, wenn man seine Wirkungslosigkeit nicht erträgt.


Wenn die repräsentative Demokratie infrage steht, heißt das, dass sich Wahlbürger durch ihre gewählten Vertreter nicht mehr repräsentiert sehen. Das eine, die Infragestellung, folgt nicht aus dem anderen, der Einschätzung, nicht repräsentiert zu werden, oder umgekehrt, beides sind zwei verschiedene Ausdrücke für den selben Sachverhalt. Dieser Sachverhalt ist nicht ausnahmsweise der Fall, also z.B. heute und vor 70 Jahren nicht, sondern er ist ständig der Fall. Jederzeit fühlt sich ein gewisser Anteil der Bürger nicht demokratisch repräsentiert. Eine Gesellschaft, die ihre politische Entscheidungsfindung demokratisch organisiert, muss damit nicht nur ständig umgehen, sie kann es durch lange Phasen auch. Das ist gerade die Stärke dieser Form. Infragestellung der Demokratie ist nicht die Ausnahme, sondern Alltag. Es besagt nichts anderes, als dass eine Gesellschaft intern friedensfähig ist, obwohl sie voller Widersprüche und Spannungen steckt.


Die Demokratie bietet jederzeit die gleichen Angriffsflächen, an denen sie rein als Form infrage gestellt werden kann, ohne dass man fragen müsste, ob und welche inhaltlichen Themen die Infragestellung befeuern.


Eine Hauptangriffsfläche ist die Legitimität als die eigentliche Leistung der demokratischen Form. Es lässt sich jederzeit bestreiten, dass Entscheidungen legitim sind, obwohl sie demokratisch zustande gekommen sind. Das wird dann der Fall sein, wenn der Graben zwischen dem Guten und dem Legitimen zu gross geworden ist, d.h. das wird dann der Fall sein, wenn ein Teil der Bevölkerung den Eindruck gewinnt, dass in für sie essentiellen Fragen die Parlamentarier die falschen Sachentscheidungen treffen und parlamentarische Opposition kein angemessener Ort ist, um ein nicht mehrheitsfähiges Gutes sozusagen überwintern zu lassen. Welche Fragen das betrifft, beantwortet die Geschichte. Dazu, welche es gegenwärtig sind und welche es in Zukunft sein werden, lassen sich nur Thesen formulieren. Viele meinen, es könnte die zunehmende Ungleichverteilung von Vermögen und Teilnehmechancen sein. Andere sehen eine Hauptkonfliktzone im sozialen Getungsverlust des untren Mittelstands. Zweifellos werden von der Politik andere Themen in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gestellt als die Verteilungsfragen im Sozialstaat.



Nachkriegszeit - ein Beispiel

Was die wichtigen Themen in den ersten Jahren nach 1949 waren und ob sie den ihnen angemessenen öffentlichen Raum einnanhmen, scheint vergleichsweise leicht zu beantworten. Es ging um Wohnung, Nahrung, Wiederaufbau, Integration der Flüchtlinge, Rückkehr der Kriegsgefangenen, Wiedererlangung der staatlichen Souveränität und andere elementare Dinge. Dazu kam die kulturpolitische Frage nach der konfessionellen Schule. Deren Diskussion verdrängte aber die vitaleren Fragen nicht aus der Öffentlichkeit. Ob für Markt- oder Planwirtschaft optiert wurde, beide Positionen waren parlamentarisch vertreten und als Regierungs- und Oppositionsposition klar unterscheidbar und dennoch demokratisch verhandelbar. Der öffentliche Diskurs war auch damals schon voll von Polarisierungen.


Grenzwertig wurde z.B. die Frage der Wiederbewaffnung, gegen die die damalige parlamentarische KPD mit Demonstrationen und einer 1951 vom Bundesinnenminister verbotenen Volksbefragung massiv agitierte, die weit über den Mitglieder- und Sympathisantenkreis hinaus neun Millionen Nein-Stimmen gegen eine Wiederbewaffnung zusammenbrachte und 1954 Anlass für einen Prozess wegen Hochverrats gegen Mitglieder des Hauptausschusses für Volksbefragung wurde.


