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Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Franz Rieder • Von Sinnen • Macht Sinn   (Last Update: 22.03.2017)

Bloch suchte mit dem Begriff der „Ungleichzeitigkeit“ Erklärungen zu ermöglichen, wie es kommen konnte, dass so viele Menschen rückwärtsgewandt wählten und somit dem deutschen Faschismus an die Macht halfen. Sie sehnten sich nach Ordnung und Übersichtlichkeit, nach rückwirkender Ordnung. Sie wollten vordergründig kurzfristige, vermeintliche Einfachheit und Klarheit, einen Weg aus der Unübersichtlichkeit der Folgen der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre. Wer hier aber einzig historische Kausalität am Werke sieht, denkt am Phänomen weit vorbei.

Es bleibt festzuhalten, dass es sich bei der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht um ein Erklärungsmodell historisches-kausaler Abläufe handelt, um normatives bzw. hierarchisches Über- und Unterordnen von zivilisatorisch mehr und weniger ausgeprägten Gesellschaften ud Kulturen geht, es sich um die Unterscheidung von guter Moderne und schlechter Tradition handelt. Ungleichzeitigkeiten sind primär wert- jedoch nicht geschichtsentleerte zeitliche Verkettungen, ein Ineinander, neben- und übereinander von ’schon‘, ’noch nicht‘ und ‚immer noch‘. Dabei können durchaus die den Prozess der Ungleichzeitigkeit anstoßenden Ursachen mit den eintretenden Folgen zeitlich gleich ziehen, so dass Ursache und Wirkung im gleichen geschichtlichen Prozess nebeneinander herlaufen, sich gegenseitig immer wieder neu bedingen und inhaltlich befruchten oder auch gänzlich negieren.

Somit steht das Paradoxon der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht für einen starren, gesellschaftlicher Zustand zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Geschichte, sondern für einen andauernden Prozess des Entstehens des stets neu hervorbrechenden Ungleichzeitigen selbst. Dieser Prozess wird gerne in der Geschichtswissenschaft als historisches Signum, das den Beginn der Neuzeit und deren spezifischer gesellschaftlicher Prozesse markiert, gebraucht. Gegensätze auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens beginnen zu erodieren, Widersprüche sind nicht mehr festgelegt und statisch, sondern, einmal angestoßen, von dynamischer, fortschreitender, mitunter sprengender Kraft. Reinhart Koselleck kommentiert dies folgendermaßen:
„Im Horizont dieses Fortschreitens wird die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Grunderfahrung aller Geschichte – ein Axiom, das im 19. Jahrhundert durch soziale und politische Veränderungen angereichert wurde, die den Satz in die Alltagserfahrung einholten.1

Wir haben es also nicht mit einem Gegensatz bzw. einem Widerspruch zu tun, eine Vorstellung, die wahrscheinlich zu keiner Zeit die tatsächlichen Spannungskräfte gesellschaftlicher Wirklichkeit wiedergab. Und Bloch ging es auch nicht in erster Linie um ein Erklärungsmodell, das darin hilfreich sei, wie Erfahrungen, Hoffnungen, Enttäuschungen von Menschen sich zueinander verhalten, obwohl diese Herangehensweise an Intersubjektivität es verdient gehabt hätte, intensiver ausprobiert zu werden.

Wir nehmen Bloch also nicht allein für die Vorstellung und Analyse eines erweiterten Kommunikationsbegriffs in Anschlag, sondern folgen ihm noch ein wenig auf dem von Bloch selbst ursprünglich eingeschlagenen Weg, den Zusammenhang von technischem Fortschritt, Rationalität und mentaler Modernitätsverweigerung zu beschreiben, wie er sich ihm im Nationalsozialismus als vom „kleinbürgerlichen Pack“ getragenen „schiefen Statthalter der Revolution“ 2 besonders deutlich darstellte.

