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Vom Vergnügen und der Entsagung. Epikureer und Stoa.

Franz Rieder • Die Epikureer: Die vergnügliche Ethik des Privaten.   (Last Update: 19.11.2019)

Kommen diese aus dem Reich der Götter, so braucht es niemanden zu kümmern, denn die Götterwelt ist nicht die Menschenwelt, ist eine Zwischenwelt und dies wurde auch nicht ordentlich angezweifelt. Demzufolge ist der Mensch „frei“ und muss sich als „Individuum“ in allen seinen Handlungen frei entscheiden, etwas zu tun oder zu lassen. Diese Freiheitslehre konnotiert mit einem erkenntnistheoretischen Sensualismus und einer Ethik des Privaten, die die Epikureer zu ständiger Dauerparty im Freundeskreis einladen und von jeglichem politischen Engagement hat Abstand nehmen lassen. So hat sich diese Auffassung von Kunst bis heute als eine umgekehrte Befreiungstheologie entwickelt, die als Postmoderne imponiert. Noch Cicero berichtet uns über Epikur derart: „Er anerkannte keine Gelehrsamkeit als diejenige, die die Unterweisung zum glücklichen Leben fördert. Oder sollte er die Zeit mit der Lektüre von Dichtern vergeuden, die keinen greifbaren Nutzen und nichts als ein kindisches Vergnügen zu bieten hätten?“i

Verglichen mit dem Anspruch der früh-antiken bis aristotelischen Kunstphilosohie ist bei den Epikureern von Philosophie nicht mehr die Rede. Der Anspruch des Denkens darf hier als vollständig abgelehnt angesehen werden. Nicht einmal mehr Nachahmung kommt auf die Habenseite der Kunst und die Inhalte sind damit als völlig beliebig erklärt. Womit die Kunst sich beschäftigt ist egal, nur reizvoll muss die Angelegenheit sein. Hier verbinden sich alle Künste miteinander. Die Musik steht neben der Kochkunst, die Malerei neben der Liebeskunst (ars amatoria) und dem Denken, insofern auch Tugend und Wissen dergleichen hedonistisch-sensualistischen Anschauung unterliegen und keinen autonomen Bereich menschlicher Kreativität mit eigenen Kategorien bezeichnen, sondern Elemente unter vielen anderen sind, die das Leben angenehm und lebenswert machen.

Ich kann das Gute nicht wahrnehmen, wenn du die Gaumenfreuden, die Freuden des Liebesgenusses, die Ohrenschmäuse und die den Augen schmeichelnden Bewegungen einer schönen Gestalt nicht gelten lassen willst.“ii Die absolute Freiheit der Kunst gegen bloße Nachahmung und Vernunft wird hier in aller Deutlichkeit postuliert, ja gewissermaßen der Vernunft der Einlass in die Sphären der Kunst untersagt. Kein Wunder, dass dagegen eine Denkrichtung angetreten ist, die just das Gegenteil von der epikureischen Ontologie vertritt: die Stoa.

Die Stoa: Die Ethik der Entsagung

Die Stoa entwickelte sich fast parallel zu den Epikureern, beide kannten sich. Was an der Stoa aber prima vista auffällt, ist ihre Langlebigkeit und Anpassungsfähigkeit. Beide bescherten ihr einige Wandlungen und viele Weiterentwicklungen, die aber alle auf festen Grundlagen aufbauen. Das sind die drei grundlegenden Bereiche der Stoa: die Physik, die sich mit dem Kosmos beschäftigt, die Logik, die auf Erkenntnis, Erklärung und Beweisführung gerichtet ist und deren wesentliche Elemente die Dialektik und die Rhetorik sind, sowie die Ethik, die sich mit dem menschlichen Leben beschäftigt und das Zentrum der stoischen Philosophie bildet.

Wie bei allen antiken griechischen Philosophien sind auch in der Stoa die Einlassungen auf den Kosmos und die darin enthaltenen Elemente und Angelegenheiten schwere Kost. Wir konzentrieren uns auf den in allen Kosmogonien enthaltenen zentralen Gedanken, als der Kosmos Ursprung (Grund) alles Seienden ist, so auch hier. Aus dem Aither (Urfeuer) entsteht alles und alles was ist, ist nach der Stoa ein durch göttliche Vernunft (Logos) beseelter Stoff (Hyle).

