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Krisenmarktwirtschaft

Franz Rieder • Mit Krisen auf Wanderschaft, Krisen im Umkehrschluss, Fragmentierung der Krisen      
(nicht lektorierter Rohentwurf)   (Last Update: 20.05.2019)

Die neue politische Ökonomie ist schwer in jedem Fall zu identifizieren. Ihr Kennzeichen deshalb ist Unkenntlichkeit. Unkenntlichkeit insofern, als man auf ihre Entscheidungen und Einflüsse auf die Wirtschaftsprozesse meist nur induktiv schließen kann; jedenfalls die von Bedeutung. So sind die Notenbankprogramme öffentlich der autonomen Entscheidungen ihrer Gremien zur Zins- und damit zur Inflationssteuerung zu verdanken. Aber jeder „weiß“, also ahnt mittlerweile, dass die Einflüsse der politischen Entscheidungsträger auf die Autonomie der Notenbanken erheblich sein dürfte. Man kann kaum die direkten Einflussnahmen wie auch die informellen benennen, sind die Notenbanken doch selbst keine demokratisch kontrollierten Institutionen, gleichwohl deren Gremien nicht ohne politischen Einfluss zusammen gesetzt werden. Ein wenig offensichtlicher sind die Einflüsse der politischen Ökonomie im Rahmen des sog. Dieselskandals in der BRD zu Tage getreten, unmissverständlich waren sie in der Energiepolitik.

Wir wollen die politische Ökonomie engführen mit unserem neuen Begriff der Krise, die sich inmitten eines Transformationsprozesses der Marktwirtschaft zu einer „Weltwirtschaft“ ausbreitet. Wir haben uns dazu eingehend mit der Finanzkrise von 2007 und den folgenden Jahren beschäftigt und dabei den Zusammenhang zwischen Eigentumswirtschaft in Form der Privatbanken und die politischen Einflüsse auf die Immobilienwirtschaft in den USA herausgearbeitet. Dies war einer der ersten Fälle im neuen Jahrhundert, an dem diese Verstrickung von Politik und Ökonomie zu einer fast unkontrollierbar auf die Weltmärkte durchschlagenden Krise der Marktwirtschaft, man müsste eigentlich von einer politischen Marktwirtschaft sprechen, sichtbar geworden ist. Und wie erschreckend hoch das Ausmaß des politischen Einflusses bis hinein in die schier flächendeckenden Duldungen der Politik den kriminellen Machenschaften gegenüber im jeweils nationalen Investmentbanking in Europa und den USA z.B. gewesen ist, war ein Novum in der modernen Marktwirtschaft.

Wir haben den Begriff der Krise deshalb auch ausgeweitet auf außer-ökonomische Felder, weil wir zeigen wollten, dass die viel zu eng gefasste Bestimmung der Krise nach der politischen Ökonomie von Karl Marx unbedingt wieder „repolitisiert“ werden muss, weil ohne diesen Zusammenhang kein wirkliches Verständnis mehr, weder von moderner Ökonomie noch von aktueller Politik, möglich ist. Marx sah den Zusammenhang, wenn er die Krise des Kapitalismus als einen Prozess des Klassenkampfes beschrieb. Aus der Perspektive der Geschichte geht die marxistische Engführung in der von ihm unternommenen Art nicht auf, bleibt aber als Denkansatz prinzipiell richtig. Gleichwohl aber war es in der Wissenschaft der Ökonomik, wie wir auch bisher zeigen konnten, ein fataler Fehler, nun zu meinen, da die marxistische Prognose der Entwicklung der Wiedersprüche zwischen Kapital und Arbeit historisch nicht aufgegangen ist, auf eine Engführung von Politik und Ökonomie weitgehend verzichten zu können.

Heute sehen wir in Europa, dass dieser Zusammenhang mehr denn je aktuell ist. Und zwar in einer Weise, die mittlerweile eine politisch-ökonomische Krise vorstellt, die mit der Phantasie von vor wenigen Jahrzehnten nur als Kriegszenario vorstellbar war. Und dabei wird auch wieder deutlich, dass kein einzelnes Unternehmen gleich welcher Größe und Bedeutung je in der Lage war, Krisen solchen Ausmaßes wie die Finanzkrise 2007 z.B. auszulösen. In der EU reift langsam die Einsicht, dass es kein vorstellbares, ökonomisches Szenario mehr gibt, das einen neuerlichen, prognostiziert weit tiefer greifenderen Eingriff der Krise in der EU noch verhindern könnte.
Im Zusammenhang mit der aktuellen Schuldenpolitik in Italien zeigt sich die fundamentale und zugleich fatale Verstricktheit der politischen Ökonomie auf der Ebene einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft. Gleichwohl Europa noch längst kein wirklicher Wirtschaftsraum mit einer intergrierten Wirtschaftspolitik ist, sondern auch und lediglich eine assoziierte Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist, ist, wahrscheinlich auch gerade deshalb, die Situation ausweglos verfahren.