Bloch entwickelte, durchaus auf der Basis des Kapitals von Karl Marx, innerhalb der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Unterscheidung zwischen „echter“ und „unechter“ Ungleichzeitigkeit sowie den Begriff des Multiversums. Für Bloch war die Machtergreifung des Nationalsozialismus u.a. darin begründet, dass auf der Grundlage des damals in Deutschland massiv sichtbaren marxistischen Hauptwiderspruchs von Kapital und Arbeit, den Bloch aber nun verlagerte zwischen den industriellen Kapitaleigentümern, vor allem in den Schlüsselbranchen Chemie, Kohle und Stahl, und den dort beschäftigten Lohnarbeitern im Widerspruch zu den damals gleichzeitig in überwiegend anachronistischen Produktionsweisen beschäftigten „Kleinbauern“, „Kleinproduzenten“, „Kleinhändlern“ und den Angestellten in Kleinbetrieben als kleinbürgerliche Sonderfälle, die sich als eine „schiefe“ Gleichzeitig unter die industrielle Produktion mischte.

Während eine „unechte“ Gleichzeitigkeit in moderner Industrieproduktion und anachronistischer Argraproduktion bei klein- und mittelständischer Produktionsweise bestand, gab es zudem eine „unechte“ Ungleichzeitigkeit in der rückständigen geistig-kulturellen Verfassung quantitativ großer Bevölkerungsschichten, die weder am geistigen sowie politischen Fortschritt der bürgerlichen Aufklärung Teil hatten noch am technischen Fortschritt der damaligen Zeit. Während bei Krupp die Dampfkraft, die Elektrizität und weltweiter Handel den Ton angaben, ackerten die deutschen Bauern mit Kaltblütern durch die tiefen Felder.
Während die Lohnarbeiter bei Krupp ihren Konflikt mit den Kapitaleignern unter sozialistischen und sozialdemokratischen Parolen auf die Straßen trugen, strömten die Landbevölkerung und das prekäre Kleinbürgertum zu den Parolen der Nationalsozialisten und versprachen sich von der völkisch-rassistischen Einheit den Ausgleich für entgangene Revolutionen, unabgegoltene Kämpfe und uneingelöste Utopien.

In wie weit ein solcher Ansatz taugt, historische Vorgänge zu erklären bzw. zu beschreiben, sei dahin gestellt. Festzuhalten aber ist unserer Meinung nach die Mikroanalyse der Ungleichzeitigkeit, die den dogmatischen Anspruch der damaligen Marxisten, alles aus einem Widerspruch der Gleichzeitig von Kapital und Arbeit zu erklären, eine neue Dimension zuwies.

Und eine zweite „Dimension“ ist u.E. ein gewichtiges Erbe der Blochschen Philosophie. Man glaubt es kaum, aber noch in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts dachten die Physik und die Menschen (zumindest in der westlichen Welt), dass die Milchstraße das einzige Universum sei. Das änderte sich in den folgenden Jahren schlagartig, so dass auf der derzeit größten, beobachtbaren Skala man Galaxienhaufen findet, die sich zu noch größeren Superhaufen zusammentun, die wiederum fadenartige Filamente bilden, die riesige, blasenartige, praktisch galaxienfreie Hohlräume (engl. Voids, void = leer) umspannen. Unsere schöne Milchstraße war fortan nicht mehr das Universum, sondern eine Galaxie von vielen.

Ob Bloch den Begriff des „Multiversums“ bei den Physikern entlehnt hat, ist uns nicht bekannt. Innerhalb seiner Philosophie bezeichnet er das Momentum der Ungleichzeitigkeit im Fortschritt menschlicher Gesellschaften. Und mit diesem Gedanken setzte sich Bloch auch ab von den, seiner Auffassung nach „reaktionären Kulturkreistheorien“ ab, die da unreflektiert behaupten, dass alle Kulturen denselben Entwicklungen unterworfen seien, meist vorgestellt als gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte von nomandisierenden Gruppen über sesshafte Dorfgemeinschaften hin zu technologisch entwickelten Kulturgesellschaften, die zudem alle auch noch auf dasselbe Humanum, das Ideal bürgerlichen Liberalismus und dessen politischen Pendants, die westliche Form der Demokratie hin unterwegs seien.
„Der Fortschrittsbegriff duldet keine ‚Kulturkreise‘, worin die Zeit reaktionär auf den Raum genagelt ist, aber er braucht statt der Einlinigkeit ein breites, elastisches, völlig dynamisches Multiversum, einen währenden und oft verschlungenen Kontrapunkt der historischen Stimmen.“3