Entstanden etwa 300 v. Chr. in Athen, spricht es für sich selbst, dass hier kein christlich-jüdischer Gottesbegriff am Werke ist. Göttlich, oder Logos meint, wie wir schon ausführlich dargelegt haben, auch bei den Stoikern das Zugrundeliegende (Hypokeimenon) bzw. die Ousia (Sein), worin Werden und Veränderung des konkreten Seienden (Individuelles) ihren Ursprung bzw. ihren Grund haben.
Wir erinnern an die politische Dimension des Logos als Rede der Beweisführung im Athener Areopag und sehen den Namen Stoa zurückgehen auf (griechisch στο ποικίλη – „bemalte Vorhalle“) eine Säulenhalle auf der Agora, dem Marktplatz von Athen, in der Zenon von Kition, Gründer der Schule und Philosophie seine Lehrtätigkeit aufnahm.

Von da her ist auch besser die Bestimmung des Logos in der Stoa verständlich, insofern Logos sowohl die Bedeutung von Sprache als auch von Vernunft hat. Die „Logik“ umfasst die formalen Regeln des Denkens und des korrekten Argumentierens als auch jene Teile der Sprache, in denen gedankliche Operationen zum Ausdruck gebracht werden. „Etwas wissen heißt für die Stoa, eine Aussage behaupten können, die nachweisbar wahr ist.“iii Was aber ist Wahrheit im Sinne einer Nachweisbarkeit? Die Stoa legt keinen besonderen Wert auf die ontologische Differenz, als nach ihrer Erkenntnistheorie nur das als wahr anerkannt wird, was unmittelbar einleuchtet, natürlich nach dem methodisch korrekten Einsatz des Denkens und der sprachlichen Vermittlung.

Die Kriterien (griech. Κριτήριον = Entscheidungsmittel) für Wahrheit finden wir bei den Stoikern also nicht nur in der Erkenntnis, sondern auch in deren Vermittlung, also in der Sprache bzw. der Rhetorik. Genau genommen findet Erkenntnis auch in der Sprache statt, so dass die Stoiker nicht umhinkamen, eine erste systematische Linguistik zu erschaffen, in der sowohl die Kausalketten lückenlos ausgewiesen werden sollten wie Grammatik, Deklinations- und Tempus Lehre als Kriterien der Rhetorik voranstanden. So hat die Stoa einerseits Denken und Wahrheit in das Feld der sozialen Handlungen erweitert, wie sie gleichzeitig auch mit dem Primat der Sprache im Denken dieses zu einer stringenten Aussagenlogik verengt haben. In Fortführung der megarischen Philosophie von Diodoros Kronos und Philon beginnt mit der Stoa die Logik als eine (Mathematik-nahe) Wissenschaft. Sie steht in Verbindung mit der aristotelischen Metaphysik, wo Aristoteles erstmals aussagenlogische Grundsätze diskutierte, nämlich den Satz vom Widerspruch und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und wo er auch erstmals den indirekten Beweis thematisierte. Es war aber noch ein langer Weg, vor allem durch die mittelalterliche Stoa hindurch, bis aus dem ersten, formal präzisen Aussagenkalkül eine erste vollständige und entscheidbare Formalisierung für aussagenlogische Tautologien, noch ohne aussagenlogisches Schließen, durch George Boole 1847 mit seinem algebraischen Logikkalkül wurde. Den ersten aussagenlogischen Kalkül mit Schlussregeln formulierte Gottlob Frege im Rahmen seiner Begriffsschrift 1879. Er war die Vorlage für den Aussagenkalkül von Bertrand Russell 1910, der sich später durchsetzte.

