Anthropologie der Macht
Franz Rieder • Macht-Muster, Macht-Ausgleich, Macht-Nutzen (Last Update: 22.03.2017)
Kommen wir zurück zum Milgram Experiment. Offen blieb die
Frage, worin der Widerstand gegen das Experiment bei einigen der
Probanden bestand? Was hat sich gegen die Vorstellung von Macht
widersetzt? Wäre die Antwort einfach, würden wir sie an
dieser Stelle sofort niederschreiben. Dem ist leider nicht so, aber
angesichts des Sachverhalts und dessen Tragweite lohnt es sich mehr
als genug, sich dieser Thematik erneut anzunähern.
Alles,
woran der Mensch im Sinne seiner Zivilisation glaubt, ist verbunden
mit dem, was die antiken griechischen Philosophen Tugend und wir
heute Werte nennen. Tugend bzw. Werte machen den inneren Kern, die
Qualität der Ethik aus wie ein darauf gegründetes ethisches
Verhalten.
Wir haben gesehen, dass Aristoteles wie auch vor ihm
Platon schon versucht haben, die Tugend wie den Staat in der Natur
des Menschen zu verankern. Beide folgen dabei einem teleologischen
Denken mithin in ihren Naturbegriffen.
Platon wie Aristoteles gehen dabei von der Vorstellung aus, dass in allem, was ist, eine Ordnung enthalten ist. Eine Ordnung in der Natur wie in der menschlichen Gemeinschaft, man kann auch sagen, im menschlichen Dasein, die sich mehr und mehr erfüllt, zu sich selbst kommt, in dem jedem Sachverhalt der in ihm enthaltene Zweck mehr und mehr verwirklicht wird. Und es ist eben dieser immanente Zweck, der das Wesen dieser Entwicklung letztlich ausmacht, deren Wesen erfüllt in dem seine auf die Gemeinschaft hin laufenden Funktionen als Ganze erfüllt sind.
Beide Griechen zeichnet
dabei die Einigkeit darüber aus, dass Ordnung, also eine in
ihrer Vorstellung teleologische Entwicklung weder durch Zufall noch
durch eine göttliche Intelligenz entsteht, sondern durch eine
Bewegung, die als ein in sich stimmiger Prozess reflektiert werden
kann.
Wenn aber von Reflexion an dieser Stelle die Rede ist, dann
müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der Sachverhalt oder
die Sache, um die es hier geht, zunächst einmal nur die Bewegung
des Prozesses selbst beschreibt, insofern sie dem menschlichen Dasein
zutiefst zueigen ist, keineswegs als etwas Objektives im Sinne von
Allgemeingültigkeit und Allverbindlichkeit verstanden werden
kann.
Objektivität, so wie wir sie verstehen, ist dem griechischen Denken nicht per se, aber durchaus im Sinne der teleologischen Entwicklung des Denkens aus dem Mythos über den Logos, der Aletheia, hin zum wissenschaftlichen bzw. theoretischen Denken und dessen Wahrheit als eben diese Objektivität enthalten. Und letztlich ist es das Ideal des aristotelischen Denkens als finale Form von Wahrheit, die sich im theoretischen Erkennen, wie wir sie als Wissenschaft bezeichnen, verwirklicht.
Wir halten fest, dass Wissenschaft die höchste Form des Erkennens und damit der Erkenntnis als objektive Erkenntnis und Wahrheit sich durchaus aus dem aristotelischen Denken entwickeln lässt, dieses aber in der Bestimmung von Staat und Macht als eine Vorform von Objektivität, als Gemeinsinn auf der Grundlage von tugendhaftem Dasein in der Form eines teleologischen Denken vorstellt.
Letztlich kann man sogar schon bei Sokrates wie auch bei anderen
Philosophen der vorsokratischen Zeit diese Denkform erkennen. Auf die
Frage, wie der Mensch leben soll und was denn ein glückliches
Leben letztlich ausmacht, war die Antwort zwar nicht einheitlich, in
dieser Zeit aber überwiegend: durch ein tugendhaftes Leben.