Weder hilft eine Austeritätspolitik in Italien, die vorher bereits in Griechenland mehr schlecht als recht nur funktionierte, da Italiens Wirtschaft in eine so tiefe Rezession geraten würde, dass daran nicht nur Italiens Wohlstand nachhaltig zerstört würde, sondern daran auch der Euro und die EU zerbrechen würden.
Die Inflation in Ländern wie Deutschland etwa um das Maß zu erhöhen, als die Schuldzinsen in Italien steigen, um einen Ausgleich zu schaffen, würde Deutschland mit einer Inflationsrate von über 6% über längere Zeiträume belasten, was weder für den Euro noch die EU ratsam wäre, abgesehen von der deutschen Wirtschaft und den deutschen Sozialsystemen.
Die EZB hat für die italienischen Schulden keine Gegenmittel, alle Rettungsfonds zusammen könnten allenfalls vorübergehend für vielleicht zwei Jahre einen Abfall in eine Rezession verhindern und von den Kapitalmärkten ist ebenso keine Rettung zu erwarten, das italienische Staatsanleihen, mittlerweile fast auf Ramschniveau notierend, weder attraktiv sind, solange Italien im Euro ist, noch von den italienischen Notenbanken jemals zu den Zinssätzen bedient werden könnten, die die Kapitalmärkte im Spread, also im Risikoaufschlag auf den Referenzzinssatz der EZB erwarten.

Welche Auswirkungen die Krise der politischen Ökonomie in Europa hat, haben wir an Griechenland bereits gesehen. Die Dimension, die die Krise in Italien annehmen kann – und wahrscheinlich auch wird – ist kaum vorstellbar.
Und bei alledem ist der Transformationsprozess der Volkswirtschaften für sich genommen noch gar nicht berücksichtigt. Wie wir eingangs angesprochen haben, befiden sich die westlichen Volkswirtschaften nicht einem Prozess der Deglobalisierung. Dieser ist als ein gegenläufiger dem Prozess der Globalsierung inhärent, der aber nach wie vor dominant und fortschreitend dynamischer verläuft.

Seine Dominanz und seine fortschreitende Dynamik1 befördern im Sinne der politischen Ökonomie eine zunehmende nationalistische Wirtschaftspolitik mit zunehmenden Eingriffen des Staates in die Wirtschaft, vor allem über die Notenbanken und einen fortschreitenden Protektionismus in den globalen Handelsbeziehungen, der vor allem in der Neuaufteilung des globalen Handels über internationale Handelsabkommen, transnationale Abkommen in Forschung und Entwicklung vor allem bei der Digitalisierung der Wirtschaft sowie im Neuaufbau transnationaler Wertschöpfungsketten und der Schaffung von Plattform-Ökonomien bis hin zu einer Philosophie der bargeldlosen, bankenunabhängigen Geldwirtschaft über Kryptowährungen sich realisiert.





Mit Krisen auf Wanderschaft


In den Zeiten der Postmoderne galt es als schick, das Wort vom nomadisierenden Subjekt als ein Apercu wo immer es ging zu verwenden. Gemeint war ein irrlichternder Mensch, der seinen Wünschen und Begehrlichkeiten kaum folgen konnte. Immer waren die Dinge seines höchsten Interesses nicht nur unbekannt ihrer Herkunft, sondern auch ihres Auftauchens an jeweils anderer Stelle, nie an gleicher. Wie im berühmten „Fort-da-Spiel“(S. Freud) jagte der arme, ach so Getriebene den Dingen hinterher und blieb doch wie der Hase der List des Igels, die er nicht verstand, ständig unterlegen.
Ein wenig so ähnlich geht es der Ökonomik heute, wenn sie versucht, eine Krise zu bewirtschaften. Was am hinteren Ende solcher Versuche dabei herauskommt, wenn der Zusammenhang von Politik und Ökonomie nicht verstanden ist, zeigt recht deutlich der jüngst Vorschlag eines deutschen „Hybrids“ in Hinblich auf die Bewältigung der italienischen Schuldenkrise.