Alles in allem liegen hier die Grundlagen für die analytische Philosophie wie auch die Grundlagen für unsere moderne Computerlogik, aber ursprünglich gegründet wurde die stoische Sprachlehre und weitere Kernbereiche der Logik, um die Dialektik und die Rhetorik zu schulen, erstere als aus der aristotelischen Logik weiterentwickelte Methode der Wahrheitsfindung bzw. Erkenntnissicherung, die zweite als Kunst, das Entdeckte in überzeugend gegliederter und sprachlich ansprechender Form mitzuteilen bzw. zu vermitteln.

Die Bestimmung des Menschen in der Stoa zeigt ein erstes Mal eine konkrete Beziehung zwischen Mensch und Natur auf derart, dass der Mensch Teil einer vom göttlichen, heißt vom transzendenten Logos durchwalteten Natur ist und gleichzeitig dessen ethisches Bindeglied zur Gesellschaft. Der menschliche Geist und sein differenziertes Denkvermögen lässt den Menschen teilhaben am göttlichen Logos und leitet ihn zur Weisheit als höchstem Gut, das in einem glückenden (glücklichen) Dasein (Eudaimonia) seine Erfüllung findet.




Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in der Stoa


Was aber die Stoa auszeichnet ist, dass zur Erreichung dieses ethischen Gutes der Mensch in einen Prozess der Selbsterkenntnis eintreten muss, begleitet durch Beachtung und Befolgung zur Ethik zielführender Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Haltungen. Es ist seine eigene Vernunft, die ihn dabei leitet und das Ziel das Wohl der menschlichen Gemeinschaft. Nur ein lebenslanges Bemühen der Selbsterkenntnis und Formung der Person schafft am Ende die geglückte Seelenruhe der stoischen Weisheit. Diese Arbeit an sich selbst aber vollzieht sich im Umfeld eines Daseins, dass auch den vielfältigen Herausforderungen des Schicksals wie auch der im menschlichen Miteinander standhält.

Die allgemeinen Kriterien, dies zu erreichen, sind auf der menschlichen Seite die strikte Affektkontrolle, die dann im Ergebnis zu einer Vernunftfreiheit, der Freiheit von allen Leidenschaften, der Apatheia, führen soll, wobei Apatheia nicht den heutigen Sinn einer Apathie, nämlich Passivität und Teilnahmslosigkeit hat, sondern die völlige Integrität des Menschen in seiner sozialen Gemeinschaft meint: „Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das Beste für die Gemeinschaft ist.“iv

Obwohl die Stoa das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft thematisiert, legt sie keinen Wert auf die Unterscheidung dieses Verhältnisses aus einer politischen Bestimmung. Sie blieb prinzipiell, also subsumierte sie alle Menschen, Griechen wie Barbaren, Bürger wie Sklaven unter den einen Begriff und widmete weder den Unterschieden von Staaten noch den Versuchen der Abschaffung der Sklaverei, wie es auch Mark Aurel anstrebte, gründlicheren Gedanken. Bar dieser Unterschiede blieb der Begriff der Gemeinschaft einheitlich und das Verhältnis von Makrokosmos zu Mikrokosmos reziprok. Mikrokosmos und Makrokosmos werden in der Stoa zu gegenseitigen Erkenntnismodellen, in denen die allgemeine Menschenvernunft als aufgegangene Erkenntnis der lógoi spermatikoí (Vernunftsamen) oder der émphytoi lógoi (eingewurzelte Vernunftgründe, später auch angeborene Ideen) für die Allgemeinheit und Sicherheit der Erkenntnis bürgt.

Manchmal ist man irritiert, geht die stoische Erkenntnislehre doch vom Sensualismus aus und scheint damit im Widerspruch zu stehen; mitnichten. Der stoische Sensualismus ist in sich ein strikter Rationalismus wie auch das „Private“ letztlich nicht existiert, insofern die stoische Ethik eine Pflichtenethik ist, also eine Ethik des öffentlichen Lebens in einer Gemeinschaft, die das Private nur als das „Idiotische“ (Einzelne, des öffentlichen Zusammenhangs „Beraubte“, also auch als a-privativum gefasst) kennt. Das Private, hier im Sinne der Bestimmung des einzelnen Menschen als Individuum, als Differenz zur Gemeinschaft, gibt es dann natürlich auch nicht in der stoischen Philosophie. So sind zwangsläufig auch Schönheit und Harmonie nach pythagoreischem Vorbild bestimmt. Und zwar als Signatur der Welt selber, die im „te physei zen“, in einem der Natur gemäßen Leben zur Geltung kommt, wo mithin die soziale Ethik im Einzelnen wie in der Gemeinschaft ihren Kulminationspunkt findet.