Und
so ergibt sich die Verbindung zwischen Natur, Staat und menschlichem
Dasein als ein teleologisch stimmiger Prozess. Der Staat bei
Aristoteles erwächst aus der inneren Notwenigkeit der
menschlichen Existenz als Form der Gemeinschaft, die von kleineren
Gemeinschaften zum Staat sich entwickelt, in dem die natürliche
Ermöglichung eines vollkommenen Lebens zugleich sich mit einem
vollkommenen Staat sich entwickelt. Von der Familie über die
Hausgemeinschaft (Oikos) und die Dorfgemeinschaft vollendet sich der
Prozess autark, also unabhängig, und allein in der Polis ist
eine Form der vollendeten Autarkie möglich, weil die Entwicklung
des menschlichen Daseins und die Entwicklung der menschlichen
Gemeinschaft nur ‚parallel‘ möglich sind, sollen sie
beide ihre natürlichen Ziele verwirklichen.
Die Dialektik von Mensch und Gesellschaft gründet bei Aristoteles wie auch bei Platon also letztlich in einer philosophisch-anthropologischen Bestimmung. Aber ohne dass es nachvollziehbar ist aus dessen Schriften, scheint die Entwicklung des Menschen dann doch nicht so ohne weiteres aus natürlichen Antrieben zu funktionieren. Dazu braucht es Qualifizierung, also eine Tätigkeit von außen, durch andere Personen, durch die der Mensch seine tugendhaften Fähigkeiten erwirbt und sein ethisches Verhalten auf den Gemeinsinn hin ausrichtet.
Indirekt bezweifelt Aristoteles wohl, dass der Mensch im Umgang mit den Menschen, also ‚zufällig‘ in gesellschaftlicher Interaktion tugendhaft werden kann. Wenn aber dann Tugenden verinnerlicht sind, handelt der Mensch um der Tugend willen und tut dies gern, also mit Lust. Um der Tugend willen handeln meint, dass andere Beweggründe zurücktreten. Und Lust ist dabei jedoch für Aristoteles nicht das Ziel der Handlung, sondern eine Begleiterscheinung, die sich mitfolgend einstellt. Das teleologische Momentum liegt also allein in der Tugend selbst und was eine Tugend ist, das wusste bereits Aristoteles, hängt von den historischen und gesellschaftlichen Umständen ab.
Ohne in Widerspruch mit den jeweiligen Tugenden in der Geschichte zu kommen, besitzen sie einen objektiven, universellen, also allgemeingültigen Kern aber dennoch. Die Vervollkommnung der menschlichen Natur gemäß ihren Anlagen und zum Zweck der Harmonie des Menschen mit sich selbst und in seiner Gemeinschaft der Politie, also der guten Herrschaftsformen als die wahre und legitime Mehrheitsherrschaft.
Macht-Muster
Verdeckte Fallgruben der Autarkie- und Autonomie-Vorstellungen.
Sie steckt also tief in uns, die Macht. Der Wunsch nach Macht und die Faszination, Macht auszuüben, seien im Menschen verankert wie das Bedürfnis zu essen und zu trinken, wie nach Bewegung etc. Der Wille zur Macht als anthropologische Tugend wurde nach Aristoteles in unzähligen wissenschaftlichen Abhandlungen „bewiesen“. Die Psychopathologie, die Psychoanalyse, die Neuropsychologie, um nur ein paar der adäquaten Wissenschaften zu nennen, alle haben die Macht als ‚Tugend‘ wie den Machtmissbrauch als ‚Untugend‘ wissenschaftlich belegt.
Als Eros und Thanatos hat Macht den Vorstellungsraum der (sexuellen) Lust innerhalb der Triebstruktur des Menschen (Freud) gestaltet. In seinem späteren Werk dann als Grundstruktur des menschlichen Daseins imponiert. Als autarke Entwicklung der Überlegenheit gegenüber dem Menschen wie über die Natur treffen wir sie, meist verdeckt im bloßen Gerede (Heidegger) darüber aber auch in glänzender Rhetorik wie in überzeugender wissenschaftlicher Sophistik. Dass Macht zutiefst menschliche Züge hat, also anthropomorph in der Vorstellung erscheint, dass sie zum menschlichen Dasein gehört und sich personalisiert, ja in bestimmten Personen verwirklicht, daran glauben wir fest.
Ohne diese Vorgaben wäre das Milgram Experiment anders verlaufen. Wenn also Macht als einzig politische Macht auch völlig anders bestimmt ist als in dieser Vorstellung, so ist diese Vorstellung hinreichend für das Verhalten der Probanden im Experiment. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob eine bestimmte Machtvorstellung auch der empirischen Sachlage entspricht, also ob sie wahr und objektiv gegeben ist. Es genügt die Vorstellung von Macht als handlungskonstitutiv und handlungsleitend. Wir werden im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse darauf zurückkommen.