So hat die Bundesbank2 der italienische Regierung die Einführung einer Zwangsanleihe nahegelegt, mit der reiche Italiener direkt für die Schulden ihres Staates haften sollen. „Die italienische Bevölkerung wäre verpflichtet, die Solidaritätsanleihen zu erwerben, und zwar beispielsweise in Abhängigkeit vom Nettovermögen der Haushalte“, schreibt der Leiter der Abteilung Öffentliche Finanzen, Karsten Wendorff, in einem Gastbeitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bei einem „Solidaritätssatz“ von 20 Prozent und einem Freibetrag von 50.000 Euro könne fast die Hälfte der italienischen Staatsschulden in Solidaritätsanleihen umgewandelt werden, so die Idee einer lustvollen Leidenschaft am groben Unsinn, von der man nur hoffen kann, dass die italienische Öffentlichkeit sie der deutschen Dummheit, die es ja hier und da geben soll, nachsieht.
Dem leitenden Angestellten sollte man das Gehalt auf Harz IV zum symbolischen Ausgleich für den Schaden an der Ökonomik und der deutschen Reputation zusammenstreichen; eine Entlassung wäre auch gerechtfertigt. So könnte sein nomadisierender Geist sich in seiner Freizeit dann aufmachen, Europa und die Welt besser kennen zu lernen; Italien sollte er vielleicht besser meiden.

Nicht nur, dass seine Vorschläge zur „Privatisierung“ der Staatsschulden nicht gerade neu sind und in Deutschland durch die Null-Zins-Politik der EZB zu einer gigantischen „Enteignung“ der privaten Haushalte geführt hat, gehen sie am Kern der italienischen Krise meilenweit vorbei. So weit, wie am anderen Ende der Beitrag von Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire, der keine unmittelbare Gefahr einer erneuten Euro-Krise sieht. „Derzeit ist nicht zu befürchten, dass der Haushaltsstreit zwischen Italien und der EU-Kommission den gesamten Euro-Raum in Mitleidenschaft zieht“, so Le Maire zur Zeitung „Le Parisien“(FAZ ebenda).
Während also die Bundesbank sich voller Sorge um eine neuerliche Krise größeren Ausmaßes als die erst kürzlich ein wenig beruhigte Krise der griechischen Volkswirtschaft aus der geldpolitischen Deckung wagt, empfiehlt der französische Kollege ruhig und gelassen in Deckung zu bleiben.

Zur gleichen Zeit stürzen die italienischen Staatsbonds ab, treibt es Fondsmanager den Schweiß auf die Stirn, da sie – warum auch immer – gut ein Viertel ihrer Investments in Italien platziert haben. Das Italienrisiko ist mit dem der griechischen Bonds, nur im Volumen sehr viel größer, strukturell vergleichbar. Wieder geht es um zu hohe Staatsausgaben und Überschuldung, also um eine irrlichternde politische Ökonomie, die den Kurs der zehnjährigen Staatsanleihe auf Talfahrt schickt und spiegelbildlich die Rendite von 1,8 auf 3,8 Prozent angehoben hat.

Solange viele Investoren auf eine attraktive Rendite angewiesen sind, ist Panik an den Märkten noch nicht zu verzeichnen. Und es ist lediglich der Diskurs in diesem Finanzsektor, der eine panische Reaktion noch verhindert. Denn Anleger, die nach einer Risikobewertung suchen, wissen in den meisten Fällen nicht, was in ihren Investments steckt. Und die einzigen Informationsquellen über die Zusammensetzungen der Fonds sind Investoren auf Onlineportalen zugängig, wo Produktinformationsblätter und Fondsberichte abgelegt sind. Aber wer kann die Informationen schon wirklich bewerten und deren sachliche Richtigkeit einschätzen? Und selbst wenn dies möglich wäre, was sagen solchen Informationen schon aus in Hinsicht auf die Gesamtbewegung der Anleihenmärkte in Italien, die natürlich massiv von europäischen und globalen Bewegungen direkt oder indirekt beeinflusst sind?

