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Under my thumb

Franz Rieder • Unterwegs zum vollkommenen Staat   (Last Update: 22.03.2017)

„Alles fließt“ einem in den Händen davon. Dies mag bis heute als eine der Urängste gelten, vielleicht die wesentlichste aller Ängste, mehr noch, als die Angst vor dem Tode. Aber wir haben uns bislang nicht auf die Seite derer begeben, die das Werden und Vergehen aus einer psychologischen Sicht heraus verstehen wollten.
Die psychologische Sichtweise hat ihren Ursprung in der Philosophie des Aristoteles, genauer in seiner Schrift: De Anima. Hier ist die fundamentale Bestimmung der Psychologie des Menschen als ein Strukturzusammenhang bestimmt, der, so einigermaßen geordnet und stabil, Glück und Gesundheit garantiert. Zerbricht die Struktur, folgt Chaos, Unglück und Krankheit.

Der Strukturzusammenhang ist nach Aristoteles gebildet aus den Ebenen: Intellekt, Emotionalität und der Ebene des Trieb-Bedürfnisbereich, den man aber nicht gleichsetzen sollte mit dem Bereich der „Triebhaftigkeit“ etwa bei Freud oder anderen Vertretern der Psychoanalyse. Für Aristoteles ist es ganz generell gesagt die Ebene der Körperlichkeit, die er neben den Ebenen der Emotionalität und des Logos, Denken, Intellekts sieht.

So sind aber die Ebenen noch längst nicht strukturiert im Sinne von geordnet und sie müssen das in ihrer „natürlichen“ Art auch nicht sein. Das hatte Aristoteles gar nicht im Auge. Denn nur aus der Sicht der „Gemeinschaftsfähigkeit“ des Menschen, also der Polis, entwickelt sich die Frage, wie denn diese Ebenen strukturiert sein müssen, damit ein (zivilisiertes) Zusammenleben in einer Gesellschaft überhaupt möglich wird.

Dabei sollen sich Intellekt, Emotionalität und Körperlichkeit des Menschen entwickeln können und zwar je nach Alter, Talent, Status in der Gesellschaft etc. also den natürlichen Vorgaben des Menschen, die allesamt nicht gleich, sondern unterschiedlich sind. Und sie sollen nicht in einen verheerenden Konflikt untereinander geraten, sich wechselseitig stören oder bekämpfen.

Sieht man genauer hin, dann finden wir hier bei Aristoteles zunächst eine grundlegende Bestimmung der Seelenlehre auf der Basis einer kategorialen Trennung zwischen drei Ebenen: Denken, Emotion und Körper. Darauf aufbauend entwickeln sich diese Bereiche der menschlichen Existenz nun auch verschieden voneinander und interagieren von sich aus zunächst gegeneinander.

Wir haben es also gewissermaßen mit dem Gedanken einer natürlichen Spezialisierung zu tun, die auch gewissermaßen eine Art von Arbeitsteilung vorstellt, bei der aber keinerlei Gemeinschaftssinn, keine sozial vertretbaren Fähigkeiten zu erkennen sind. Der Mensch neigt so zunächst einmal zu einem psychopathologischen Wesen, das weder gemeinschaftsfähig noch „selbstfähig“ ist.

Damit der Mensch nicht an sich selbst zugrunde geht braucht es eine ordnende Kraft oder wie Freud schrieb: wo Es war soll Ich werden.1 Diese ordnende Ebene kann natürlich nicht außerhalb des Menschen liegen und insofern war Aristoteles kein Zivilisationstheoretiker, sondern nur in der Natur des Menschen. Und die sieht er natürlich im Denken selbst, aber nur so, dass das Denken im Sinne des Logos tolerant ist, also der Körperlichkeit des Menschen wie seinen Emotionen gegenüber Rechnung trägt.

