Transzendenz bei Demokrit.
Franz Rieder • (Last Update: 19.11.2019)
Mehr noch als bei Heraklit, findet Transzendenz ihre erste, große philosophische Würdigung als eine Bestimmung des Menschen bei Demokrit. Wir werden später bei unseren Gedanken zur philosophischen Anthropologie zeigen, dass hier die eigentliche Bestimmung des Menschen, gedacht als sein Dasein, vorgedacht worden ist. Demokrit (470 – ca. 380 v. Chr.) war Sophist, Altersgenosse von Sokrates und ein wenig auch noch von Platon, ohne Sokratiker oder Platonist zu sein. Wären letzte seine Schüler gewesen, Philosophie hätte wahrscheinlich eine andere Geschichte geschrieben, eine andere Wendung genommen. Von dieser Wende berichten die Zeilen des Sophokles in seiner Antigone (441 v. Chr.), niedergeschrieben zum Vermächtnis eines, damals noch jungen Denkers, dessen Rang und Ruf zu seiner Zeit durchaus mit dem Platons zu wetteifern vermochte:
„Vieles ist ungeheuer, und nichts
ungeheurer als der Mensch …
Rede und luftleichten Sinn
Und städteordnenden Fleiß erlernte er wohl.
Lernte zu fliehen die Gastlosigkeit eisiger Berge
Und die Geschosse des Regens.
Reich an Erfahrung – unerfahren trifft ihn die Zukunft nie.
Nur vor dem Tode weiß er keinen Rat.
Weit über Erwarten begabt mit Können und Geist
schreitet er einmal zu Schlechtem, einmal zu Gutem.
Ein Freund der Stadt, erfüllt er das Gesetz der Götter
Und das beschworene Recht
Ein Feind der Stadt, tut er das Schlechte,
frevelt dem trotzigen Wagnis zuliebe.“
Was die Philosophie und die Naturwissenschaften von Demokrit gelernt haben, ist so gewaltig und nachhaltig gewesen, dass das eigentliche Vermächtnis, dem Sophokles in der Antigone ein wahrlich würdiges Denkmal gesetzt hat, leider keine Bedeutung fand. Für den Trotzkopf, diesen Gestalter der Zukunft, den Frevler und Gesetzesbrecher war in der Folge leider kein Platz mehr. Für die Kunst hinterließ Demokrit die bis heute extrem strittige These, dass etwas zur Kunst, genauer zum Künstler gehört, was viel mehr ist, als durch Fleiß und Bemühung zu erreichen ist. „Das Schöne kennen und erstreben die in dieser Hinsicht von der Natur Begabten.“i
Demokrit sah, dass ohne Begabung keine Kunst möglich ist, dass aber auch Begabung plus Fleiß keine großen Werke hervorzubringen ausreicht. Zur Begabung musste also noch etwas hinzukommen, was er mit Furor bezeichnet haben soll. Wie durch Horazii überliefert ist, soll Demokrit gesagt haben: „…er schließe daher die geistig gesunden Dichter vom Helikon aus“, was dem Künstler eine konstitutive Verrücktheit attestiert. Man sollte hier nicht allzu schnell mit unseren Vorstellungen von geistiger Gesundheit und Verrücktheit das Zitat assoziieren. Wenn aber Furor als ein Analogon zum Verständnis von Transzendenz veranschlagt wird, wäre es angenehm. Wir wissen nun also, dass auf dem Helikon, dem Sitz der Musen in der Antike, bis zu dem Zeitpunkt, als sie von Apollon nach Delphi gebracht wurden, lauter verrückte Künstler saßen, gewissermaßen zur Belohnung, aber wofür? Wir behaupten, dass die Belohnung ein gerechter Ausgleich war für ein Leben, das sich der Transzendenz verschrieben hatte. Nun gilt es aber zu klären, was Transzendenz im Sinne von Demokrit bedeutet, wenn sie nicht gleich der des Platon oder Aristoteles ist.