Beim Blick auf diese Marktbewegungen gehen die Einschätzungen selbst bei den beiden wichtigsten Ratingagenturen auseinander. Moody’s strafte die Schuldenpolitik Italiens bereits ab und nahm die Benotung der langfristigen Verbindlichkeiten zurück. Die Bonitätsbewertung liegt im Oktober 2018 nur noch eine Stufe über Ramschniveau. Standard & Poor’s beließ es bei seiner Note zwei Stufen über Junk-Status, senkte den Ausblick allerdings auf „negativ“.
Große Vermögensfonds und die kanadische Ratingagentur DBRS z.B. sprechen bereits deutlich vernehmbar von der Möglichkeit eines Ausscheidens Italiens aus dem Euro mit entsprechenden Schuldenschnitten und Verlusten für die Investoren.

Fast schon nahe an der Panik raten Vermögensverwalter eine genaue Hinsicht auf die Depots der Fond-Anleger. Ein minimaler Anstieg der Renditen etwa der zehnjährigen italienischen Staatstitel auf vier Prozent gilt vielen Fond-Experten bereits als hoch riskant weil existenziell gefährlich für Italien, insbesondere wegen der Rückwirkungen auf das Bankensystem. Damit nicht genug, sogar höhere Renditen als diese sind zu erwarten, und im Falle einer echten Eskalation steht sogar weit mehr als eine Krise des italienischen Finanzsystems und à la longue der italienischen Volkswirtschaft im Raum. Italien ist auch eine Zeitbombe für den Euro, allein deshalb schon, weil in der feingliedrigen Vernetzung der italienischen Banken mit ihren europäischen Partnern und Kreditgebern in Frankreich, Spanien und Deutschland nebst einigen Affektionsgefahren großer europäischer Versicherungsunternehmen sehr schnell der gesamte Euro-Raum in eine massive Krise geraten könnte.

Wir stellen fest, die Krise unterwandert ganz Europa und ist weder zu beziffern noch zu steuern oder mit den Mitteln einer europäischen Geldpolitik zu zähmen. Und, die Krise ist nicht ökonomischer Natur allein; im Gegenteil. Das Chaos hat die politische Ökonomie zu verantworten, eine dreiste Haushalts- und Schuldenpolitik, eine verwirrte Politik von fiskalischen Fehlallokationen in einer sklerotischen Administration und überbordenden Bürokratie, nebst korrupten und mafiösen Strukturen in Teilbereichen des privaten und öffentlichen Lebens.

Nicht verwunderlich, dass nun mehr und mehr Vermögensverwaltern ihren Anlegern, die in italienischen Staatsbonds investiert sind, empfehlen, jeden Rückgang der Zinsen und damit steigende Kurse zum Verkauf zu nutzen. Heinz-Werner Rapp, Vorstand und Chefstratege beim Vermögensverwalter Feri, hält es nicht einmal für unwahrscheinlich, dass „das Land […] bald eine Parallelwährung einführen könnte, um sich finanziell Luft zu verschaffen, aber auch als mögliche Vorstufe eines Euro-Austritts.“
Der Ausverkauf des italienischen Staates hat damit bereits begonnen und eine konservative Anlagepolitik in Sachwerte ist angeraten. Wie Rapp dann aber auf die Idee kommt, dass für einen denkbaren Euro-Zerfall das richtige Mittel zur Absicherung gegen dieses Szenario eine Konzentration der Vermögenswerte im Geltungsbereich der ‚deutschen‘ Heimatwährung3 sei, mag der Logik einer Vermögensverwaltung gedankt sein; in einem Verständnis der Verstricktheit der europäischen politischen Ökonomie – und damit auch der deutschen Heimatwährung – die ja auch bei einem Zerfall des Euros zeitlich unmittelbar und in den Jahren danach nicht unerheblich affiziert davon bleiben kann, liegen solche Vorschläge jedenfalls nicht.





Fragmentierung der Krisen


Krisen ohne Ende oder Ende der Krisen; zur Transformation der Marktwirtschaft gehört die Zirkularität von Krisen ihrer Krisen. Das ist nicht abgeleitet von den Konjunkturzyklen. Die Krisen der Marktwirtschaft treten zunehmend im Weltniveau auf. Weltwirtschaftskrisen hat es einige gegeben, die sind aber nicht vergleichbar mit den Krisen neueren Datums. Das liegt vor allem an der Vernetzung der globalen Geldströme, in die die politische Ökonomie mehr und mehr eingreift. So werden die Geldflüsse immer mehr zerteilt und die Teile setzen sich unplanmäßig, also zeitlich wie örtlich irgendwo auf dem Weltmarkt mit regional mehr oder weniger hoher Wahrscheinlichkeit wieder zusammen. Das Bild dieser Form der Fragmentierung folgt durchaus bewusst den Datenströmen im World Wide Web, wo Datensätze zu Datenpakten fragmentiert ihre unterschiedlichen Wege durch die Hubs des Webs finden und im Browser des Benutzers erst wieder zusammengesetzt werden.

