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Exkurs zur Streitfrage Wesensphilosophie vs Seinsmetaphysik

Franz Rieder •    (Last Update: 19.11.2019)

Die Philosophie kann nicht einfach bloß die Frage nach dem Allgemeinen im Unterschied zum Besonderen stellen. Sie muss, und dies ist dann keine Freiheit mehr, es zu tun oder zu lassen, immer auch die Frage in den Horizont einer weiteren Frage stellen, nämlich, was an diesem Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen nun wesentlich (wichtig, sinnvoll, bedeutend etc.) ist. Damit steht sogleich im Verständnis der Wesens-Metaphysik die Frage nach dem Wesen im Gegensatz zum Sein. Da die Frage nach dem Wesen im Unterschied eine eingrenzende Frage ist, wird das so befragte Wesen als eine begrenzte Möglichkeit zu sein betrachtet (potentia), die erst durch das Sein in die Wirklichkeit überführt wird. Das Sein kommt in dieser begrifflichen Auseinandersetzung noch schlechter weg, wird es dabei doch als bloßes Existenz-Prinzip und damit als selbst vollkommen inhaltsleer aufgefasst.

Das Problem, dass man Prinzipien nicht reiten kann.

Was man über das Existenz-Prinzip sagen kann, kann man generell über alle Prinzipien im Kern aussagen. Nehmen wir als Beispiel das allseits bekannte Nützlichkeitsprinzip (Utilitarismus). Dann finden wir bereits am Anfang jeder Überlegung, dass auch dieses Prinzip zunächst einmal grundsätzlich in seiner Denkrichtung definiert werden muss. Die hedonistische Form des Utilitarismus definiert grundsätzlich das Glück des Einzelnen aus dem Glück der Allgemeinheit. Sie setzt also das Wohlergehen aller gleich bzw. in Beziehung mit dem Glück einzelner. Und schon steht sie vor dem Problem, dass man dem Begriff der Allgemeinheit kein eigenes Handeln, keinen Inhalt im Sinne einer Handlungsmaxime aufgeben kann. Es bleibt also nur die konsequenteste Form der Reduzierung der Allgemeinheit auf die Handlungsvollmacht des Einzelnen in der Maxime: „Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“ (Prinzip des maximalen Glücks bzw. engl. maximum-happiness principle). Das allgemeine Glück wird damit als Aggregation des Glücks der einzelnen Individuen aufgefasst, was in der griechischen Philosophie in eine eudämonistische Ethik mündete. Gleichzeitig ist die Umkehrung des Imperativs unwahr, denn für den Einzelnen heißt, kein Glück zu haben muss kein Unglück sein, was durchaus den Einzelnen zu Überlegungen führen kann, diese Maxime für sich nicht sonderlich ernst zu nehmen. So kann das bei jedem Einzelnen zu konträr zur Maxime widersprüchlichen Handlungen bzw. geistigen wie praktischen Konsequenzen führen, die den Utilitarismus seiner konsequentialistischen Ethik beraubt.

Von der Maxime bleibt also nichts mehr übrig und damit dies nicht geschieht, muss das Prinzip der Nützlichkeit um eine konsequent altruistische und universalistische Moraltheorie erweitert und bekräftigt werden, die die bloße Propagierung der Vergrößerung des Allgemeinwohls durch die Handlungen aller Einzelnen gewährleistet. Nur eins (neben vielen anderen) bleibt auch dabei auf der Strecke, nämlich die Frage, ob der Verzicht der eigenen Freiheit nicht auch immense, einschränkende Wirkung auf das eigene Glück zeitigt. So gingen auch die griechischen Philosophen im umgekehrten Fall einer eudämonistischen Ethik selbstverständlich davon aus, dass eine gelungene Lebensführung nach den Anforderungen und Grundsätzen einer philosophischen Ethik einen ausgeglichenen Gemütszustand erreichen kann, der mit Glück oder Glückseligkeit bezeichnet werden kann. Und das dieses Ziel eigentlich das Ziel und Ideal aller Menschen sei. Dieses eudämonistische Axiom verband das Ziel aller Handlungen des einzelnen Menschen mit dem Ideal der Selbstgenügsamkeit, Autarkie, was nichts anderes bedeutet, dass als Kennzeichen des guten Lebens galt, dass man das „Glück“ nicht von äußeren Faktoren erhoffte oder gewährt bekam, sondern es in sich selbst findet, indem man sich in allen Lebenslagen eine unerschütterliche Gemütsruhe bewahrt. Die Freiheit, dies zu tun, wurde aber sogleich begrenzt durch eine Vielzahl an Regeln für eine Lebensweise, die Eudaimonia ermöglichen sollte und die man sich nicht ganz mühelos erarbeiten musste, was ja zunächst einmal nicht viel mit Glück und Selbstgenügsamkeit zu tun hat. Auch kam dazu, dass man, ohne Grundtugenden zu verinnerlichen, kaum sein Ziel erreichte.