Schönheit und Harmonie ist das Prinzip des Lebens. Tugendhaftes Verhalten wird selbst zum Kunstwerk. Denn Kunst bringt in ihren Werken die Schönheit der Natur, abbildend und nachahmend zur Darstellung und nicht der Künstler allein vermag dies, sondern die Kunst als soziales Kunstwerk, insofern Kunst und Natur in ihrer Schönheit richtig aufzufassen, es durch den Sinn für das Schickliche und die allgemeine Vernunft jedermann gegeben ist. Schönheit ist eine kosmische Bestimmung als Natur Vorbild aller menschlichen Kunst. Naturschönheit und Schönheit des Kunstwerkes sind aufeinander bezogen, wie Tugend und Schönheit, gleichwohl sie unterschiedlich sind. „Es ist selbstverständlich, daß die Redewendung ,nach der Natur leben‘ und ,schön leben‘ dasselbe bedeuten, und ebenso, daß ‚das Schöne und Gute‘ dasselbe sind wie ‚die Tugend und was zur Tugend gehört‘.“v

Kosmos, Natur, Gemeinwesen stehen also eng verbunden im stoischen Denken und das der einzelne Mensch, so er kein Idiot, also ein dem Gemeinwesen beraubter Mensch ist, natürlich auch mit allem verbunden sein muss, versteht sich von selbst. Er, der Mensch, hat gewissermaßen neben der ethischen Verfassung, die auf das Gemeinwohl zielt, auch seine persönliche Verfassung, die ihn überhaupt befähigt, als soziales Wesen zu bestehen. Diese Verfassung füllen Anmut und Würde.

Da es aber zwei Arten von Schönheit gibt, deren eine die Anmut, die andere die Würde ist, müssen wir die Anmut als weibliche, die Würde als männliche Schönheit bezeichnen.“vi Anmut (lat. venustas, griech. charis) und Würde (lat. dignitas), später auch als Süße und Majestät (suavitas und gravitas) umschrieben, sind im stoischen Denken tief im anthropologischen Sein verwurzelt: sie zielen auf das Männliche und das Weibliche, dem auch schon Platon, wie wir sahen, bestimmte Weisen der Musik zugeordnet hatte. Nur so viel sei an dieser Stelle vermerkt, dass keine Ontologie umhinkommt, das Zusammenspiel von Menschen und Gemeinschaft in einer philosophischen Anthropologie zu reflektieren. Unschwer erkennen wir in der Stoa eine biologische Bestimmung des Menschen, der eine, sagen wir mal „verhaltensästhetische“ bzw. verhaltensspezifische Bestimmung korreliert. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts tauchten immer wieder Ansätze in der Philosophie und der Kunstphilosophie auf, in denen diese Unterscheidung zum kategorialen Bestand gehörte. Gibt es eine weibliche Kunst bzw. Philosophie? war mehr als eine Frage im europäischen Feminismus.