Seine Funktion also ist nicht die der Verdrängung bzw. der Verleugnung, sondern der Steuerung. Der Logos hat also neben anderen die Aufgabe, die Gemeinschaftsfähigkeit der Triebe, der körperlichen Bedürfnisse, der Emotionen in ihrer ziellosen, ungehemmten Entwicklung einzudämmen und auf die Polis hin zu steuern.

Unschwer zu erkennen sind bis hierher, dass Aristoteles der menschlichen Natur auf allen Ebenen an und für sich jede Gemeinschaftsfähigkeit abspricht. Selbst mit dem Logos, so er sich „ungebildet“ aus sich selbst heraus entwickelt, ist aus der Sicht der Polis kein „vernünftiger“ Staat zu machen. Wir werden an andrer Stelle eingehender uns mit diesem Punkt beschäftigen, haben dies aber bereits grundlegend schon in den Anfangskapiteln mehr als nur angerissen. So viel sei hier nur festgehalten, dass selbst bei Aristoteles und dies kann nahtlos zu Platon zurückverfolgt werden, der Logos nicht an sich schon „wahr“ und „gerecht“ ist, sondern wahrheitsfähig und gemeinschaftsfähig, was ja durchaus schon etwas ist.2

Da wir nun wissen, welcher Ebene die antiken griechischen Philosophen überhaupt eine politische Kompetenz zusprechen – und es ist dann natürlich auch zugleich die „oberste“ Ebene in der Hierarchie der menschlichen Seele – die aber zugleich ihre Politik-Fähigkeit als Toleranz ausweist. Gegenüber jedem einzelnen Menschen wie gegenüber allen. Wie für Platon mussten Weltseele und menschliche Seele, also das Allgemeine und das Besondere in einem direkten Verhältnis stehen. Die Frage also war, wenn der menschliche Intellekt grundsätzlich politikfähig ist, sich aber nicht in jedem Menschen schon an und für sich als solcher entwickelt hat, wessen Intellekt also soll die Gemeinschaft zu einem vernünftigen Gemeinwesen steuern bzw. politisch führen?

Denn noch ist die grundsätzliche Gemeinschaftsfähigkeit noch kein vernünftiges Staatsgebilde. Wie kommt man zu einem gerechten Staat? Also einem Gemeinwesen, das dem Menschen wie der Gemeinschaft aller Menschen gerecht wird?


Daumenschrauben

War der Logos bei Platon noch ein glanzvolles, wenn auch nicht perfektes Abbild der göttlichen Idee und bei Aristoteles immerhin noch als nunmehr a-privativum auf deren Spur, so wurde ihm nun im Auftrag des Gemeinwesens eine leidige Aufgabe zugeteilt, nämlich im Binnenverhältnis der hemmungslosen menschlichen Seele wie im Außenverhältnis eines illegitimen Machtwesens die Daumenschrauben anzulegen und, bei Zuwiderhandlung ordentlich festzuziehen.

Hätte man damals den Logos gefragt, ob er diese Aufgabe denn überhaupt übernehmen wollte, seine Antwort wäre wohl negativ ausgefallen. Ständig sich um der Sache der Allgemeinheit willen mit den Emotionen und Trieben im eigenen Haus anlegen, um dann noch der ganzen Gemeinde ständig Gesetze des Verhaltens, also eine Ethik der Einschränkung vorzulesen, wer will das schon?

Und überhaupt, sich um beides zu kümmern, nämlich was ein gerechter Staat sei und was ein guter, weil auf das Gemeinwohl hin lebender Bürger sei, dürfte dem Logos einiges an Kopfzerbrechen bereitet haben.

So fokussierte Aristoteles (Pol. III) auch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bei der Frage, wie Staat und Bürger am besten zusammen zu bringen sind. Dabei beruht der Staat zuallererst auf einer Idee der Gerechtigkeit, die, operationabel gemacht, sich in einer Verfassung (Politeia) niederschreibt, also auf einer Festlegung dessen, was ein einzelner Bürger und alle Bürger zusammen tun sollen und tun dürfen.