Von Sinnen


Wenn von echter Ungleichzeitigkeit im Unterschied zur unechten Ungleichzeitigkeit, innerhalb einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit die Rede ist und dies alles in einem Multiversum sich ereignet bzw. in der Vergangeheit ereignet hat und für die Zukunft zur Disposition steht, dann sieht man die fortschreitende Differenzierung, die Philosophie bemüht, ja bemühen muss, um komplexe Vorgänge, die mit dem menschlichen Dasein notwendig verbunden sind, begrifflich einzuholen. Nicht, dass sie einholbar wären. Aber das „Multiversum“ erstreckt sich nicht allein auf den technischen Fortschritt, sondern betrifft allenthalben auch das geistig-kulturelle Geschehen.

Letztlich gründen alle diese theoretischen Ansätze und Vorstellungen auf der Begründung des menschlichen Daseins aus der unhintergehbaren Freiheit des Menschen, wie Sartre dies in das Sein und das Nichts hinterlassen hat. Damit verbunden ist zwangsläufig auch die Vorstellung, dass Geschichte von Menschen gemacht ist und als solche die historische Vorgabe des menschlichen Daseins bildet.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Philosophie Blochs, vor allem zur Ungleichzeitigkeit und zum Multiversum von den Kulturwissenschaften, der Soziologie und der Geschichtswissenschaft je auf ihre eigene Art und Weise aufgenommen.
Richard Albrecht, Sozialwissenschaftler und Bürgerrechtler, führte Blochs Ansatz der Ungleichzeitigkeit als theoretisches Konzept und methodologischen Leitfaden in die historisch-kulturwissenschaftliche Forschungen ein und versuchte, die als empirisch sowohl offen als auch verdeckt auftretende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und, in einer Form der dialektischen Umkehrung, auch die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ vor allem im sog. Matthäus-Effekt zu systematisieren. 4

Dem US-amerikanischen Zeitgeschichtler Jeffrey Herf verdanken wir das Leitkonzept eines „reactionary modernism“, der speziell in der deutschen Gesellschaft den Widerspruch zwischen technisch-produktivem Fortschritt und human-moralischer Rückständigkeit aufspührt und so die Komlexität der Blochschen Philosophie auf einen höchst fragwürdigen Ansatz reduziert.5

Vom britischen Historiker Eric J. Hobsbawm wurden die Begriffe Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, Simultaneität und Multidimensionalität und des Multiversums, also insgesamt die raumzeitlich gegebene Mehrschichtigkeit aller gesellschaftlichen Vorgänge und Sozialprozesse Ende der 1980er Jahre methodisch als „the multidimensionality of human beings in society“ bezeichnet und gegen Max Weber konturiert.6 Diese Vorstellung der Vielschichtigkeit des Menschen, der menschlichen Existenz und der multiplen Handlungsmöglichkeiten des lebenden Menschen geht hinaus über Max Webers soziologische Eindimensionalität, die auf seiner Vorstellung vom Menschen als Subjekt der modernen Nationalökonomie basiert, der zufolge „das Streben nach Einkommen die unvermeidlich letzte Triebfeder allen wirtschaftlichen Handelns ist“7 und als Grundsatz der modernen Ökonomie bzw. Wirtschaftssoziologie zugleich auch die Grundlage der gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften bildete.

Bevor wir uns dem Thema Arbeit und damit auch dem Thema Ökonomie zuwenden, bleiben wir noch ein wenig bei Blochs Ansatz und lesen ihn quer mit Sartres Philosophie, die er zunächst in Das Sein und das Nichts entwickelt hat und die dort ganz fundamentale Auffassungen von Heidegger in Frage stellt.

Dazu verweisen wir kurz darauf, dass Sartre zwei Begriffe des Cartesianischen Cogitos kennt: Das präreflexive und das reflexive Cogito. Die Auffassung, dass das menschliche Bewusstsein kein einheitlicher Ort ist, ist schon älter als Sartres Bestimmung, auf die wir hier nicht detailiert eingehen möchten. Wir fokussieren auf das wesentliche Problem, dass sich hinter diesem ontisch-ontologischen Begriffspaar stellt, nämlich einmal von einem Bewusstsein zu sprechen, welches passiv, nicht-intentional die Welt mit den Sinnen wahrnimmt und einem Bewusstsein, kein zweites, sondern ein im Bewusstsein stattfindender Akt des Fokussierens eines Bewußtseinsfaktums durch Reflexion darauf, was zu einer begrifflichen Erfassung dieses Faktums führen soll.