Würde Demokrit heute leben, stünde er in vorderster Reihe einer modernen Rationalitätskritik, die aber nicht in alte Modelle der Metaphysik zurückfällt. Gerade der Begriff Modell mag das verdeutlichen. Eigenartigerweise wurde schon damals Demokrits allgemeine Modelltheorie übersehen, die in einem bestimmten Sinne komplementär zu seiner Theorie des Atomismus steht, die schon zu seinen Lebzeiten große Beachtung fand. Wir erinnern an den eingangs zitierten Begriff der Komplementarität von Niels Bohr, nachdem zwei methodisch verschiedene Beobachtungen (Beschreibungen) eines Vorgangs (Phänomens) einander ausschließen, aber dennoch zusammengehören und einander ergänzen können. Demokrits Modelltheorie besagt, dass Atome sich im Leeren (Raum) bewegen, wir die Atome und ihre Bewegung nur denken, aber sinnlich nicht erfassen können. Was wir sinnlich erfassen sind Moleküle, also Verbindungen der Atome zu größeren Einheiten. Moleküle aber sind sinnlich erfahrbar. Wenn wir also Atome denken, konstruieren wir Modelle, die unsere Vorstellung von Atomen veranschaulichen, also in einer gewissen Art sinnlich erfahrbar machen und mit dem Phänomen (Molekül) in Verbindung bringen. Demokrit benutzt in diesem Zusammenhang nicht nur den Begriff des Modells, sondern auch den des Gleichnisses.
Ein wegweisendes Beispiel mit Wirkungen bis hin in die moderne Sprachphilosophie findet man dort, wo Demokrit im Zusammenhang mit dem Begriff der Leere auf die Sprache verweist. Demnach sind die Buchstaben die Grundgestalten (Zeichen) aller schriftsprachlichen Gebilde. Die Buchstaben verknüpfen sich in vielfältigsten Kombinationen zu Wörtern und diese wiederum in ebensolcher Vielfalt zu Sätzen. Buchstaben aber werden wie Wörter in einem Satz durch einen Abstand getrennt, der ihre vielfältigen Kombinationen erst möglich macht. Demokrit begründet hier nicht nur moderne Sprachtheorie, sondern benutzt dieses Beispiel als Gleichnis für seinen Begriff der Leere.
Dieses sprachliche Beispiel ist zugleich auch Gleichnis für die Leere (der atomare Raum), also einen Begriff, der keine sinnliche Anschauung hat (jedenfalls damals noch nicht). Modelle oder Gleichnisse, später werden dann daraus in der Kunstphilosophie die Symbole, Metaphern, Analogien etc., sind für Demokrit also Veranschaulichungen von etwas den Sinnen Verborgenem. Sie sind im Übrigen in dem Sinne komplementär, als sich Modell und Molekül von der Art der Beschreibung ausschließen, durchaus aber gleichzeitig ergänzen. Was Kant in seiner Unterscheidung zwischen psychologischer, empirischer und transzendentaler Apperzeption entworfen hat, wir gehen hier nicht näher darauf ein, unterscheidet sich zu Demokrits Modelltheorie genau in diesem Punkt: nämlich, dass dieser deren komplementäres Verhältnis begriffen hat.
Transzendenz und Immanenz
Es sind Gleichnisse, durch die Platon uns mit den Ideen vertraut gemacht hat; nicht zuletzt das berühmte Höhlengleichnis. Alle wesentlichen Vorstellungen im Denken von Platon werden uns vorgestellt (und wir sollten nach deren Lektüre klingen wie eine Lyra, die vom Klang einer anderen angestoßen mitschwingt) in Höhlen-, Sonnen- und Liniengleichnissen, wo wir auch dem, was den Sinnen verborgenen ist, begegnen, wie in der Kunst, die uns bis in die Moderne mit Modellen des Seinsverständnisses versorgt hat. Wenn wir in diesem Zusammenhang fundamental von Transzendenz sprechen, dann haben wir nicht die von späterer Philosophie und vor allem von Theologie und Religionswissenschaft beeinflusste Gegenüberstellung zur Immanenz im Sinn. Diese seit dem Mittelalter lange Zeit vorherrschende Auffassung einer Zuordnung von „Gegenständen“ zu Bereichen der Erfahrung hat schon eine lange Umschreibung hinter sich. Demnach gilt als transzendent, was außerhalb oder jenseits eines Bereiches möglicher Erfahrung, insbesondere des Bereiches der normalen Sinneswahrnehmung liegt und nicht von ihm abhängig ist. Und als immanent, was das in den endlichen Dingen Vorhandene bezeichnet, die alle sinnlich erfahrbar sind und diesen Raum des Endlichen nicht überschreitenden und damit auch ohne Rückgriff auf Transzendentes erklärbar sind.