So versteht Aristoteles den Staat als ein Verbund von Bürgern, der sich als eine Organisation von Rechten und Pflichten, diese verstanden als gemeinsame oder öffentliche Aufgaben, realisiert. Und jene Rechte und Pflichten, die ja der Logos selbst festlegt, können daher auch nur in einer Verfassung Ausdruck finden, die selbst wiederum der Natur bzw. der Vernunft des Menschen am nächsten kommt.

Im guten Sinne der Philosophie musste natürlich Aristoteles den legitimen Staat von dem illegitimen Statt klar unterscheiden. Und wenn der legitime Staat auf der Basis menschlicher Vernunft ruht, dann gab es auch eine ideale Verfassung (Pol. VII) und eine, die dieser Idee unter ‚guten Bedingungen‘ noch am nächsten kommt.

In gewisser Weise und auch gar nicht so sehr seinem Naturell als Philosoph entsprechend, zwang die Politeia Aristoteles zu empirischen Betrachtungen, die weit noch über die in der Psyche schon aufgemachten empirischen Betrachtungen hinaus gingen.

Das aristotelische Schema der möglichen Staatsformen hat die Betrachtung auf die in ihr liegenden Aporien ausgeklammert, ist aber durch die schematisch einfache Unterscheidung von sechs möglichen Staatsformen nicht nur zu einer, in der gesamten europäischen Geschichte maßgebenden Denk-Figur geworden, sondern nahm dann gleich noch den Rang einer inneren politischen Triebkraft ein. Die politische Entwicklung Europas scheint so bis heute aus dem aristotelischen Schema zu entspringen, das drei legitime und drei illegitime Staatsformen als überhaupt denkbare Staatsformen aufzählt.
Legitim ist, was das Gemeinwohl befördert, am Gemeinwohl orientiert ist. Gegen dieses Interesse der Regierten steht klar abgegrenzt jene illegitime Staatsform, die herrschaftsorientiert, also im Interesse der Regierenden sich realisiert.

Bis hierhin zählten wir aber nur zwei Staatsformen, die legitime und die illegitime. Sechs Staatsformen ergaben sich allein durch die jeweilige Kombination der legitimen oder der illegitimen Staatsform mit einem rein quantitativen Kriterium, nämlich der Zahl der jeweils Regierenden. Diese konnte ein Regierender sein, mehrere oder die gesamte Bürgerschaft, die natürlich nicht zugleich alle Bürger meint, sondern eine repräsentative Menge daraus.

So unterschied Aristoteles folgende, legitime Staatsformen und sah dabei die Monarchie als eher gemeinwohlorientiert an, in der es einen Regierenden gibt. Die Aristokratie zählt mehrere, am Gemeinwohl orientierte Regierungsmitglieder und die Demokratie (Politie) erfüllte seinem Schema nach die gesamte Bürgerschaft3. Nur müssen wir an dieser Stelle festhalten, dass hier die Gesamtzahl der Vollbürger einer Polis adressiert sind, also alle jene Bürger, die sich im Besitz der vollen Bürgerrechte befinden. Sehen wir so dann auf die illegitimen Staatsformen, dann wird sogleich deutlich, dass durch diese Bestimmung der Demos eine unüberbrückbare Segregationslinie gezogen ist.

Ist die Staatsform der Tyrannis dadurch gekennzeichnet, dass ein Herrscher im eigene Interesse regiert und die Oligarchie, dass mehr als eine Person, also einige wenige oligoi4 in die eigene Tasche wirtschaften, so bekommt die Demokratie hier einen negativen Sinn, nämlich als Ochlokratie. Aber wer ist denn diese Pöbelherrschaft anderes, als die Masse der Bevölkerung, die damals gebildet wurde aus den Armen, den Abhängigen, den Sklaven und Frauen, also auch all jene nicht Vollbürger „ohne Haus“, die dann später aus der Erbenregelung herausfielen, weil das Erbe die „Häuser“ der Erben, so da mehrere waren nicht mehr unterhalten konnte.