Moderne Krisen sind also Assemblierungen von Krisenfragmenten aus transnationalen bzw. globalen Zusammenhängen. Eins dieser Fraktale besteht in der zu engen und ungerechten Verteilung der Benefits der Globalisierung. Ein anderes Fraktal entwickelt sich krisenaffin daraus, dass alles unter den Prozess der Globalisierung subsumiert wird und besonders für Entwicklungsländer mit wenig Industrialisierung durch internationale Organisationen wie etwa dem IWF und dessen geldpolitischen sowie handelspolitischen Druck keine lokale Autonomie mehr in den Entwicklungsländern zugelassen wird, eigene Industrien, eine landwirtschaftliche und kleingewerbliche Infrastruktur etc. aufzubauen.

Gleichwohl also keine integrierte, internationale Wirtschaftsordnung, keine wirkliche Weltwirtschaft existiert, setzen sich zunehmend von westlichen Regierungen, Finanzsystemen, Handelsordnungen usw. ausgehende Vorstellung einer Weltwirtschaft global durch, wohl wissend, dass die Dominanz dieser westlichen Vorstellungen sowohl im Westen wie in den Entwicklungs- und Schwellenländern die brüchige Integrität von Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft fragementieren.

Bereits im Jahr 1992 warnten über sechzig Ökonomen als Unterzeichner eines Memorandums: “ Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden.“4

Zehn Jahre vor der Euroeinführung war die Gefahr der desintegrativen Fragmentierung von Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaften also bereits sichtbar, aber die politische Ökonomie unbelehrbar im Festhalten an einer vorgestellten europäischen Integration, der der Euro einen mächtigen Schub verleihen sollte und die, wie man heute weiß, in einer Zersplitterung auf allen Ebenen der Europäischen Union vor ihrem Ende steht.
2009 räumte die aktuelle griechische Regierung auf Druck der Finanzmärkte ein, die Kontrolle verloren zu haben, die bereits in einigen Vorgängerregierungen so viel Wasser aufgenommen hatte, dass ein Schiffbruch der griechischen Finanzen irgendwann unvermeidbar wurde. Selbst ein jahrelanger Diskurs ging als Haushaltslüge unter Wasser mit einem viermal so hohen Defizit im Staatshaushalt, als notorisch stets behauptet worden war.

Aber nicht nur die brüchige Integrität des griechischen Staates wie der griechischen Zivilgesellschaft mit zunehmender Armut, medizinischer Unterversorgung, massiver Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung der ‚Intelligentia‘ ins europäische Ausland waren die Folgen. Als die internationalen Kapitalgeber ihre neuen Risikobewertungen durchgeführt hatten, flohen sie nicht nur aus den griechischen Märkten, sondern gleich aus der gesamten südeuropäischen Peripherie. Der dramatische Abzug von Kapital aus diesen Staaten bzw. Regionen Europas brachte schnell Länder wie Spanien und Irland, die eigentlich ohne die griechische Lüge über durchaus als gut zu bezeichnende Staatsfinanzen verfügten, an den Rand einer politischen wie wirtschaftlichen Krise. Staatspleiten schienen kaum noch abwendbar, als die Immobilienpreise in diesen Ländern sanken, darauf hin die Immobilienkredite toxisch wurden, die Banken kollabierten und die Staatshaushalte völlig überfordert waren, aus eigener Kraft mit keynesianischen Mitteln die Banken und die Staatshaushalte zu sanieren.

Und dass damals bereits die Fragmentierung der Regierungen der EU weit fortgeschritten war, kann man daran erkennen, dass es keine integrierte Politik, nicht einmal eine solidarische gab, die, beherzt eingeschritten, die fortschreitenden Kapitalflucht hätte stoppen können. Die Regierungen waren uneinig und zögerlich ob der politischen Konsequenzen in ihren jeweiligen Ländern und so nahmen die Dinge ihren Lauf, bis die EZB im Jahr 2012 mit der Zusicherung, notfalls Staatsanleihen der Krisenstaaten in unbegrenzter Höhe aufzukaufen, der Kapitalflucht soweit ein Ende setzte.
Die Krise in Italien war damals noch nicht virulent in den Diskursen der EU und der Finanzmärkte, aber durchaus besorgniserregend.