Neben der Fallgrube der Annahme einer natürlichen Teleologie finden wir also eine weitere versteckt, die Annahme einer hierarchischen Ordnung des menschlichen Wesens mit dem Intellekt als oberster Instanz. Verdeckt das eine Denkmuster den unintelligiblen Zufall der menschlichen Interaktion als Grundlage jeder Entwicklung des menschlichen Daseins wie auch von Kultur und Zivilisation, so diese die Gedankenlosigkeit des „leeren Sprechens“ im discours général (Lacan).
In der Mehrheitsmeinung der Demokratie kommt weniger der Intellekt zur Sprache als eher die zufällige Mehrheit dessen, was geglaubt wird, insofern es den gesellschaftlichen Diskursen wie auch der Wissens- und Meinungsvermittlung der Informationsgesellschaft entspricht. Den Bereich der elektronischen Kommunikation stellen wir an dieser Stelle zurück, nur so viel halten wir fest: die elektronische Kommunikation übernimmt zunehmend den Part des gesellschaftlichen Diskurses wie der Wissens- und Meinungsvermittlung und verstärkt sich zu einer autarken Form der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung für den Menschen. Es findet darin keine Kontrolle und keine wirkliche Auseinandersetzung mit den Sachverhalten statt, gleichwohl die elektronische Kommunikation zunehmend objektivitäts-bildend wird. Für die politische Entwicklung hat das einige und massive Auswirkungen.
Teleologische wie hierarchische Denkmuster, vor allem wenn beide miteinander verschränkt sind, gewähren im Sinne der Selbstgewissheit, wie dies etwa Kant als grundlegende Gewissheit für ethisches Handeln postulierte, eben keine „freie“ Entscheidung und auch keine „Gewissheit“ für richtiges Handeln. So standen die Tugenden bei Aristoteles hernach auch unter der zentralen philosophischen Reflexion, in wie fern sie Glück und Lust, also seelische wie soziale Ausgeglichenheit und Autarkie, also Handeln nach eigenen Gründen gewähren.
Tugenden sind also jene Beweggründe, die die Einsicht in die Notwendigkeit erzeugt. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Freigebigkeit, Hilfsbereitschaft, Seelengröße, Sanftmut, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit und Einfühlsamkeit usw., wer würde diesen wichtigsten Tugenden nicht sofort beipflichten, durchaus ein gerütteltes Mittelmaß an Glück und Lust zu gewähren, glaubte er nur daran?
Ein wenig schwieriger dürfte es werden mit der höchsten Glückseligkeit, die der Mensch nach Aristoteles durch die Tugend der Weisheit (Sophia) erreichen kann. Die Weisheit scheint dann doch eher als eine Sache alter Männer verblieben zu sein, deren leibliches Glück und Lust dem biologischen Ende entgegen geht. Für Aristoteles war Weisheit im Sinne des Nachdenkens über die ersten Dinge (prima philosophia) und den Sinn des Lebens, nicht nur die höchste Tätigkeit des höchsten Vermögens des Geistes. Als theoretisches Erkennen ist es außerdem eine geistige Tätigkeit, die dem Menschen am reinsten, dauerhaftesten und ununterbrochensten möglich ist und die gleichsam das größte Glück und en passant auch noch die größte Lust verschafft.
Leider, so wusste Aristoteles, erfordert diese Tugend ein gerütteltes Maß an Energieaufwand, eine schier lebenslange Einübung und Ausübung der Tätigkeit. Und man erkennt so gleich, auch hier steht dem Glück und der Lust als Ergebnis ein erheblicher Arbeitsaufwand gegenüber. Aber alles das glauben wir ja nicht mehr, mehrheitlich. Also, warum quälen?
Macht-Ausgleich
Sehen wir auf Kant. Dieser
ausgemachte Idealist hielt letztlich von den aristotelischen Tugenden
nicht sonderlich viel. Sie waren ihm gewissermaßen zu
idealistisch. Mut als Tugend kann, so urteilte Kant, sowohl das
Handeln des Verbrechers als auch das des Polizisten bestimmen.
Tugenden sind daher zwar nützlich, aber nur relativ. Relativ in
dem Sinne, dass noch etwas hinzu kommen muss, damit sie auch in die
richtige Richtung wirken, nämlich der „kategorische
Imperativ“1.