So war die Masse der Bevölkerung im antiken griechischen Staat, immerhin Vorbild der gesamten europäischen Staatsgeschichte und damit auch des Staatsverständnisses, aber nicht nur einmal stigmatisiert. Denn neben der politischen Stigmatisierung kam noch die soziale und kulturelle Stigmatisierung hinzu. Die óchlos galten als nur im eigenen Interesse, also gegen das Gemeinwohl und so gegen den Vollbürger handelnde Menschen. War der Vollbürger von Natur aus tugendhaft, so sein ‚Mitbürger‘ eine gesetzlose, tugendlose, hemmungslose Masse.


Hausmacht

Unterwegs zum vollkommenen Staat.

Interessant an dieser Stelle ist, sehen wir kurz zurück auf Platon, der die Politeia aus der Idee des vollkommenen Staates entwickelt hat. Man kann sogar sagen, dass mit Platon auch jenes antike griechische Denken endet, konsequent jeden Wirklichkeitsentwurf aus einer absoluten Idee zu entwickeln; zumindest den Versuch zu wagen.

Platons Staat basiert auf der Idee einer gerechten Ordnung. Vollkommenheit gehört zu Gerechtigkeit wie umgekehrt, geht es um ein vollkommenes Staatsgebilde. Platon sieht die Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten begabt, woraus schon im Kindesalter sich eine spätere Standeszugehörigkeit entwickelt.
Uns geht es an dieser Stelle nicht darum, die einigermaßen starre Vorstellung einer Entwicklung menschlicher Fähigkeiten zu betonen. Auch Platon sah in einem gewissen Rahmen die Einflüsse von Bildung, natürlich vor allem der philosophischen Bildung im Lehrer-Schüler-Verhältnis und auch eine Reihe anderer, äußerer Entwicklungseinflüsse.

Uns geht es um seine Idee vom vollkommenen Staat selbst, und die bestimmt Platon als eine Aufgabe, neben der militärischen Verteidigung, alles zu tun, damit jeder Mensch seine Fähigkeiten so gut wie nur möglich innerhalb des Staates entwickeln kann. Und neben der Tugend soll auch jeder Mensch eben den Beitrag zur Gemeinschaft leisten, der ihm möglich ist – wir denken hier auch an den berühmten Satz von J.F. Kennedy: Frage dich nicht, was dein Staat für dich, sondern, was du für deinen Staat tun kannst.  Diese Bedeutung hat das platonische „Jedem das Seine“ und gerade nicht die umgekehrte, die man heute so gerne mit diesem Zitat belegt.

Gemäß seiner Seelenlehre sah Platon die Ordnung der Seelenkräfte in der Welt bzw. im Staat als Ordnung der Stände (Ordnung der Tugend) verwirklicht. Und wir erinnern daran, dass Verwirklichung im platonischen Denken immer im Sinne eines a-privativums gedacht ist, also als zwar mangelhafte, aber in ihrer Richtung richtiger Realisierung einer Idee.
Entwicklung bedeutete bei Platon – und dies ist leider bis heute auch die mit Abstand häufigste Denkfigur – Entwicklung von einem weniger zu einem mehr entwickelten Sachverhalt und kann so fortan nicht anders als in hierarchischen Vorstellungen gedacht werden. Wir werden dem im Kontext von technischer Entwicklung, ökonomischem Fortschritt und Wachstum etc. wieder begegnen.

Platon sieht die Stände der Politeia in dieser Ordnung. Oberster Stand sind die Weisen – ach war das schön – die die Aufgabe haben, die konstitutiven Ideen so weit wie möglich zu erkennen und hieraus Begriffe für das Gemeinwesen zu entwickeln. Voran die Idee der Gerechtigkeit. Sie, die Philosophen und später die in den Wissenschaften Gebildeten stehen dem Gemeinwesen voran. Ihre Tugend sei die Weisheit.