Was hier schon passiert ist, ist die Zuordnung der Erfahrung zu zwei voneinander getrennten Bereichen, also die Grundlegung von Erfahrung auf einer Dichotomie. Nämlich auf einer ontologischen Gegenüberstellung, die seither als komplementär bezeichnet wird, mit dieser, die uns interessiert aber nichts zu tun hat, einer immanentem und einer transzendenten Wirklichkeit, diese ewig-unendlich, jene endlich-vergänglich. Ebenso wenig adressieren wir damit jene „Glaubensphilosophie“, die hier eine erkenntnistheoretische Abgrenzung vornehmen möchte, nach der, ausgehend von der Annahme, dass der Mensch nur über ein eingeschränktes Erkennen verfügt und damit alles Transzendente als das verstanden wissen will, was den Bereich des beschränkten, menschlichen Erkennens überschreitet. Wenn Gott oder Glaubenssätze an die Stelle der Frage nach dem Sein treten, dann stimmt die Chause. Von dort aus werden dann auch rekursiv die platonischen Ideen des Guten, Wahren, Schönen etc. zu Transzendentalien (transzendentalen Prinzipien), die die aristotelischen Kategorien überschreiten.
Gehen wir aber schnell wieder zurück an den Punkt, bevor noch die ontologische Spaltung des Denkens in Immanenz und Transzendenz vollendet ist. Hier steht die Frage als ein Grundproblem aller philosophischen Modelle, die Transzendenz annehmen: wie die Annahme einer (fundamentalen) Verschiedenheit der beiden Bereiche mit der Annahme vereinbar ist, dass von einem der Bereiche aus die Existenz des anderen erkannt oder sogar die Grenze überschritten werden kann. Diese Frage und auch deren Beantwortung hängt wesentlich damit zusammen, was man unter dem Wort: fundamental versteht.
Theologische Modelle müssen die Welten des „Diesseits“ und des „Jenseits“ fundamental trennen. Sonst niemand. Denkt man keine radikale Verschiedenheit, sondern gehören die Koordinaten des Möglichen in den Bereich des Wirklichen, wenn also das Wirkliche, mithin das Seiende gedacht wird als prinzipielle Möglichkeit der Ausfaltung der Koordinaten des Wirklichen hin auf den Prozess des Überschreitens, dann gibt es weder zwei Welten, noch eine Dichotomie und auch kein erkenntnistheoretisches Problem, gar ein Dilemma.
Von Platon zu Aristoteles über die Sophisten
Vorsicht aber, wie immer, denn auch hier schlummern noch erbliche Gefahren für das Denken. Ein Beispiel im Vorgriff darauf mag die Entwicklung des Denkens von Platon zu Aristoteles illustrieren. Wir sahen, dass uns Platon einen Bereich der Ideen vorstellte, der intelligibel und gleichzeitig Ursache für die Existenz eines anderen Bereiches sein sollte, den Bereich der sinnlich erfahrbaren Welt. Zur sinnlich erfahrbaren Welt gehören nach Platon nicht nur materielle Objekte, sondern auch Ereignisse und Handlungen. Die Ideen sind die ewigen, unveränderlichen geistigen Urbilder und die Sinnesobjekte sind deren – notwendigerweise – unvollkommenen und mangelhaften Abbilder. Notwendigerweise deshalb, weil Abbilder prinzipiell von anderer Beschaffenheit sind als deren Urbilder. Und da zwischen Idee und Abbild ein ontologisches Abhängigkeitsverhältnis besteht, nämlich eins der Partizipation, also der unvollkommenen Teilhabe, ist die Welt der Ideen von der sinnlich erfahrbaren Welt aus gesehen transzendent.
Dagegen trat Aristoteles mit aller Vehemenz auf, weil er das Problem
der Teilhabe und der Vermittlung sofort erkannte, allerdings von
einer logischen Schärfe ausgehend, die er gewissermaßen
von Beginn an in die mild gewürzte platonische Suppe goss. Für
ihn, Aristoteles, stellte sich Platons transzendenter Ideenbereich
als eine disparate Welt, dissoziativ, also ohne Bezug zur Sinneswelt
dar. Mehr noch, zwischen den beiden Bereichen sah er einen
unüberbrückbaren, ontologischen Abgrund.
Um nicht in
diesen zu stürzen, erklärte er die Ideen nicht als
abgesonderte Substanzen, sondern als Formen der Sinnesobjekte, die
mit deren Materie untrennbar verbunden seien. Was aber Aristoteles
gleichsam als unheilvolle Mitgift des Platonismus – vielleicht
auch unbemerkt – zeitlebens mitschleppte, war die
unbeantwortete Frage nach dem Werden, also der Bewegung und die
beantwortete er bekanntlich in Anlehnung an die Figur des Demiurgen.