Die
‚Tugendlehre‘ von Aristoteles wurde in der Folge von
Kants Pflichten-Ethik abgelöst. Kant versteht unter Tugend die
Pflicht des Menschen, seine ureigenste Fähigkeit zu
vernunftbestimmtem Handeln auch in der Wirklichkeit auszuüben.
Der Mensch also ist nicht tugendhaft, sondern kann tugendhaft
handeln. Er kann es auch lassen. Das ist auch seine Freiheit. Tugend
hat also kein Sein, ist nicht in der Natur des Menschen begründet,
sondern in seinem freien Willen zu vernünftigem
Handeln, was Kant als seine „Pflicht“
versteht.
Nun nimmt Kants Pflichten-Ethik aber wesentliche Elemente der Tugendlehre von Aristoteles wieder auf. Alle Tugenden so auch alle Handlungen des Menschen in sozialer, also sittlicher Absicht sind durch das sittlich Gute geleitet, also von dem, was bei Platon und Aristoteles der Gemeinsinn bzw. das Gemeinwohl hieß. Bei Kant erfährt das Gemeinwohl noch eine weitere und grundlegende Bestimmung, nämlich den kategorischen Imperativ als dessen Maßstab.
Der kategorische Imperativ ist nicht mehr Teil einer natürlichen Teleologie, also einer anthropologischen Wesenheit, sondern eine Maxime, ein Gebot der Pflicht. Er ist begründet in der Möglichkeit, vernünftig zu handeln, die für den Menschen verpflichtend sein soll mit der Sittlichkeit, also dem Gemeinwohl als einzigen sozialen Maßstab. Wie bei Aristoteles aber ist der sittliche Maßstab für sich besehen ein „Mittelmaß“; sagen wir besser die gute Mitte. Wie zwischen Feigheit und Tollkühnheit die Tapferkeit, so stehen die Mäßigung zwischen Stumpfheit und Wollust und die Großzügigkeit zwischen Geiz und Verschwendung. Das mag zunächst überzeugend wirken, aber es bleibt die Frage, was denn den Menschen zu solchem maßvollen Verhalten bringt, anderes als eine wohlgemeinte philosophische Maxime, ein gut gemeinter, philosophisch weiser Wunsch?
Die Antwort ist nicht weniger als Glückseligkeit. Aristoteles sieht die Entwicklung des Staates von der ‚Eingemeindung‘ kleinerer Gemeinschaften bis hin zu immer größer werdenden Staatsgebilden als ein Weg zur Glückseligkeit. Die Vervollkommnung der menschlichen Natur gemäß ihren Anlagen und zum Zweck der Harmonie des Menschen mit sich selbst und in der Gemeinschaft folgte also bis Kant stets der Annahme, dass dieser Prozess aus intrinsischen Kräften, eines im Menschen verankerten Strebens sich speist, wobei wir sahen, dass selbst der Erfinder desgleichen, Aristoteles, doch auch die Pädagogik bemühen musste, um den Kräften ein wenig und auf den richtigen Weg zu helfen.
Erkenntnistheoretisch betrachtet implizierte das aristotelische
Denkmodell die Entsprechung oder die Identität zwischen einem
seelischen Prozess und der Annahme einer natürlichen Teleologie
mit einem Prozess der Staatsentwicklung. Diese Identität
zwischen etwas Subjektivem und etwas Objektiven aber hat nicht nur
das Denken immer schon beschäftigt, sondern hat auch zu dem
größten Widerstand zwischen den philosophischen Modellen
und deren Verständnis von den darin aufgezeigten Sachverhalten
geführt.
Entzündet hat sich der Widerstand an dieser
Frage: wie können denn nun subjektive (seelische) Erlebnisse –
und das sind ja durchaus auch die Tugenden – übereinstimmen
mit objektiven Prozessen, also mit einem überindividuellen,
sozialen oder politischen Geschehen? Nun muss man bedenken, dass
diese erkenntnistheoretische Betrachtung wiederum etwas voraussetzt,
was eigentlich erst im Ergebnis sich begründet. Wenn Wahrheit
bestimmt ist als Identität zwischen dem Seelischen, dem
Subjektiven mit etwas Objektivem, dann wird Identität just zu
ihrem eigenen Gegenteil, zum Widersinn.