Sie entwerfen aber letztlich die Gesetze für den Staat, die Stände und den einzelnen Menschen und helfen dabei, einen „Rechtsstaat“ zu entwerfen und zu realisieren. Es wäre falsch, Platon darauf zu reduzieren, dass er von „Philosophenkönigen“ und dann auch von einem Staat von „Wissenschaftlern“ gesprochen hat. Letztlich herrschen bei Platon die Nomoi11, die Gesetze. Und selbstverständlich ist auch die Staat ein a-privativum, also ein „zweitbester“ Staat, gemessen an der Idee eines vollkommenen Staates.

Hierarchisch unter der „Gesetzgebung“ steht der Stand der „Wächter“, die der Gesetzgebung unterstellt sind. Sie sind Staatsbeamte, müssen sich also keiner Subistenzwirtschaft aussetzen und sind so loyal. Platon sah die Schwierigkeit, dass die „Wächter“ durchaus auch untereinander nicht gleich sind und es also unter ihnen zu Zwistigkeit, ja zum Streit kommen könnte, was ein wesentliches Element des Staatsgebildes ins Wanken bringen könnte. Damit also die „Selbsterhaltung“ des Staates, im Krieg wie im Frieden auch so gut wie möglich funktioniert, ordnete Platon den Stand der Wächter in „Kommunen“. Kommunen sollten kein Privateigentum besitzen und keine Familien aufbauen. Zu ihnen gehörten aber durchaus auch Frauen, gleichberechtigte Frauen, aber nur In Friedenszeiten. Sie hatten also keine militärischen Aufgaben zu verrichten, alle anderen aber gleich wie ihre männlichen Kommunarden.

Wenn der ein oder andere hier bei Platon den Ursprung der Idee des Kommunismus als Staatsform herauslesen möchte, dann sollte doch selbst den voreiligsten Gemütern noch schneller deutlich werden, dass die „Kommune“ bei Platon zwar eigentums- und besitzlos erscheint, ihre Mitglieder wie sie selbst als Organisation (Stand) der „Gesetzgebung“ unterstellt sind. Was Platon hier vorschwebt, nenne wir eine Berufsarmee mit direkt militärischen und indirekt militärischen Aufgaben. Ihre Lösung von Privatbesitz und Familie galt ihrer bedingungslosen Loyalität, also Aufgabenerfüllung gegenüber dem Gemeinwesen. Ihre Tugend: die Tapferkeit war in der platonischen Logik der staatlichen Arbeitsteilung ein höchst rationales „Geschäft“. Die Wächter erhielten die zeitlich uneingeschränkte Gewähr des Lebensunterhalt und zahlten im Kriegsfall mit ihrer Tapferkeit zurück, was den eigenen Tod einschloss.

Der dritte Stand und damit unter den Wächtern stehend, war bei Platon der Stad der Bauer und Handwerker, im Prinzip alle, die für das eigene wie für das Leben der Gemeinschaft sorgenden, arbeitenden Menschen. Sie sind in Familien organisiert, haben Privateigentum, wie es in den Oikoi (Häuser) gegeben ist. Ihre Tugenden sind Maß und Rechtschaffenheit, an denen sich ihr Handeln orientieren soll.



Machtverständnis

Macht mal halblang.

Zurück zu Aristoteles. Sein Staatsverständnis ist in einer gewissen Weise eine Lesart und Weiterentwicklung der Bestimmung von Staat und damit von Macht, wie Platon sie uns hinterlassen hat. Und wie so oft ist aus dem Licht eines nachfolgenden Philosophen der Vorgänger um so besser zu verstehen, haben wir doch Platon nun aus der Sicht des Aristoteles vor uns. Selten, aber durchaus gibt es den Fall, dass der Vorgänger aus der Sicht eines Nachfolgers um so deutlicher und auch bedeutender in seinen Gedanken für uns wird.
So lesen wir nun die Kritik und die Weiterentwicklung der Politeia als das aristotelische Modell, das unmittelbar Bezug nimmt auf die Ausführungen von Platon.