In den USA zerbrach die politische Führung und die Zivilgesellschaft in zwei Teile, die kaum mehr als einen assoziativen Zusammenhang im Inneren etwa zwischen den Städten und Regionen des Rust Belt und denen in den reicheren in Kalifornien und New York z.B., noch weniger davon im Außenverhältnis zu Europa und den Weltmärkten, vor allem zu China auswies; Trump war die Folge. Und so kam der Austritt der USA aus den globalen Krisen Klima, Handel und Armut. Langfristig sind die politischen Lager in den USA so sehr konträr, dass eine gegenseitige Blockade stets droht, wenn die Verhältnisse im Repräsentantenhaus und im Senat sich dahingehend verschieben.

Ähnlich war und ist die Situation in England, wo der Brexit die Hälfte des politischen Willens blockiert und mit massiven negativen Folgen ökonomisch und sozial zu rechnen ist. Lager-Politik ist Blockade-Politik und das in einer Zeit, die zu mehr Integration, mindestens aber zu einer halbwegs stabilen, interessengeleiteten, Assoziierung-Politik zwingt.

Man mag ein Freund von Zahlen sein und die Armutsbericht positiv lesen, wonach der weltweite Armutsindex erfreulich rückläufige Zahlen anbietet; allein diese Lesart verdeckt den Blick auf die tatsächliche Brisanz, die auch darin besteht, dass Armut fragmentiert und sich also zeitlich und lokal derart konzentriert, dass Kriege und Migrationen neben anderen Krisenerscheinungen häufiger in bestimmten Krisenregionen und wahrscheinlicher in anderen werden.

So ist auch der globale Handel in den zurückliegenden Jahren stärker gewachsen als die Weltwirtschaft und kann aus dieser Perspektive somit als ein Wachstumsmotor verstanden werden. Jener Teil aber, der auf der Basis neuer, innovativer Technologien sich entwickelt und den internationalen Datenverkehr betrifft, geht an den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern vorbei, außer, dass diese als Absatzmärkte an der Entwicklung beteiligt sind. Und so ist es auch bei Produkten und Dienstleistungen, die ganz oder teilweise durch technologische Innovationen dynamisiert werden wie im Bereich des E-Commerce und E-Business.

Die meisten Wertschöpfungsketten sind heute extrem fragmentiert, so dass eine Produktionseinheit in der Regel völlig austauschbar geworden ist. Mit allen Folgen für die volkswirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Schwellen- und Entwicklungsländer.
Urbane Räume sind fragmentiert; London eine tägliche Assemblage des internationalen Reichtums – wo wie etwa in Mayfair selbst Millionäre arme Schlucker sind – und den Suburbs, den Stadtteilen der Armen, der working classes. Englands Hauptstadt ist lediglich noch englisch dort und in Dowing Street.

Wie einige der traditionellen deutschen Markenprodukte heute bis zu 70 Prozent aus Zulieferteilen und Dienstleistungen, die aus aller Welt kommen, besteht Londons Population in einigen Stadtteilen aus eben so vielen ausländischen Bewohnern. Globale Lieferketten und internationale Habitate, Teillebensräume, ohne Grenzen zu einem Ganzen, ökonomische wie soziale Biotope reihen sich synökologisch aneinander oder nebeneinander, bilden mit Ghettos, Suburbs, Mittelschichtshabitaten etc. einen urbanen Raum; eine Stadt im traditionellen Sinn war etwas anderes.
Also, lassen wir das romantische Reden von Vielfalt, von Diversität. Wir sitzen eben doch nicht alle in einem Boot.





Krisen im Umkehrschluss


Die Fragmentierung der großen Krisenfelder der Marktwirtschaft: Finanzkapital, Handel, Arbeit (und Bildung/Ausbildung) und Klima (und Ressourcen) sowie deren Verteilung in den globalen Wertschöpfungsprozessen und den Entscheidungen der politischen Ökonomien, vor allem in den USA, Europa und China, lassen sich nicht mehr in den traditionellen Theorien der Kapitalakkumulation oder mit Hilfe spieltheoretischer Denkmuster repräsentieren.