Die gesamte Bewusstseins- bzw. Selbstbewusstseins-Disskussion in der Philosophie ging seit Husserl den Weg, die Erschließung der Welt nicht primär aus einem transphänomenalen (begrifflichen) Bewusstsein heraus zu versuchen und so den Primat des begrifflichen Denkens zu brechen. Husserl, wie Sartre ihn interpretiert, hat den Weg aus dem Cogito heraus nie wirklich gefunden und so war am Ende seine spätere Philosophie zu einer Variante des Idealismus geworden. Idealismus aber missversteht Sartre, dass das Bewusstsein lediglich ein transphänomenales Bewusstsein ist und es das Sein nur noch aus diesem einen idealen Bewusstsein heraus erschließt. In diesem Sinne eines idealistischen Ansatz will Sartre durch die Inanspruchnahme eines präreflexiven Cogito, eines phänomenalen Bewusstseins den Idealismus Hegelscher Prägung transzendieren; das kann nicht gelingen, da gleich zwei Irrtümer auf einmal aufeinander treffen.

Der erste Irrtum liegt darin begründet, die Grenzen des phänomenalen Bewusstsein nie ontologisch bestimmt zu haben und einfach davon auszugehen, dass es eine Art der Welterschließung gibt, deren modus vivendi die menschlichen Sinne sind. Aber die Sinne sind weder ein Pictgramm der Welt, noch klar abgegrenzte Wahrnehmungsvorgänge. Vergleichende Wahrnehmung führte in der über 50.000 Jahre alten Geschichte der Mathematik zum Zählen. In der Geometrie zur Berechnung der Flächen von Dreiecken, Rechtecken und Trapezen sowie zur Berechnung des Volumens eines quadratischen Pyramidenstumpfs8.
Die akustische Wahrnehmung, dass beim Anschlagen eines Saiteninstruments ein in der Nähe befindliches Instrument (Körper) mitschwingt führte letztlich zu einer Schulung des Ohres in tonalen Harmonen.

Heute hat sich das Wahrnehmungsspektrum durch die Physik auf dem Feld des natürlichen Seienden, mit dem sie sich ja ausschließlich durch Wahrnehmung (Messen) und Berechnung beschäftigt, in einem Bereich erweitert, der derzeit von den Planckschen Zahlen begrenzt ist und eine Wahrnehmungsgenauigkeit von 10-34 erreicht.9

Der zweite Irrtum ist mit dem Namen Heidegger verbunden, der mit seinem Begriff des Verstehens die unterstellte Vorherrschaft des Bewusstsein in der sog. Bewusstseinsphilosophie aushebeln wollte und dabei versuchte, in seinem philosophischen Ansatz auf das Bewußtsein als primären Zugang zur Welt völlig zu verzichten. Ein Verstehen, welches aus einem phänomenalen Zugang zur Welt sich „vor“ jeder Begrifflichkeit entwickeln soll, ist schwer vorstellbar. Gleichwohl Heidegger das Verstehen schon in seinem Verweischarakter auf das Bewusstsein bestimmt, sei es doch diesem different, gleichsam vorläufig.
Die Frage aber bleibt, ob das Verstehen, das nur Sinn hat, wenn es Bewußtsein von Verstehen ist, noch einen anderen Charakter haben kann und dieser dann nicht nur ein anderes Verstehen kennzeichnet, sondern auch ein „tieferes“, vielleicht „wahreres“ Verstehen?


Das Milgram Experiment 1962 Dokumentation


Macht Sinn


Alles das macht keinen Sinn. Denn ob man die Unterscheidung trifft zwischen einem phänomenalen und einem transphänomenalen Bewusstsein oder nicht, gewonnen ist nichts und schon gar kein Weg aus der sogenannten „Bewusstseinsfalle“ heraus.
Denn, was Sinn macht, ist bereits schon das phänomenale Bewusstsein selbst. Nur fokussieren wir eben nicht darauf und zwar auf jene Bedingungen, die jegweden Sinn spezifisch und speziell ergeben. Weil wir das auch nicht müssen.