Aristoteles fokussiert die platonische Staatsform auf die Herrschaft der Vernunft über die „Ungleichen“, also jene, die zum Oikos, zum Besitz des Vollbürgers gehören, aber selbst keine Vollbürger sind. Er belässt es bei der Unterscheidung zwischen Vollbürgern und den diesen gegenüber „Ungleichen“, trägt dabei aber der Tatsache Rechnung, dass Macht als zeitlose Instanz den Gemeinsinn aus den Augen verlieren kann, also zeitlich begrenzt werden muss.

Der aristotelische Staat versteht Macht also grundsätzlich als eine Möglichkeit des Machtmissbrauchs, den es zu verhindern gilt durch eine dem sich widersetzende Organisation und zu kontrollieren gilt, durch abwechselnde Herrschaft, nicht der Form nach, aber der Repräsentanten. Wenn Macht grundsätzlich aber schon eine Möglichkeit des Missbrauchs von Macht zum Unwohlsein der Gemeinschaft einschließt, dann ergibt sich die Frage von allein, ob nicht im Grundverständnis dieser Form von Macht in ihrer staatlichen Organisation nicht selbst schon ein schwerer Konstruktionsfehler liegt?

Aristoteles bestimmte ja seine Vorstellung von Staat gegen die platonische Staatsform, die er besser passend zum Oikos wähnte. Aristoteles sah aber nicht die wirklichen inneren Widersprüche eben dieser Machtvorstellung im Oikos und konnte sie auch sodann nicht wirklich überwinden. Seine Vorstellung der Überwindung der zu engen, undifferenzierten platonischen Staatsform gründete allein in der Einführung von Machtkontrolle durch abwechselnde Machtrepräsentanten.

Auf der „obersten“ Ebene der Macht, der politischen Macht also, blieben die platonischen Vorstellungen einer Form der Machtausübung im Sinne der Idee des „Gemeinwohls“ auch bei Aristoteles erhalten, allein der ’naive‘ Glaube an die Dauer einer an sich guten Idee erfuhr eine Abkehr durch planmäßige Kontrolle eines möglichen Machtmissbrauchs.

So ist die Philosophie gewohnt, unterschiedliche Ideen bzw. Vorstellungen eines Sachverhaltes zu reflektieren und nach der „besseren“ dann Ausschau zu halten, die dann wiederum umgesetzt als so realisierte Vorstellung erneut betrachtet und „verbessert“ wird. Diesen Denkweg von der Idee zur Wirklichkeit der Idee geht aber nicht nur die traditionelle Philosophie, sondern das Denken selbst in dieser, seiner abendländischen Tradition.

Bei Aristoteles sehen wir unterhalb der Idee des Gemeinwohls und der in der Polis verwirklichten abwechselnden Herrschaftsform von Repräsentanten des antiken, griechischen „Vollbürgertums“ zugleich auch eine Vorstellung, auf welchem Fundament der Staat organisatorisch aufgebaut sein soll. Seine Kritik an der Eigentumslosigkeit trifft Platon aber nur peripher, da dieser jene nur im Stand der Wächter und dort nicht ganz so unbegründet sieht.