Aber bleiben wir noch bei der Kunst in der stoischen Denkschule, die in der pädagogischen Alltagspraxis durch die Lektüre von Seneca und Cicero in den altsprachlichen Lehranstalten vermittelt wurde. Dort las man Cicero: „Ein Wort über die Künste und die Arten des Gelderwerbs, besonders darüber, welche eines Freien würdig sind und welche entehrend sind. Darüber ist uns folgendes überliefert: In erster Linie mißbilligen wir jene Erwerbstätigkeiten, die sich den Haß der Mitmenschen zuziehen, wie die der Steuereinzieher und der Wucherer. Unfrei und entehrend sind ferner die Künste der Mietlinge jeder Art, die für ihre Arbeit, nicht für ihr Können bezahlt werden; denn der Lohn, den sie beziehen, ist der Sold der Sklaverei. Für entehrend muß man auch jene Tätigkeiten halten, die von Großkaufleuten Waren beziehen und sie sogleich weiterverkaufen, denn ohne unverschämte Lügen und Schwindeleien (Reklame d. Verfasser) würden sie keinen Profit erzielen. Nichts aber ist schändlicher als Unehrlichkeit. Auch die Handwerker alle betreiben ein schmutziges Gewerbe (ars sordita), denn eine Werkstatt ist kein Aufenthalt für einen freigeborenen Mann. Am wenigsten sind jene Künste zu schätzen, die im Dienste der sinnlichen Genüsse stehen: ‚Fischhändler, Metzger, Köche, Geflügelmäster und Fischer‘, wie Terenzvii schreibt. Füge, wenn es dir recht ist, die Salbenhändler, Tänzer und das ganze Volk der Straßenmusikanten und Straßenschauspieler hinzu. Jene Künste aber, die ein größeres Können oder Kenntnis erfordern oder die man nicht eines alltäglichen Nutzens wegen aufsucht, wie die Architektur, wie die Heilkunst, wie der Unterricht in den drei Künsten. Diese Berufe sind für alle, deren Stand sie entsprechen, ehrenhaft.“viii

Diesen „Persönlichkeitsprofilen“ bestimmter Tätigkeiten und Berufsgruppen fügt Seneca noch hinzu:
„Ich bringe es nicht über mich, unter die freien Künste auch die Maler aufzunehmen, ebenso auch nicht die Bildhauer oder Marmorbearbeiter oder die anderen Handlanger des Luxus.“ix Folgt man diesen moralisierenden und aus dem Dünkel des Patriziers formulierten Gedankengängen, dann findet man, zumindest was die Malerei angeht, heute eine Situation, die die damalige völlig in den Schatten stellt. Die Handlanger des Luxus stellten auf dieser Grundlage heute die Wirklichkeit eines Kunstbegriffs, der einzig und allein vom Geldwert der Kunst handelte. Evident ist die Entwicklung des Kunstbegriffs, der bei Platon und Aristoteles ohne Episteme, ohne gründliches bzw. begründetes Nachdenken nicht auskommt, nun mit einer recht geheimen, verborgenen und angeborenen Kenntnis, fast schon „aus dem Bauch heraus“ verbunden.

Alle Menschen sind imstande, dank einem verborgenen Sinn (tacito sensu), ohne Kunstkenntnis oder Theorie zu beurteilen, was an den Kunstwerken und an den Kunstregeln gut und was verkehrt ist. Und das tun sie sowohl mit Gemälden und Skulpturen wie mit Erzeugnissen anderer Kunstgattungen, zu deren Verständnis sie von Haus aus weniger Zugang haben, als auch ganz besonders und noch viel mehr zeigen sie es in ihrem Urteil über sprachliche Dinge, über Metrisches und die Wortwahl. Denn das sind die Dinge, die in dem Gefühl aller angeboren sind, und die Natur wollte, daß niemand in solchen Dingen ganz unerfahren sei.“x

Der Schritt heraus aus dem Denken ist, kaum dass es entdeckt und entwickelt wurde, fast geschafft. So versessen auf Eudaimonia, auf das Ziel eines ausgeglichenen Gemütszustandes, also der Selbstgenügsamkeit, in der eine, nach den Anforderungen und Grundsätzen einer philosophischen Ethik gelungene Lebensführung sich teleologisch erfüllt, vergisst der Stoiker alles um sich herum. Man fragt sich unweigerlich, was oder wie sehr die Grausamkeiten des Lebens dem Stoiker zugesetzt haben, dass diese Realitätsflucht nötig wurde. Der angeborene, „schweigende“ Sinn, der nach Cicero „ganz ohne Künstlichkeit und Überlegung“ (sine ulla arte et ratione) wirkt, der also im einzelnen Menschen durch die allgemeine Menschenvernunft in Gang gesetzt wird und wie ein deus ex machina die sittlichen und rechtlichen Urteile der Gemeinschaft im einzelnen Menschen garantiert, macht eigentlich jedes weitere Nachdenken überflüssig. Überflüssig ist auch an dieser Stelle der Hinweis, dass derart Glückseligkeitsphantasien, die heutzutage regelrecht Hochkonjunktur haben, in der stoischen Philosophie einen ihrer wirksamsten Hintergründe haben, wobei die Zitierung des Begriffs Eudaimonia als Glück oder Glückseligkeit unrichtig ist.