Wie Platon entwickelt auch Aristoteles eine teleologische Theorie, die universell die Natur und deren Ziel erklären soll. In seiner Schrift mit dem Titel „Metaphysik“iii wird als logische Konsequenz aller Bewegungen und Entwicklungsprozesse der unbewegte Beweger als immanente Ursache bestimmt, auf die er bereits in seinem Werk „Physik“iv deutlich hinweist, in dem er die belebte Natur beschreibt. Ebenso lässt sich in seinem Modell des Kosmos, der die unbelebte Natur darstellt und in der Schrift „Vom Himmel“v dargelegt ist, der unbewegte Beweger finden, da seine Existenz sich außerhalb des materiellen Kosmos befindet. Den Demiurgen ersetzt Aristoteles also mit dem unbewegten, ewigen Beweger als Ursprung aller Bewegung und damit notwendig in seiner Existenz, die ebenso eine abgesonderte Existenz vorstellt wie die Welt der Ideen und damit gleichzeitig auch ein transzendentes Prinzip aller Prinzipien abgibt.
Was war passiert? Die Sophisten!
Von einem der ihren, Protagoras (ca. 480 – ca. 411), stammt der berühmte Satz (homo-mensura-Satz): „Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Der Seienden, daß sie sind, und der Nicht-Seienden, daß sie nicht sind“.vi Und auch der Satz: „Sein ist gleich jemandem Erscheinen“. Das waren schallende Ohrfeigen ins Gesicht des Parmenides und eine fundamentale Rehabilitierung der Erkenntnis und Wahrheit aus einem weiteren Bereich als den sinnlichen Erfahrungen, die er mithin nicht als einzige wahre Erkenntnisart anerkennt. Wenn Sein wie die Sophisten aussagen, heißt, jemandem, also einem anderen Menschen erscheinen, dann ist nicht nur der Mensch das Maß aller Dinge, sondern damit auch der Phänomenalismus aus der Taufe gehoben. Phänomenalismus nach Platon ist die unzulässige Favorisierung einer individualistischen Erkenntnisperspektive, genährt aus subjektiven Interessen. Und Platon geht hier noch weiter und betrachtet den Sophismus aus einer Perspektive der Polis. Darin verbinden sich individuelle und subjektivistische Motive zu einem individualistischen Egoismus, dem der ethische Relativismus und der erkenntnistheoretische Subjektivismus folgen und die zusammen eine Idee einer gerechten, politischen Gemeinschaft unterlaufen; das war weise formuliert.
Platon widmete Protagoras einen eigenen „Dialog“ und seinem Phänomenalismus höchste Aufmerksamkeit, die aber nicht lange anhielt und bald ihre Bedeutung verlor, als Platon die Ideenlehre als Lehre vom eigentlichen Sein jenseits der Phänomene vorstellte. Bei den Phänomenen gab es also nichts zu erkennen – dieser Weg führe ja nach Mahnung der Göttin Sophia zum Nichts – wohl aber viel zu erleben. Denn hier herrschten bald diese, bald jene Umstände, meist der blanke Hedonismus, das auf das Erleben des Menschen gerichtete, wilde, blinde Lustprinzip. Die Welt sah Platon im Zustand des Tumults, des Taumels, der Hysterie.
So stellten die Sophisten fest: die Künste sind für das Vergnügen da, sie erfreuen Auge und Ohr und sind ihnen angenehm. Aber auch dies ist abhängig von den Umständen: „Nichts ist in jeder Hinsicht schön oder häßlich, sondern dazu hat sie die Zeit gemacht, die häßlich und schön miteinander tauscht…Mit einem Wort: alles zur rechten Zeit ist schön, alles zur unrechten Zeit ist häßlich.“vii. Die Beurteilung von Kunst stellen also die Sophisten in einen historischen Kontext. Die Beurteilung, was ist Kunst, was ist Kitsch, was gute, was schlechte Kunst liegt von da an in den Händen der Kunstgeschichte, die nach Kunstepochen unterscheidet und die Kunstepochen entsprechen dann bestimmten Schönheitsidealen. Die Bedeutung der Kunstgeschichte im Kunstdiskurs hat heute eigenartigerweise wieder weiter zugenommen. Wir wollen dem nicht nachdenken an dieser Stelle, sondern uns noch mit dem Kern der sophistischen Kunstauffassung ein wenig beschäftigen. Der Kunstphilosophie haben die Sophisten die Frage nach Wahrheit und Falschheit, Täuschung und Illusion als Eigenschaften der Kunstwerke selbst vererbt. Und gleichzeitig damit verbunden die enorme Desillusionierung, dass es irgendwo überhaupt noch einen Kanon der verlässlichen Unterscheidung geben kann. Das hören natürlich die Vertreter einer kunstgeschichtlichen Betrachtung ungern und haben diesen Teil der sophistischen Kunstphilosophie umso lieber aus ihrem Denken und Vokabular gestrichen. Gleichzeitig erlebt der Künstler eine geradezu schubartige Aufwertung, da ja nun er selbst das Maß aller Dinge ist, weshalb sich einige und nicht die unwichtigsten Künstler heute explizite oder zumindest nicht ganz ungern in dieser Denktradition sehen.