Wer schon einmal Flugangst hatte und das ist schon eine recht seriöse Angst, der wird sich vielleicht gefragt haben, ob die etwas mit der Höhe zu tun hat, in der so eine Maschine herumfliegt. Dann wird er sich aber die Frage gestellt haben, warum nicht alle Menschen bei etwa sieben Meter ü.N.N. Höhenangst bekommen, manche beim Bergwandern solche bereits bei tausend Meter, manche nicht einmal bei viertausend Meter.
Wenn man einmal mit dem Auto, also in dieser Hinsicht mit einer Luftblase schnell in den Anden auf viertausend Meter gefahren ist, fröhlich die Landschaft karger werden sah und dann beim Aussteigen zuerst Atemnot und dann Höhenangst bekommen hat, andere erst ab fünftausend-fünfhundert Metern im Karakorum-Gebirge, dann fragt sich der ein oder andere schon, warum er bereits auf dem Zehnmeter-Brett im Freibad Höhenangst bekommt und der andere nicht?

Flugangst, Höhenangst, wie unterscheiden wir das? Aber das war gar nicht die Frage. Beide ‚Ängste‘ werden als solche erlebt, ohne das man sich weitere Fragen dazu stellt, stellen muss. Und selbst wenn man sich die Frage nach dem Unterschied stellen würde, würde man keine brauchbare Antwort bekommen, weil beide ‚Ängste‘ durchaus ineinander übergehen können; nicht müssen. Solange man kein Angsttherapeut ist, drängen sich solche Fragen auch nicht unbedingt auf.

Wir wollen nur festhalten, dass es keine rein phänomenale und auch keine rein intentionale Wahrnehmung der Welt gibt. Wenn schon, dann in vielen, vielleicht den meisten Fällen, eine präreflexiv intentionale Wahrnehmung, also eine, die der Reflexion zugängig ist, aus der sich dann auch der Sinn einer Wahrnehmung erschließt, aber eben nicht immer und auch nicht notwendig.
Und es bleibt die Frage, ob mit dem Begriff Wahrnehmung – heute Perzeption – auch allein die mit der Sensorik, also der Gesamtheit der Vorgänge der Sinneswahrnehmung ausreichend bestimmt sind?
Darauf gründet auch ein zweiter Aspekt, der einer eingehenderen Frage ausgesetzt werden darf, nämlich, dass die Perzeption zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken bzw. Handlungsabläufen führt, also diesen vorgängig bzw. vorläufig ist?

Nach ein paar Übungen in Verhaltenspsychologie oder empirischer Verhaltensanalyse bestreitet kaum noch jemand, dass Wahrnehmung und Lernen zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Besonders die alltägliche Auslegung der Umwelt durch emotionale bzw. affektive Erfahrung gelingt schneller, spontaner und präziser als durch jede begriffliche Reflexion und ist sogar durch einfachste Interventionen veränderbar.
Angst vor etwas, sei es den heißen Herd oder körperlicher Züchtigung als pädagogisches Element haben ihre Wirkungszusammenhänge über viele Jahre bestätigt. Alles dies und unzählige andere Beispiele erreichen aber nicht den Kern, um den es eigentlich geht.

In der Geschichte der Philosophie war dieser Bereich der Wahrnehmung bzw. Perzeption immer ein Bereich der Subsidiarität. Wahrnehmung stand subsidiär zu einem, von der Wahrnehmung selbst unterschiedenen Bereich, der eigentlich zusammenfiel mit dem Bereich der Ideen bei Platon, dem Logos bzw. dem Bereich des begrifflichen Denkens, rudimentär in der griechischen Antike mit dem Bereich der Ethik, also dem Bereich der sozialen Kontrolle bzw. Autorität und Kant verstand als erster umfassend den konstitutiven Charakter der Moral für die Urteilskraft.