Was Cicero als einer der bekanntesten Vertreter dieser Denkschule darüber hinaus noch uns einredet, ist die Kurzschließung von Vernunft und sinnlicher Wahrnehmung, in dem die kurz zuvor entdeckte und als wesentlich begriffene ontologische Differenz, dass also Wissen im allgemeinsten und weitesten Sinne nie identisch sein kann mit dem Seienden, worüber es handelt, zumal dem in Bewegung, im Werden, nicht existiert. Im Bewusstsein der Menschen hinterließ die Stoa, dass Nachdenken zu nichts führt und es darauf ankommt, im Gleichklang mit einer Gemeinschaft sein Leben zu verwirklichen. So schlimm es auch klingt, so wahr im Sinne von wirklich ist diese Philosophie. Bis heute. Sie ist der Duktus der politischen Wirklichkeit, die selbst die Evidenz ihres Gegenteils zu überscheiben in der Lage ist.

Zusammenfassend kann man den hauptsächlichen Beitrag der Stoa zur Kunstphilosophie in drei Richtungen sehen, deren jede eine sichtbare Bedeutung in der Geschichte der Kunst behauptet hat: Sie haben Natur und Kunst bzw. Naturschönes und Kunstschönes in eine strikte Parallele gesetzt und somit folglich die Erkenntnis und die Diskussion um die Differenz von Denken und Sein stark verkürzt, ja weitgehend negiert und haben in der kosmischen Verankerung von Naturschönem und Kunstschönem einer Sinnstiftung den Weg bereitet, die ohne jede Bemühung des menschlichen Geistes auszukommen in der Lage sei.

Sie haben den Schönheitsbegriff differenziert nach weiblicher Anmut und männlicher Würde und diesen Biologismus in den künstlerischen Ausdrucksformen ethisch begründet. Mehr noch, sie haben die Biologie zur Bestimmung des Menschen aus dem Unterschied zwischen Mann und Frau epistemologisch begründet. Und sie haben in der Behauptung eines allgemein menschlichen Kunstsinns, der auch noch als kosmische Vorgabe imponiert, die Kunst so sehr verallgemeinert, dass sie kein Bestandteil des sozialen und gesellschaftlichen Diskurses sein kann. Und mit dieser Entgesellschaftung von Kunst einher geht die Entgesellschaftung der Beziehung, die der Mensch mittels Techne zur Natur und zur Gesellschaft im Sinne der Politeia, also einer politischen Gesellschaft geschaffen hat. Fällt die Reflexion darauf aus, wird Techne zum deus ex machina und das, was Sache von allen Menschen ist, zu einer „menschenleeren“ kosmischen Angelegenheit – und mithin zu einem „Platz“, der von Religionen zum Ende der griechischen Philosophie nur allzu gerne besetzt wurde.




Twîfla: doppelt, gespalten, zweifach, zwiefältig.

Ein wenig Skepsis und Musik ins Denken.