In der klassischen Ökonomik repräsentierte der Prozess der Kapitalakkumulation noch ein Begehren, eine Gier nach Profit aus der Natur des homo oeconomicus, die sofort und gesteigert einsetzt, wenn nur ein erster Mehrwert erreicht ist. Das exponentielle „immer-mehr“ der keynesianischen Ökonomen mit evulotionstheoretischem Hintergrund kontrastiert die andere Seite der Medaille, auf der die Mangel- und Verzichtstheoretiker, kurz die Neoklassik, sich einstellt. Sparsamkeit, Konsumverzicht, die „Schwarze Null“ oder die Austeritätspolitik unterstellt dem so gesparten, gebildeten Kapital eine innere Kraft der Entfaltung, eben eine Akkumulationsbewegung sui generis.

Natürlich ist Profit, ohne ein gewisses Quantum an Kapital, in einer Marktwirtschaft nicht zu haben. Aber, wenn es denn kein „anthropologisches“ Streben nach immer mehr Kapital gibt, wo kommt dann die Akkumulation des Kapitals her? Nehmen wir die beiden Enden der anthropologischen Implikationen zusammen in den Blick, dann sehen wir leicht, dass Klassik und Neoklassik zwei-eiige Zwillinge des gleichen Gedankens sind.

Es mangelt zur Zeit nicht an Schuldzuweisungen, wenn es um die Euro-Krise ab dem Jahr 2011 geht. 2011 war das Jahr einer Doppelrezession in Europa, die inmitten der Finanzkrise von 2008 sich ausbreitet mit all‘ den Imponderabilitäten auf den internationalen Finanzmärkten, die, wären sie nicht gewesen, dem griechischen Staat wie einigen anderen europäischen Volkswirtschaften sicherlich nicht ganz so grausam mitgespielt hätten.

So blieben laute Schuldzuweisungen mit unterschiedlichen Sündenfällen. Italien und Portugal, denen man vorwarf, nicht wirklich ihre Staatsschulden in den Griff bekommen zu wollen. Den Iren wurden mangelnde Kontrollen ihrer Banken vorgeworfen, bis man erkannte, dass dies ebenso in Spanien der Fall war. Den Griechen warf man Betrug der internationalen Investoren nach, bevor man deren leidenschaftlichen Lustgewinn aus administrativer Strukturlosigkeit, wie etwa im Steuer- und Bauwesen einerseits und andererseit an einer bis zum maroden Übereifer erfreuten Überregulierung und Bürokratie entdeckte.
Dann sah man solche lusterzeugenden Differenzen auch in Italien, wo sie eigentlich schon seit Jahrzehnten bekannt, vielleicht sogar erfunden worden, aber kaum in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung erkannt waren. Schließlich musste Deutschland zuerst beim IWF, dann in den USA des Donald T. und schließlich in Halb Europa mit England an der Spitze sich die immensen Exportüberschüsse und den notorisch ängstlichen Sparzwang vorwerfen lassen, die die extreme Schieflage der EU und des Euros mit verursachen halfen.

Alles in allem liegen die Ursachen der Eurokrise demnach in menschlichem Versagen, sei es hedonistischer oder zwanghafter Natur. Dabei ist es schon seltsam, dass ökonomische Theorien eindeutig ökonomisch motiviertes Verhalten in einer verhaltensontologischen Ursache begründet sehen. Wie wir mehrfach zeigen konnten, greifen solche Annahmen viel zu kurz. Sie decken den ökonomischen wie den politisch-institutionellen Erklärungsraum nicht ab, leuchten ihn nur spärlich aus; man sieht bei solchen Lichtverhältnissen dann eben wenig.

Wir haben gezeigt, dass es sowohl in Europa wie auch im globalen Handel keine Institutionen gibt, die geeignet wären, die Prozesse der Transformation nationaler Marktwirtschaften zu transnationalen wie globalen Wirtschaftsräumen zu steuern, zu kontrollieren und zu befördern. Die Rahmenrichtlinien, die bislang in einer bereits dynamisch sich entwickelnden Weltwirtschaft bestehen, sind mäßig, wenn überhaupt vorhanden.