Die Frage, welche Bedeutung haben unsere Sinne für unsere Handlungsmotivationen, stellt sich leider nicht auf der Ebene, wie Sartre dies versucht, auf der Ebene eines Unterschiedes zwischen reflexiven und präreflexiven Bewusstsein. Die Fragestellungen, auch aus einem Unterschied von Aktivität und Passivität heraus, sind konstruiert, die Ergebnisse leider irrelevant.

Etwas mehr an Erhellung über diesen Zusammenhang brachte leider das sogenannte Milgram-Experiment10, das 1961 in den Labors der Yale Universität durchgeführt worden ist und das eine schauderhafte adäquatio ad rem zwischen Experiment und „Gegenstand“ herstellte. Diese moderne Form der Frage der Theodizee, wie also das ‚Übel‘ in die Welt kommt, angesichts einer entwickelten Vernunft, einer ausgeprägten Moralvorstellung, nicht nur der christlichen Moral, sowie der ethischen Grundsätze einer Kultur und deren Sanktionskanon, wie er in den bürgerlichen- und den Strafgesetzen vorliegt, wurde hier auf die ultimative Probe gestellt.

Die zentrale Fragestellung des Milgram-Experiments sollte ursprünglich dazu dienen, Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus sozialpsychologisch zu erklären. In diesem Zusammenhang sollte die erweiterte „Germans-are-different“-Hypothese geprüft werden, die davon ausging, dass die Deutschen einen besonders obrigkeitshörigen Charakter haben, und somit die spezifische Verbindung eines „deutschen Charakters“ mit dem Nationalsozialismus untermauern.

Milgram selbst gab gewissermaßen post festum eine sehr genaue Umschreibung dessen, was er mit seinem Experiment herausfinden wollte:
„Die rechtlichen und philosophischen Aspekte von Gehorsam sind von enormer Bedeutung, sie sagen aber sehr wenig über das Verhalten der meisten Menschen in konkreten Situationen aus. Ich habe ein einfaches Experiment (…) durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klangen, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf“.11


Anmerkungen:

1 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 2000, S. 325.

2 Ernst Bloch: Hitlers Gewalt. In: Das Tagebuch [Berlin]. 5 [1924] 15 [12. April 1924], S. 474–477.

3 Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 146

4 "Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur": Ernst Blochs Exil-Vortrag vor siebzig Jahren: Geschichtliches und Aktuelles. In: Bloch-Jahrbuch. 13, 2009, S. 223–240; vgl. "Zerstörte Sprache" – Zum 125. von Ernst Bloch. In: soziologie heute. 3, 11, 2010, S. 24–26.
Der Matthäus Effekt (oder die The-Winner-Takes-It-All-Strukturen) bezeichnet ein Prinzip, bei dem aktuelle Erfolge mehr durch frühere Erfolge als durch gegenwärtige Leistungen bedingt werden. Erfolge rufen danach immer neue Erfolge hervor.

5 Vgl. Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich. Cambridge University Press, Cambridge u.a. 1984

6 Eric J. Hobsbawm: Working-class Internationalism. In: Contributions to the History of Labour & Society. 1, 1988, S. 3–16, hier S. 14.

7 Max Weber: Wirtschaft & Gesellschaft [1920]. Band 1. Studienausgabe. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1964, S. 153.

8 Moscow Papyrus

9 Die Entdeckung des Wirkungsquantums durch Max Planck in den Jahren 1899 und 1900 begründete die Quantenphysik. Das Wirkungsquantum h st neben der Gravitationskonstante G und der Lichtgeschwindigkeit c die dritte der fundamentalen Naturkonstanten der Physik.

10 Milgram bezieht sich darin unter anderem auf das 1963 in New York erschienene Werk von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Die fundamentalste Erkenntnis der Untersuchung sei, dass ganz gewöhnliche Menschen, die nur ihre Aufgabe erfüllten und keinerlei persönliche Feindschaft empfinden, zu Handlungen in einem Vernichtungsprozess veranlasst werden können.
Das Experiment ist in unterschiedlichen Varianten in anderen Ländern wiederholt worden. Die Ergebnisse bestätigten generell einander, was auf eine kulturübergreifende Gültigkeit der Ergebnisse hindeutet.

11 Stanley Milgram: The Perils of Obedience; Harper’s Magazine, 1974



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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