Aristoteles formuliert das Organisationsprinzip des Staates als das, das aus selbständigem Handeln und Privateigentum aller Vollbürger betrieben wird. Durch selbständiges Handeln mit dem Ziel von Privateigentum und oder dessen Erhalt sieht Aristoteles nicht nur den Staat in seiner Organisation, bestehend aus selbständigem Bürger, Eigentum und Familie (Oikos), sondern auch diese Organisation als differenzierende Einheit. Differenzieren deshalb, weil eben das Privateigentum als Interesse und als Sorge um seinen Erhalt zugleich auch die grundlegenden Möglichkeiten der Entwicklung der Tugenden beinhaltet.
Wie das Interesse aber an das „Eigene“ und die Sorge um seinen Erhalt die oberste Tugend des Gemeinsinns befördert, blieb dunkel. Selbst wenn man die aristotelische Tugendethik zu Rate zieht; aber dazu später mehr.2

Ganz im Sinne dieser „Top-Down“ Bestimmung und horizontalen Ausdifferenzierung fügt sich auch die Überlegung von Aristoteles in dessen Staatsverständnis ein, als durch die grundsätzliche Selbständigkeit der Vollbürger und deren gewährter Freiheit, Eigentum zu erwirtschaften, ein politischer Sprengsatz entsteht, den wir heute mit dem Ausdruck: desintegrative soziale Schichten belegen.

So befördern Eigentum und Selbständigkeit, also materielle Selbstbestimmung nicht per se die politische Integrität der Polis, den Gemeinsinn, sondern auch dessen Opposition. Es bilden sich soziale Schichten aus Reichen und un(aus)gebildeten Armen, die auf der Basis des Demos, also der repräsentativen Mehrheitsorganisation der Politeia an die Macht streben. Und dies wiederum kann zur Herrschaft der Reichen in Form von Oligarchien oder zur Herrschaft der Armen in Form der Ochlokratien führen.

Dies sieht also Aristoteles sehr genau und hat, wie es einem ausgesprochenen Realisten gebührt auch gleich einen Vorschlag für die Lösung. Ihm schwebt eine, ganz im Sinne seiner Tugendlehre mittlere Eigentumsverteilung vor, also die Verhinderung von all‘ zu großen Reichtümern durch Streuung mittleren Eigentums, sowie die Verhinderung all‘ zu zahlreicher Armer durch staatlich verordnete, materielle Zuwendungen durch die Reichen, etwa für Mahlzeiten, Übernahme der Kosten für religiöse Feste und natürlich für Rüstung und Verteidigung etc.3

Wer hier die aufkeimenden Elemente der Idee einer sozialen Marktwirtschaft auf der Grundlage einer mittelstandsorientierten, liberalen Privatwirtschaft herausliest, liegt wohl kaum falsch. Und so ist der Staat bei Aristoteles eine staatsbürgerliche Demokratie, in der alle Vollbürger gleichberechtigt beteiligt sind, sowohl an der Herrschaft wie auch der Einschränkung der Macht durch zeitlich begrenzte, politische Staatsämter.4

Der ideale Staat bei Aristoteles ist also eine Gesetzesherrschaft in Form einer zeitlich begrenzten, wechselnden Staats-Beamten-Demokratie, wobei die Macht-Funktionen, heute die Gewalten, nicht personal, allenfalls funktional getrennt sind. Gesetzgebung, Regierungsämter und Rechtsprechung sieht er durchaus als getrennte Bereiche, weniger als bestimmten Personen oder Amtsträgern auf der Grundlage besonderer Qualifikation zugeschrieben.

Qualifikation bleibt bei Aristoteles ein Anliegen der Erziehung. Die Didaktik der ethischen Tugenden – im Unterschied zu den Verstandestugenden (dianoetische Tugenden – Klugheit, Kunstfertigkeit, Vernunft, Weisheit, Wissenschaftlichkeit) – hat dabei zum Ziel die Beherrschung der Triebe und Affekte, sowie auch alle anderen körperlichen Bedürfnisse und soll so den Handelnden unabhängiger von einer nur auf Befriedigung der Lust und körperlichen Bedürfnisse sowie der Vermeidung von Schmerz ausgerichteten Verhaltensweise machen. Um ethisches Verhalten auf die Tugenden – heute würden wir von Werten sprechen –  auszurichten, bedarf es der Erziehung, die unsere Tugendvorstellungen bzw. Moralvorstellungen ausbildet und so unsere moralische Sensibilität erhöht und damit Einfluss auf die ‚Qualität‘ unserer Handlungen nimmt.