Im September 1950 verabschiedete die Bundesregierung den so genannten Adenauer-Erlass. Dadurch war es öffentlichen Bediensteten zukünftig verboten, Mitglied in Organisationen zu sein, die die Bundesregierung als verfassungsfeindlich einstufte. Viele Kommunisten wurden daraufhin unter dem Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Am 23. November 1951 stellte die Bundesregierung Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD durch das Bundesverfassungsgericht, ebenso wie bereits drei Tage zuvor gegen die offen neonazistische Sozialistische Reichspartei, die sehr schnell bereits 1952 verboten wurde. Im Urteil gegen die Sozialistische Reichspartei wurde erstmals vor Gericht auf den Begriff 'freiheitlich demokratische Grundordnung' rekurriert6. Aber erst am 23. November 1954 begann die mündliche Verhandlung im offensichtlich weit kontroverseren Fall gegen die KPD vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Hier kann der Zusammenhang von Wiederbewaffnung und KPD-Verbot nicht im Detail herausgearbeitet werden. Es geht an dieser Stelle auch nur darum, auf zwei Grenzen der repräsentativen Demokratie hinzuweisen: auf die Möglichkeit einer außerparlamentarischen Opposition als Ausdruck davon, dass Positionen, die von Bürgern als gut und unverzichtbar angesehen werden, nicht parlamentarisch durchsetzbar erscheinen. Das Legitime, so wie es als parlamentarische Repräsentation definiert ist, hört auf, dem Guten Raum zu bieten. Vielleicht kann man die verbotene Volksbefragung der KPD als das betrachten.

Die zweite, ganz anders gelagerte Grenze zeigt das KPD-Verbot selbst: In diesem Fall ist es nicht der Wähler, der bestimmt, wer ihn vertritt und wer nicht, sondern das Gericht und zwar nicht im Namen des Wählers, sondern der Verfassung. Diese Form des Schutzes der demokratischen Grundordnung ist selbst immer auch demokratiegefährdend. Dies ist ein Grund, warum sich sich das deutsche Verfassungsgericht mit Parteiverboten generell schwer tut.

Wer nach Gefährdungen demokratischer Formen fragt, greift zu kurz, wer sie nur von Seiten bestimmter Wählergruppen und nicht auch von Eliten aufziehen sieht. Gefährdungen können grundsätzlich ebenso von Parlamenten, Regierung und Gerichten ausgehen. Dann übrigens ebenfalls oft nicht deshalb, weil das Verbotene als primär illegitim angesehen wird, sondern als primär ungut, als staatsgefährdend, verfasungsfeindlich etc. Folge ist, dass es dann im zweiten Schritt aus dem Raum dessen, was legitim ist, ausgeschlossen wird. Ausschlusshandlungen sind also auch hier typisch und nicht erst im modernen Populismus. Der platonische Philosoph, der das Gute kennt, sitzt immer mit am Tisch der Demokratie, und es ist nie so ganz klar, wer sich dahinter versteckt.

Neben der Infragestellung der Legitimität politischer Entscheidungen bei gleichzeitiger Akzeptanz der Form, wie sie festgestellt wird, ist die nächste gravierende Infragestellung die Infragestellung der Grundgesamtheit, die zur Gruppe der Wahlberechtigten gehören. Wenn z.B. bei den Montagsdemonstrationen ab dem 4. September 1989 in Dresden gerufen wird: „Wir sind das Volk!“, dann ist das streng genommen ebenso falsch, wie wenn der selbe Ruf auf einer Pegida-Demonstration zu hören ist. Es stimmt in beiden Fällen nicht, auch wenn im ersten Fall eine Mehrheitsmeinung und im zweiten die einer Minderheit zum Ausdruck gebracht wird. Richtig hätte es in beiden Fällen, so völlig unterschiedlich sie im Übrigen sind, heißen müssen: „Wir sind Teil des Volkes“.