So wächst die Weltwirtschaft zur Zeit mit einer durchaus robusten Rate von jährlich etwa vier Prozent, gleichwohl sind die Risiken größer denn je geworden. Eine weitere Krise im Umkehrschluss haben wir bereits eingehend beschrieben: Obwohl die meisten Schwellenländer über stabile und gute Haushalte verfügen, verlässt sie das Kapital fluchtartig, als stehe eine schwere, ökonomische Krise in den Ländern bevor.

Zur politischen Steuerung des Handels haben sich, nach einigen amerikanischen Zicken, die USA, Mexiko und Kanada auf ein neues Freihandelsabkommen geeinigt, zugleich eskaliert der Handelsstreit zwischen den USA und China und erhält fast täglich im diskursiven Widerspruchsverfahren durch Donald T. via Twitter sich selbst widersprechende Aussagen und Ankündigen.
So widersprechen sich die Ergebnisse von Bankenstresstests und politischen Aussagen zur Bankenstabilität mit solchen, die den Banken ein ‚ungenügend‘ ins aktuelle Zeugnis schreiben und die Institute schlechter denn je auf eine rezessive Krise vorbereitet sehen.

Optimismus und Pessimismus scheinen in einem fast heroischen Streit um die Vorherrschaft zu stehen, wie die Götter der griechischen Tragödie um das Gute. Alles das passiert in der Abwesenheit jeglicher Spielregeln und dem Wissen darum, wie sehr solche Not tun. Fast täglich wird den Menschen weltweit der Segen der Globalisierung verkündet, allein sie begehren dagegen auf, rebellieren oder fallen in Apathie. Wie sehr auch der globale Wettbewerb sich nicht als ein Null-Summen-Spiel herausgestellt hat, bei dem einer gewinnt, ein anderer verliert, wie sehr also darauf auch verwiesen wird, dass dabei alle Länder gewinnen, es mag keine positive Stimmung bei den Bürgern in den USA, Europa und in Teilen Asiens bezüglich des globalen Wettbewerbs aufkommen.

Drei Jahrzehnte Weltwirtschaftswachstum, in denen sich die Wirtschaftsleistung global verdoppelt, die Armut drastisch verringert hat und dies, obwohl die Weltbevölkerung stark angestiegen ist, mag viele Menschen zu keiner positiven Meinung bezüglich des Ausbaus globaler Beziehungen, weltweiter Handelskooperationen und Wertschöpfungsnetzwerken leiten. Nationalismus und Protektionismus als Triebkräfte einer Deglobalisierungsbewegung verteilen sich zur Zeit über fast alles westlichen Volkswirtschaften.

So abhängig vom Euro wie kein anderes Land der Eurozone brüstet sich Italien lautstark wie eine pubertierende Rotznase, sich an keine europäische, vertragliche Vereinbarung zur Begrenzung von Staatsschulden zu halten; von anderen Vereinbarungen und Verträgen gar nicht zu sprechen. Bereits in stürmischer See, öffnet die italienische Regierung alle Luken der europäischen Währung unterhalb der Wasserlinie. Und so imponiert auch aktuell die griechische, die unbedingt an die Finanzmärkte und damit zu einer autonomen Refinanzierung des Haushalts zurückkehren will, indem sie üppige Wahlgeschenke zur Wiederwahl im nächsten Jahr verspricht, worauf prompt die Rendite auf griechische Staatsanleihen auf aktuell fast 6% springt. Daraufhin musste Griechenland die jüngste Emission von Staatspapieren vom Markt zurückziehen.
Man wird den Eindruck nicht los, dass viele der europäischen und US-amerikanischen Regierungssitze von Replikanten aus dem Film Blade Runner besetzt sind, natürlich nicht von „Roy“, denn der hat sich ja über die Zeit hinweg weiterentwickelt: „Zeit zu sterben.“





Anmerkungen:

1 Auf der rein ökonomischen Ebene erkennt man die fortschreitende Dynamik an der schier hysterischen Transformation zu digitalen Techniken und der Künstlichen Intelligenz, auf die wir später eingehend zu sprechen kommen werden.

2 FAZ vom 29.10.2018

3 Vgl, dazu Studie zum "Zukunftsrisiko 'Euro Break-up'" (PDF), sowie
Studie zum "Zukunftsrisiko 'Euro Break-up'" 2. Auflage (PDF). Siehe dazu auch: Handelsblatt print: Nr. 208 vom 29.10.2018 Seite 034.

4 R. Ohr , W. Schäfer et al. (1992)



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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