Anmerkungen:

1 Vgl. Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 1. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 31. Vorlesung S.496 ff

2 Wir haben bereits darauf verwiesen, wie die antiken griechischen Philosophen unterschiedlich den Begriff "Wahrheit" bestimmen. In diesen Kontexten war die Lesart der a-letheia von zentraler Bedeutung bzw. die Bestimmung des a als ein a-privativum. Aristoteles hält darin etwas fest, was Platon schon aufzeigte und die antike griechische Philosophie (fast) generell kennzeichnet. Sie hatten einen "negativen" Ausdruck für etwas, was wir heute nur als "positiv" verstehen. Wahrheit wie Vollkommenheit, das Gute, Schöne etc. waren insofern alle Ausdrücke für etwas, was noch nicht war, was es ein könnte,, was es sein sollte oder was der Mensch sich wünschte.

3 Demos (griechisch δῆμος dēmos „Staatsvolk“, im Gegensatz zu ἔθνος éthnos „Volk“) ist ursprünglich als Dorfgemeinde die kleinste Verwaltungseinheit innerhalb einer antiken griechischen Polis, insbesondere des ionisch-attischen Siedlungsgebiets, aber auch in einigen dorischen Poleis (Wikipedia).

4 Oligarchie (von griechisch ὀλιγαρχία oligarchia „Herrschaft von Wenigen“, zusammengesetzt aus ὀλίγοι oligoi „Wenige“ und ἀρχή archē „Herrschaft“)

5 Die Nomoi (altgriechisch Νόμοι Nómoi 'nɔmɔɪ̯, lateinisch Leges, deutsch Die Gesetze) sind ein in Dialogform verfasstes Spätwerk von Platon.

6 "Zwei Dinge erwecken vor allem die Fürsorge und die Liebe des Menschen: Das Eigene und das Geschützte." (Pol. 1262 b 22–23) Für Privateigentum spricht, dass der Einzelne den Gütern mehr Fürsorge zuteilwerden lässt als die Gemeinschaft. (Pol. 1262 b 3) Durch das Vorhandensein von Eigentum gibt es klare Rechtsansprüche (Pol 1263 a 15–16) und es gibt weniger Streitigkeiten (Pol. 1263 b 22–25). Schließlich wird die Wirtschaftlichkeit durch das Vorhandensein von Eigentum verbessert. (Pol. 1263 b 28) In rechtem Maße darf man auch Eigentum genießen: "Es gehört auch zum Großartigen, sein Haus entsprechend seinem Reichtum einzurichten (denn auch dieser ist eine Zier) und vor allem für dauerhafte Werke Aufwendungen zu machen (denn diese sind die schönsten) und in allem das Angemessene zu beachten." (NE (Nikomachische Ethik) IV, 1123 a 6–10,)

7 "Die Tugend ist also ein Verhalten (eine Haltung) der Entscheidung, begründet in der Mitte in Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt wird und danach, wie sie der Verständige bestimmen würde." (Aristoteles: Nikomachische Ethik 1106b36–1107a2, Übers. Gigon, S. 141)

8 Man liest bisweilen auch, Aristoteles favoriesiere eine Mischung aus Demokratie und Aristokratie bzw. Ologarchie, was aber eher einem fundamentalen Missverständnis bei der Interpretation der zahlenmäßigen und zeitlichen Begrenzung von Macht, wie deren Zuschreibung zu Repräsentanten der sozialen Schichten entspringt. In der Politie haben die Armen und Reichen im jeweils gleichen Maße an der Regierung teil, keiner hat Vorrang und es gilt, "daß kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig sind." (Arist. Pol. IV 4, 1291 b 33 f.)



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