Das führt zur grundlegenden Frage: Warum soll eigentlich die Mehrheit entscheiden und nicht die Minderheit? Rein formal ließe sich auch ein Spiel spielen, bei dem jeweils die Minderheit gewinnt. Es könnte gelten: angenommen ist der Vorschlag der kleinsten Minderheit. Nur spielt dieses Spiel niemand. Man könnte nicht einmal davon ausgehen, dass der Vorschlag, den die kleinste Minderheit macht, der schlechtere Vorschlag wäre, denn wie wir gesehen haben, geht es in der Begründung der demokratischen Form gerade nicht um das am besten begründete Gute, sondern allein um die formale Herstellung des Legitimen.


Warum also Mehrheit und nicht Minderheit? Man kann es sich einfach machen und darauf hinweisen, dass es eben so im Gesetz steht. Bei den Wahlen zum deutschen Bundestag gilt personalisiertes Verhältniswahlrecht, bei Abstimmungen in den deutschen Parlamenten gelten unterschiedliche Mehrheitsarten, angefangen von der Mehrheit der abgegebenen Stimmen nach Artikel 42 II GG bis hin zur qualifizierten Zweidrittelmehrheit bei Grundgesetzänderungen nach Artikel 79 GG.


Aber noch einmal: warum überhaupt Mehrheit und nicht Minderheit? Es gibt sicher keinen ewig gültigen Grundsatz der Vernunft, der das fordern würde. In den meisten Epochen der Geschichte haben überall auf der Welt Minderheiten die Völker regiert. Die Etablierung des Mehrheitsprinzips in Europa ist, wenn man das so summarisch sagen darf, Ergebnis der entlang der unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen im 19. Jh. erfolgten historischen Entwicklung des bürgerlichen Staates nach dem Wiener Kongress im Konflikt mit dem Königtum, vorangetrieben von militärisch, administrativ und ökonomisch dominanten Machteliten, um angestrebte Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. Das Mehrheitsprinzip ist sicher ein geschichtliches und kein transzendentales. Bereits bestehende Monopole staatlicher Gewalt gingen nach der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeit sukzessive von der Monarchie an bürgerlich repräsentative Herrschaftsformen über.

Das Mehrheitsprinzip war dabei nicht nur Mittel der Wahl, um Legitimität zu gewinnen, sondern wurde auch als durchaus zweischneidiges Schwert mit Vorsicht eingesetzt. John Stuart Mill bemerkt angesichts der nach den europäischen Revolutionen von 1848 einsetzenden rapiden Entwicklung des Proletariats, dass Mittel und Wege zu suchen sind, wie sich die bürgerliche Freiheit gegen das, was er die demokratische »Tyrannei der Mehrheit« nennt, gegen die Mehrheit der Arbeiterbewegung verteidigen lässt. Es sei nicht »festzustellen, ob die Demokratie kommen soll, sondern wie das Beste aus ihr zu machen ist, wenn sie kommt«.7 Nach dem Anwachsen des englischen Industrieproletariats war zu befürchten, dass eine mechanische Übertragung des Mehrheitswahlrechts auf England die Arbeiterbewegung an die Macht gebracht hätte.

Die Mehrheitswahl darf „unter keinen Umständen so weit getrieben werden, dass die Individuen, die dieses Vorrecht genießen, bzw. die Klasse (falls es eine solche gibt), der diese Individuen hauptsächlich angehören, mit seiner Hilfe das ganze übrige Gemeinwesen majorisieren“.8

Mills Lösung ist ein kompliziertes Proportionalwahlrecht. Er gibt den Wahlkreisen einen Zuschnitt nach den zu erwartenden bürgerlichen oder proletarischen Mehrheiten. Auf der anderen Seite ist er einer der ersten, der für ein gleiches Frauenwahlrecht optiert. Rücksicht auf Machterhalt und Verpflichtung gegenüber einer fortschrittlichen Idee stehen direkt nebeneinander in der Reihe der Gründe.


Was unter Mehrheit zu verstehen sei, findet sich also gleich mehrfach, als positives Recht in den Gesetzgebungen der Nationen, die mit der Zeit zustande kommen, als Eliten-Kalkül des Machterhalts, aber auch als reine Idee.



Anmerkungen:

6 „Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.“ (Bundesverfassungsgericht 2, 1 (Quelle: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv002001.html))

7 Mill, J. St., Über Freiheit, Fft./M., S. 142

8 Mill, J. St., 1971, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, Paderborn, S. 153



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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