Denn bevor ich überhaupt in der Lage bin zu urteilen, dass das Objekte mit dem Subjektiven übereinstimmt, muss ich zweifellos das Objektive schon erkannt haben, um dann ein angemessenes Urteil über das Subjektive abgeben zu können. Die Demontage dieses erkenntnistheoretischen Zirkelschlusses aber ist mithin nicht das, worum es Kant in seiner deontischen Ethik (Pflichten-Ethik) ging. Die kantische Pflichten-Ethik geht mit der Frage: was soll ich tun? noch viel weiter, als in der Infragestellung der Begründung von Mensch und Staat aus der Natur des Menschen selbst heraus.
Kant formulierte gegen die
Tugendlehre eine Pflichten-Ethik, die auf der Grundlage einer
Werte-Ethik existiert. Erkenntnistheoretisch folgte Kant der
Erkenntnis, dass Erkennen zuvörderst Urteilen ist. Jede Wahrheit
entspringt somit als Urteilswahrheit. Urteilen aber ist zunächst
auch einmal nichts anderes als Affirmation (Bejahen) und Negation
(Verneinen), wie wir an anderer Stelle schon eingehend vorgetragen
haben. Affirmation ist nicht nur einfaches Bejahen eines
Sachverhaltes, sondern auch ein grundsätzliches Anerkennen und
alles, was anerkannt ist, ist somit zugleich auch ein Wert. Und eben
dieser Wert drückt das aus, was ist oder was sein soll. Nimmt
man die Präsenz dessen was ist, als das, was im Wert ist, dann
bräuchte es nichts weiter, als dass man sich daran hält.
Da
Urteilen aber auch Negation ist, enthält das erkennende Urteilen
auch eine gewissermaßen „zweite“ Präsenz, also
etwas noch-nicht Seiendes, etwas, das aber sein soll. Die Wahrheit
ist dann gedacht als ein Wert, als ein Anerkennen in seinem
Soll-sein.
Macht-Nutzen
Die aristotelische Tugendethik kann man durchaus als das erste durchdachte Gegengewicht gegen Machtmissbrauch lesen. Die Fokussierung auf die richtige, weil sozial und politisch erwünschte Handlung stellt sich hierbei heraus als Frage nach den richtigen Charaktereigenschaften eines Menschen und seinen sozialen Einstellungen. Wir sahen, dass es eine Begründung aus einer natürlichen Teleologie nicht gibt, aber durchaus die Hoffnung, dass wenn der Mensch seinen Charakter wie seine Einstellungen nun nachhaltig durch soziales Lernen und Didaktik eingeübt hat, er dann auch in Entscheidungssituationen in der Lage sei, angemessen zu handeln.
Wir mussten dieser Hoffnung doch einigen Zweifel entgegensetzen, sahen wir am Milgram Experiment doch leider nur zu deutlich, dass Charaktereigenschaften und soziale Einstellungen letztlich wenig zur gewünschten Handlung beigetragen haben. Und dies gilt für alle Spielarten der Ethik und davon gibt es einige. Gleichwohl wir uns diese Formen der Ethik unter unserem Thema Macht nicht alle eingehend betrachten müssten, wollen wir aber kurz entscheidende Annahmen und Bestimmungen derselben festhalten, da diese für unsere folgenden Betrachtungen zu ökonomischen Systemen innerhalb unserer Gesellschaft und damit auch unterhalb bestimmt politischer Machtstrukturen und -verhältnisse durchaus eine nicht unwichtige Rollen spielen werden.
Schauen wir kurz auf den sog. Konsequentialismus.
Unter diesem Begriff für einigermaßen unterschiedliche
Theorien der Ethik versammeln sich die Vertreter, die den moralischen
Wert einer Handlung aufgrund ihrer Konsequenzen beurteilen. Moralisch
positiv ist demnach alles, was einen positiven Zweck ausweist und so
hinterließ uns der Konsequentialismus auch den Spruch: „Der
Zweck heiligt die Mittel“, der heute als Leitspruch oder
wie einige seiner zahlreichen Variationen, etwa: der
Erfolg heiligt die Mittel über vielen
politischen wie ökonomischen Handlungen stehen dürfte.
Zurück
gehen diese Theorien der Ethik auf keinen geringeren als auf Niccolò
Machiavelli, dem zufolge zur Erlangung oder Erhaltung
politischer Macht jedes Mittel unabhängig von Recht und Moral
erlaubt ist. Der Machiavellismus kam eben zu jener Zeit der
Renaissance auf, als man in Europa und auch im italienischen Florenz
Platon und Aristoteles wieder entdeckte. Seine negativen
Konnotationen, die uns heute mit seinem Namen einfallen und dessen
Annahmen heute auch fast durchgängig von allen Seiten abgewertet
werden haben sicherlich viel zu tun mit seiner Philosophie eines
politischen Realismus, der die Auffassung vertritt, dass politische
Herrschaft bzw. politische Handlungen keinen moralischen oder
ethischen Kriterien unterworfen werden sollen wie auch die Kategorien
‚Wahr‘ und ‚Gut‘ im Handeln selbst zu Gunsten
des Wertes der Nützlichkeit
aufgegeben werden sollen.