Einen größeren Beitrag zum Diskurs über die Kunst in der griechischen Philosophie hätten sicherlich auch die Skeptiker leisten können, wir aber beschränken uns für den Moment auf die Erinnerung an das bis heute geltende Ideal der „Jüngeren Platonischen Akademie“ die auch die „skeptische“ mitunter genannt wird, und das in etwa so ausgedrückt werden kann: Im wissenschaftlichen, philosophischen und praktischen Denken spielt der Zweifel eine ganz zentrale und wichtige Rolle, weil er allein das Denken in Bewegung hält. Ohne Zweifeln ist demnach keine Erkenntnis möglich. Deshalb gestehen die Anhänger der Akademie der faktischen Wissenschaft, wie sie von allen anderen Schulen betrieben wird, nur Wahrscheinlichkeitsaussagen zu, wie insbesondere der Scholarch Karneades von Kyrene (ca. 214 – 129 v. Chr.) betonte. Darüber hinaus stehen sie den Grundansichten der Epikureer nahe, die davon ausgehen, dass das, was zählt, das glückliche Leben des Einzelnen ist und also Wissenschaft daran gemessen werden muss, was sie dafür leistet. Und dafür ist Wahrscheinlichkeit schon viel und zumeist auch genug. Aber was wir bereits hier sehen ist die Entdeckung des politischen Bewusstseins. Wir blicken sozusagen in die Geburtsstunde des Nus im Zoon politikon zurück, dahin, wo der sich selbst bewusste Geist (nicht in der personalen Form), das Denken, welches sich bewusst darüber ist, was es selbst aus sich heraus denkt, überschreitet. Schon hier im spät-antiken Griechenland ist jene Saat aufgegangen, die viel später im 19. Jahrhundert erneut auf die philosophische Tagesordnung kommt, die Transzendierung des Selbstbewusstseins auf das politische Bewusstsein hin.

Dem Zweifel werden wir später noch begegnen, wenn es um den methodischen Zweifel (doute méthodique) geht, also in der „provisorischen Bezweiflung von allem, was noch nicht methodisch-kritisch festgestellt, gesichert erscheint.“xi Oder um den Zweifel im Sinne von René Descartes, der den Zweifel als philosophische Methode in seinem Werk „Discours de la méthode“ postulierte und davon ausging, dass man jeden Zweifel durch rationalistische Überlegungen entkräften kann.

Skepsis; (griech. sképsis = Betrachtung, Bedenken) meint keineswegs Methode wie dies im griechischen sképtesthai = schauen, spähen; betrachten gemeint ist. Sképtesthai bezeichnet Bedenken durch kritisches Zweifeln, also Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben bzw. Kriterien. Wie die Philosophin Anne-Barb Hertkorn ausgeführt hat, ist Skepsis im Sinne kritischer Betrachtung damit „eine Grundfunktion der denkenden Vernunft und wird, sofern sie auf das eigene Denken angewandt wird, ein Wesensmerkmal der auf Gültigkeit Anspruch erhebenden Urteilsbildung.“ Skepsis und also kritische Betrachtung gilt im Sinne einer Kunst der Beurteilung als eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten, gleichwohl in dieser Bestimmung ein ganz zentraler Aspekt der Urteilsbildung nicht enthalten ist. Wir erinnern hier an einen „Zustand“ bzw. Vollzug des Denkens, in dem der Zweifel (mittelhochdeutsch zwîvel, althochdeutsch zwîval aus germanisch twîfla, „doppelt, gespalten, zweifach, zwiefältig“) eine Sphäre der Unentschiedenheit zwischen mehreren möglichen Annahmen bezeichnet, in der entgegengesetzte oder unzureichende Gründe zu keinem sicheren Urteil oder einer begründeten Entscheidung führen.

Diese Unsicherheit bezieht sich also nicht nur auf den Prozess im Denken selbst, sondern auch auf Vertrauen, Handeln, Entscheidungen, Glauben oder Behauptungen bzw. Vermutungen und gründet in der Wahrnehmung des Seienden als solchem und einem, darin verankerten, adäquaten Denken. Als gleichgültig, als gleichwertig, wobei Gültigkeit und Wertigkeit keinem kategorialen Kanon des Denkens entnommen sind.

Diese Art von Synthesis von Wahrnehmung und Denken kannten die antiken Griechen noch als Dichtung, wie wir sie als Gesamtkunstwerk der Theaterdichtung beschrieben haben. Zu ihr gehört auch die Musik als Einzelkunst, von der ja weder Platon noch Aristoteles seriös Notiz nahmen. Wir sahen, dass für Platon die Musik in seinem Dialog „Symposion“ als Techne, also im Sinne von kunstvoll-handwerklicher Betätigung des Menschen lediglich eine Durchgangsstation zur Erkenntnis des Seienden ist, weil sie die Liebe zum Sinnlich-Schönen hervorrufen kann. Gleichzeitig ist in Platons „Politeia“, also seiner Staatsphilosophie, die Musik instrumentalisiert zur Erziehung der Angehörigen eines Gemeinwesens und unterliegt damit auch sogleich engen Begrenzungen in Inhalt und Ausführung.
Man kann in umgekehrter Pointierung formulieren, dass die Musik, weil sie die Kraft der „Beeinflussung“ hat, an die sog. Kandare genommen werden muss und wundert sich einigermaßen, wie lange diese Auffassung sich historisch gesehen gehalten hat.