Aber zurück zum „Original“. Der Gedanke, alles ist Kunst und jeder Mensch ein Künstler, so verführerisch er auch sein mag, ist mit den Sophisten nicht überein zu bringen. Den Sophisten war es ein nicht hinterfragbares Anliegen, zwischen nützlichen und nutzlosen oder gar überflüssigen Künsten zu unterscheiden, mithin also die Unterscheidung zwischen dem, was wir Handwerk und Kunst nennen. Denn auch für die Sophisten war der Gedanke, dass alles nur eben ein Phänomen ist und somit in sich keine weiteren, differenzierenden Eigenschaften besitzt, eine Illusion. Gorgias (ca. 483 – 374 v. Chr.), dem Platon einen seiner umfassendsten Dialoge gewidmet hat, macht im Anschluss an Heraklit auf den inneren Wesenskern der Illusionistik der Kunst aufmerksam. Er benutzt dazu die Worte Verhexung (goeteia) und Täuschung (apáte) und stellt damit die Kunst als ein „Spiel“ zwischen Kunst(werk) und Betrachter in den Vordergrund, ohne Rekurs auf eine „dahinterliegende“ Wahrheit oder ähnliche „Kategorien“, sprich Sichtweisen. Indem die Kunst nachahmt, täuscht sie den, der das Abbild für die Wirklichkeit hält und gleichzeitig enttäuscht sie den, der den Unterschied bemerkt, denn dann hat die Kunst versagt; wie wahr!
Viele Jahre später verweist der griechische Schriftsteller Plutarch (45-125 n. Chr.) auf diesen Aspekt, wenn er schreibt: „Die Tragödie bewirkt durch ihre Mythen und Leidenschaften eine Täuschung, wie Gorgias sagt, und derjenige, der getäuscht hat, ist gerechter als der, der nicht getäuscht hat, und der Getäuschte ist klüger als der, der nicht getäuscht worden ist.“viii. Die Frage, was ist Kunst? ist also auch hier nicht einfach damit beantwortet, dass Kunst die Menschen erfreut, sondern klüger macht, wofür es einen Künstler braucht, der „gerecht“ ist, hier gemeint als jemand, der der Sache, der Täuschung angemessen ist, also sich seines Tuns und der Menschen, die seine Kunst erleben bewusst ist.
So einfach also kommt die Kunst bei den Sophisten nicht weg, im Gegenteil. Der Anspruch hat sich sogar noch erhöht und wird auch weiterhin ein hoher sein. Im Vorgriff auf spätere Passagen kann man hier schon festhalten, dass der platonische Weg, der sich über die Frage der Beziehung zwischen Modell und Werk aufmacht, also die Kunstwerke nach den ideellen Vorstellungen bewertete, bis heute nachhallt in der Frage nach der Originalität des Kunstwerks und der künstlerischen Potenz des Künstlers. Allein hierin wird schon deutlich, in was für eine Denksackgasse der moderne Kunstdiskurs geraten ist, wenn niemand, selbst Platon, der die ideellen-ewigen Ideen so genau kennt, nicht präzise bestimmen kann, was denn dann die künstlerische Potenz des Künstlers ist.
Anmerkungen:
i Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker B 56
ii De arte poetica 295
iii Aristoteles, Metaphysik, übersetzt und kommentiert von Hans G. Zekl, Würzburg 2003., besonders im Buch XII
iv Aristoteles, Physik, griechisch-deutsch, übersetzt, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen herausgegeben von Hans G. Zekl, Halbband 1, Hamburg 1987 und Halbband 2, Hamburg 1988.
v Aristoteles, Vom Himmel, eingeleitet und übersetzt von Olof Gigon, Zürich 1983
vi Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker 80B1 = Platon, Theaitetos 152a.
vii Dialexeis, Fragmente eines unbekannten Sophisten
viii bei Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker B 23
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