Dass das Ziel der Sicherung des eigenen Erfolges des Herrschers dabei durch uneingeschränkte Macht, durchgesetzt mit Gewalt, durch unkontrollierten Machtgebrauch und unbegrenzten Machterwerb legitimiert sein kann, bringt natürlich jeden Bürger heute auf die moralische Palme. Ob aber Wahr und Gut, moralische und ethische Werte heute politisches und ökonomisches Handeln wirklich bestimmen, und wenn überhaupt, in welcher Form, wird noch zu besprechen sein.
Wie aus den letzten kurzen Anmerkungen schon ersichtlich wurde, ist es schwer, den Konsequentialismus von den Vorstellungen des Utilitarismus und des ethischen Egoismus‘ klar zu differenzieren. Der Utilitarismus schaut darauf, dass durch die Konsequenzen einer Handlung der Gesamtnutzen aller ethischen Subjekte größtmöglich sein soll und der ethische Egoismus schaut vor allem auf den persönlichen Vorteil. Politisches wie ökonomisches Verhalten, darin scheint man ja übereingekommen zu sein, betrachtet seine Handlungen auch je nachdem, wie der Gesamtnutzen oder der persönliche Vorteil bestimmt werden. Und dabei stehen vor allem Betrachtungen im Vordergrund, ob der Nutzen bzw. der Zweck lang- oder kurzfristig, global oder lokal, auf Wohlstand und Wachstum oder auf Selbstentwicklung – heute wird sogar von Selbstoptimierung gesprochen – bezogen ist.
Selbstverständlich ergeben sich bei dieser Herangehensweise recht unterschiedliche normative Systeme, die zwischen Ökonomie und Politik stark differieren können. Der utilitaristische Ansatz (lat. utilitas, Nutzen, Vorteil) wird meist als eine Form des zweckorientierten Handelns und damit als eine teleologische Ethik diskutiert, die in verschiedenen normativen Varianten auftritt. Grundsätzlich gilt, dass eine Handlung genau dann ‚moralisch‘ richtig ist, wenn sie den aggregierten Gesamtnutzen, d.h. die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen, maximiert.
In der Wirtschaftswissenschaft realisiert sich diese Form einer teleologischen Ethik sozial-ökonomisch, wie wir sehen werden als eine Kombination aus dem Pareto-Prinzip und der Grenznutzentheorie. Und es ist wohl kein Zufall, dass der Utilitarismus in England entwickelt wurde, von Jeremy Bentham vor allem in der Sozialphilosophie und durch John Stuart Mill in der Ökonomie. Da England zu jener Zeit das einzige Land in Europa war, wo die ökonomische Entwicklung und die soziale Entwicklung unbedingt übereingebracht werden mussten, hat sich der Utilitarismus auch dort zuerst systematisch entwickelt in seiner Anwendung auf konkrete Fragen der menschlichen Arbeitswelt.
„Mit dem Prinzip des Nutzens ist
jenes Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt
oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück
derjenigen Gruppe zu vermehren oder zu vermindern, um deren
Interessen es geht […] Mit ‚Nutzen‘ ist diejenige
Eigenschaft an einem Objekt gemeint, wodurch es dazu neigt,
Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück zu
schaffen.“2
Wir
erkennen hier sogleich, dass unter ökonomischen Gesichtspunkten
die Begriffe ‚Nutzen‘ und ‚Nützlichkeit‘
bzw. ‚Benefit‘ und ‚Utility‘ durchaus
unterschiedliche Bedeutungen annehmen können.
Anmerkungen:
1 Der kategorische Imperativ, im System Kants das grundlegende Prinzip der Ethik, lautet in seiner Grundform: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
2 Vgl: "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" (1789 u. s.u. Originaltext) Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung. Senging, Saldenburg 2013, ISBN 978-3-9815841-0-3 (Originaltext) John Stuart Mill: Utilitarianism/Der Utilitarismus. Englisch/Deutsch. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-018461-5.
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