Auch bei Aristoteles ist die Musik hauptsächlich Mittel zum Zweck der Beeinflussung von Charakter und Seele: Da das Eidos, also das Urbild der Kunst in der Seele des Herstellenden liegt, ist die Mimesis, also die Nachahmung bei Kunstwerken bezogen auf die menschlichen Seelenbewegungen und Affekte. Daher kann auch Musik die Affekte der Menschen beeinflussen, idealerweise zum Positiven, was man aber der Musik keinesfalls allein überlassen darf. Auch wenn er keinen großen Namen in der Philosophiegeschichte sich erworben hat, drückt der Arzt und Philosoph Sextus Empiricus im 2. Jhd. n.Chr. die Gefahr, die von der Musik auf das Denken ausgeht, recht klar aus: „Sie ist ein Hindernis und widersetzt sich dem Streben nach dem Sittlichen, indem sie die Jugend zur Zuchtlosigkeit und Ausschweifung verführt.“xii Anscheinend wurde schon recht früh in der Geistesgeschichte der Menschheit die enorme Wirkung der Musik gerade auf Jugendliche klar gesehen.

Ebenso kein gutes Haar mehr lässt der Vertreter des logischen Rationalismus und Verfechter des Empirismus an der Dichtkunst. „Es ist sonnenklar, daß alle Lebensweisheit und alle unentbehrlichen Sprüche, wie man sie bei Dichtern finden kann, wie Sentenzen und Predigten, von ihnen klar und deutlich ausgedrückt sind und keinerlei Literaturwissenschaft bedürfen. Was aber einer solchen bedarf (zur Interpretation), das ist ohnehin unbrauchbar… Was man braucht, ist nicht Literaturwissenschaft, sondern die Philosophie, die imstande ist, Unterscheidungen zu treffen.“xiii

Dichtung wird gebilligt, ist brauchbar, aber unwissenschaftlich. Das literarische Kunstwerk wie die Musik sprechen für sich und sollen privatissime konsumiert werden. Ein öffentlicher Diskurs über Musik- oder Literaturwissenschaft ist nicht vonnöten, wenn überhaupt, dann ist eine kritische Auseinandersetzung mit den rationalen Mittel des wissenschaftlichen Diskurses zu führen, wozu fortan Philosophie auch zu gehören hat; heute bekannt als Analytische Philosophie. So werden die Künste nicht mehr nach ihrem Wesen betrachtet, sondern zunehmend in Hinblick auf ihre soziale Bedeutung und ihre pädagogische Wirksamkeit. Sie werden mithin politisch im Sinne ihrer Bedeutung und Funktion für das Zusammenleben in der Gemeinschaft.


Anmerkungen:

i De finibus bonorum et malorum I, 21

ii Athenaios im Gelehrtengastmahl XII

iii Maximilian Forschner, Die Ältere Stoa. In: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike, Band II, Stuttgart 1996, S. 29

iv Mark Aurel, Selbstbetrachtungen IX, 12; zit.n. Weinkauf

v Chrysipp, nach Stobaios, Eclogarum physicarum et ethicarum libri II, 77

vi Cicero, De officiis I, 130

vii Publius Terentius Afer, auf Deutsch Terenz (* zwischen 195 und 184 v. Chr. in Karthago; † 159 oder 158 v. Chr. in Griechenland. Wikipedia), war einer der berühmtesten Komödiendichter der römischen Antike.

viii Cicero, De officiis I

ix Epistolae 88

x Cicero, De oratore III, 195

xi Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe

xii Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos VI, 34

xiiiSextus Empiricus, Adversus Mathematicos I, 278/280



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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