Individuelle Macht gibt es nicht!
Franz Rieder • ...sondern nur politische Macht (Last Update: 22.03.2017)
Nicht immer macht es Sinn, das Ergebnis eines Gedanken oder die Antwort auf eine zentrale Frage wie die: Was ist Macht? so sie schon vorliegt, auch gleich niederzuschreiben. Nicht, wenn die Absicht wie in diesem Kapitel ist, dass jeder, der es liest und sich wirklich mit der Frage beschäftigen will, dies auch auf seine Art und Weise tun kann. Denn bei der Frage um die Macht geht es in unserer Zeit so sehr auch um die eigenen Überzeugungen, die, wenn sie nicht klar und im einzelnen widerlegt werden, auch keine Änderung einer festen Überzeugung möglich machen.
Wir wollen die feste Überzeugung, dass
es individuelle Macht gibt, erschüttern. Eine
Überzeugung, die von den allermeisten Menschen wohl ohne
Abstriche geteilt wird. Von Philosophen, von Soziologen, Psychologen,
Genforschern usw. Sie alle gehen von dem Vorhandensein von etwas aus,
das einer individuellen Handlungsmacht entspricht.
Max Weber, der
sicherlich den größten theoretischen Vorschub geleistet
hat, definiert den Macht wie folgt: „Macht
bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf
diese Chance beruht.“1
Nun macht diese Definition wenig Sinn, denn das Definiens ist eine „Chance“ und selbst die wird nicht weiter qualifiziert, weil es ja ganz gleich ist, welche Qualität sie hat. Den eigenen Willen gegen den Widerstand anderer durchzusetzen, dafür gibt es viele Beispiele. Etwa mit körperlicher Gewalt. Mit verbalen Drohungen. Mittels Erpressung durch Entführung oder – wie immer gerne genommen – mit ein paar Kumpels und der Kalaschnikow mal eben die Bar durchsieben. Durch Unterdrückung, Kompetenz, soziale, informelle Segregation, Beeinflussung, Zwang, Folter… die Liste wird lang.
Aber wozu brauchen wir hier noch
den Begriff Macht? Wir haben doch für alle diese Erscheinungen
jeweils einen wunderbaren und auch brauchbaren Ausdruck. Einen
Begriff will mehr. Ein Begriff will ja alle diese Erscheinungen
zusammenfassen unter einem inneren Wesen, einer verbindenden
Eigenschaft, einer übergeordneten Idee, einer tragenden Struktur
o.a.
Weber spricht von Macht und meint auch den Begriff Macht. Und
er bestimmt den Begriff als „soziologisch amorph“
(ebenda). Ist diese Bestimmung, die ja nun auch nicht viel aussagt,
nicht viel vorstellt, der holprige Versuch eines philosophisch nicht
so geschulten Soziologen, oder was mag Weber in diese Vagheit und
Unbestimmtheit geführt haben?
Mit „soziologisch amorph“
kann er ja kaum etwas anderes im Sinn haben, als dass sich Macht
innerhalb sozialer Wirklichkeiten realisiert, aber nicht identisch
ist mit den jeweiligen Handelnden, seien es die Menschen selbst oder
soziale Formen von Handlungsmacht.
Unsere kleine Liste an Beispielen wird der Weberschen Definition insofern gerecht, auch wenn wir sie schier endlos verlängern würden, weil Macht darin sozial amorph bliebe, also unbestimmt und unkenntlich. Und dies ist der eigentliche Wesenszug aller individuellen Vorstellungen von Macht, individuell deshalb, weil sie in jedem einzelnen Menschen und auch in den unterschiedlichen sozialen wie privaten Institutionen ganz spezielle Formen ausprägen kann, eins zu mystifizieren, nämlich wirkliche Macht.
Sie alle verschleiern bzw. geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind, nämlich Macht. Sie alle sind auf ihre Weise Bestätigung von Macht, ein, manchmal auch unbeabsichtigter Kniefall vor ihr. Die Mystifikation von Macht in den Formen individueller Machtvorstellungen haben ihren Grund in der Zeit des 18. Jh. und den ‚Wirren‘ der Aufklärung, die sich in Kontinental-Europa – im Gegensatz zu England – am massivsten und signifikantesten ausgeprägt haben und die sich im Ruf Friedrichs II. als „aufgeklärter Monarch“ als „erster Diener seines Staates“ und als „Philosoph auf dem Königsthron“ manifestierten.
Dieser Ruf manifestiert auf deutliche Art eine fatale Wendung der Aufklärung in Hinblick auf den Begriff und die politische Wirklichkeit von Macht, wie sie sich im Anschluss an die über England vor allem durch Voltaire nach Kontinental-Europa eingeführte Philosophie der Politik entwickelt hat. Was Montesquieu als dessen Vorläufer in seiner Staatsphilosophie noch undeutlich im „esprit général“ als liberale Grundordnung einer Gesellschaft und als Gegenentwurf zur korrupten Einheit von Staat, Kirche und Aristokratie entwickelt hat, fand in den „Lettres philosophiques“ von Voltaire eine, auf der Basis der Entwicklung der Aufklärung in England übersetzte europäische Fortschrift.
Voltaire war fasziniert von den Schriften von Bacon, Locke und Newton und erbitterter Gegner der französischen Staatsverfassung, vor allem gegen die korrupte Herrschaft von Adel und Kirche im damaligen Frankreich. „Die englische Nation hat es als einzige verstanden, die Macht der Könige im Zaum zu halten, indem sie sich ihnen widersetzte“, schrieb er in seinen „Briefen über Engländer“. Und die wesentlichen Elemente dieser Machtkontrolle und Machteinschränkung sah Voltaire in den Elementen der englischen Verfassung, in denen es um den Schutz der natürlichen Rechte an Person und Eigentum, in der Religions- und Pressefreiheit sowie um die Gewaltenteilung geht.
Für uns ist wichtig, bestimmte Elemente der Philosophie der
Aufklärung unter dem Horizont der Vorstellung ihrer politischen
Umsetzung zu beleuchten und dabei den Begriff der Macht in seinen
grundsätzlichen Bestimmungen zu reflektieren. Wir sind der
Meinung, dass gerade die Unterscheidung zwischen europäischer
und englischer Aufklärung hier weiterhilft. Wir haben das
historische Glück, dass die politische Verfassung Englands und
die Frankreichs sowie anderer europäischer Länder nicht im
Gleichschritt sich entwickelte. Ebenso nicht die Philosophie der
Aufklärung, die in England maßgeblich durch die
Entwicklung der Naturwissenschaften, in Europa durch die französische
und die deutsche Variante geprägt wurde.
Ob in dieser
unterschiedlichen Entwicklung weiterführende Erkenntnisse zur
Idee von Macht und deren politischer Realität liegen, ist eine
der zentralen Fragen dieses Kapitels.
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Anmerkungen:
1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kapitel 1, § 16.
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