Zu diesen Tugenden gehörten in der griechischen Antike eine Gruppe von vier Haupttugenden, erstmals bei dem griechischen Dichter Aischylos in seinem 467 v. Chr. entstandenen Stück: Sieben gegen Theben (Vers 610) belegt, die später auch von Platon fast vollständig übernommen wurden.
In seinen Dialogen Politeia und Nomoi behielt Platon die Tapferkeit (bei ihm ανδρεία, andreia), die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη, dikaiosýne) und die Besonnenheit (σωφροσύνη, sophrosýne), ersetzte aber die Frömmigkeit (εσέβεια, eusébeia) durch Klugheit (φρόνησις, phrónesis) oder Weisheit (σοφία, sophía). So sehr auch die Gruppe dieser Tugenden einen fast schon universellen Geltungsbereich von individuellem Glück umschreiben, blieb aber auch hier die Frage übrig (und stark umstritten), ob diese Tugenden, mithin noch eine Anzahl weiterer allein ausreichen können für eudämonistische Glückserfahrung, oder ob nicht auch körperliche Erfahrungen, angefangen von subsistenziellen Belangen, mentaler und körperlicher Gesundheit sowie eine ganze Anzahl äußerer Güter etc. neben den Tugenden benötigt werden, um Ziel und Ideal nahe zu kommen.

Von der bloßen Möglichkeit zu essen wird keiner satt.

Rückt man den Wesensbegriff ins Zentrum des Denkens und behauptet, das Wesen sei etwas an sich Gegebenes, dann führt diese Auffassung schlussendlich zu einem Seinsverständnis, in dem das Sein, genauer die Gesamtheit des Seienden als ein leerer Begriff übrigbleibt, der dann als solcher den Charakter des bloß Möglichen trägt – nebenbei angemerkt hat sich ein quantitativer Begriff wie der der Allgemeinheit hier in einen qualitativen, transzendentalen Begriff transformiert. Aristoteles hat die platonische Metaphysik in seiner „Kategorienschrift“ dahingehend präzisiert, dass das Wesen als das „Eigentliche“ aufgefasst werden kann, das allein wissenschaftlich Aussagen darüber erlaubt. Mit dem Begriff des Wesens und dem Eigentlichen wird also etwas Allgemeines verstanden, das allem Seienden inhärent ist. Das Individuelle wiederum wird dadurch dem Allgemeinen untergeordnet und als etwas durch Begrenzung Entstandenes und an sich selbst Unvollkommenes betrachtet. In der Folge dieses aristotelischen Gedankens stellt sich in der Scholastik konsequenterweise die Frage nach der Individuation; genauer gesagt, nach dem Individuationsprinzip. Die Frage also, wie sich aus dem Allgemeinen das Individuelle ergeben kann, ist damit keine einfache Frage mehr, sondern muss auf das Allgemeine zielend auch als ein allgemein gültiger Vorgang betrachtet werden und schon ist dieses Denken wieder zwangsläufig ein Denken in Prinzipien, zumal in tranzendentalen.

Wenn alles Seiende demnach aus einem Allgemeinen entspringt und damit gleichzeitig der universelle Primat des Allgemeinen gesetzt ist, dann ist es zunächst einmal noch gar nicht ausgemacht, wie das Individuationsprinzip funktioniert. Da das konkrete Seiende, das wirklich existiert, kein allgemeines Wesen führen kann, da es aus dem Wesen an sich eines für sich ganz und gar selbständigen Allgemeinen hervorgeht, das Wesen selbst aber nicht existent sein kann, da alles, was Seiend ist, ja etwas durch Begrenzung Entstandenes und an sich selbst Unvollkommenes, mithin nichts Allgemeines sein kann, kann man vom Wesen auch lediglich als reine Möglichkeit sprechen, also von einem Sosein ohne Dasein (esse ohne existentia). In dieser Sicht einer Wesensmetaphysik, als ein Essentialismus, wird eine so genannte „Realdistinktion“ zwischen Sein und Wesen vorgenommen. Das Wesen erscheint als das einen bestimmten Seinsgehalt ermöglichende Prinzip, das durch das Sein verwirklicht wird.

So ist es auch nicht falsch, wenn vom Standpunkt einer Seinsmetaphysik daher nicht zufällig an der Wesens-Philosophie kritisiert wird, dass sie zu einem Verständnis der Metaphysik als einer Wissenschaft vom bloß Möglichen führe und das Sein als reine Existenz begreift, die ohne jeden konkreten Inhalt bestimmt ist. Was die Wesensphilosophie grundsätzlich unhinterfragt lässt, ist die Gleichsetzung eines in Begriffen und deren Wesensbestimmungen erzeugten Modells des Wirklichen mit der Wirklichkeit selbst und damit die Behauptung einer verlustfreien, ontisch-ontologischen Repräsentation. In der Tradition von Aristoteles liest sich der Begriff des Wesens doppel-bedeutend. Einmal als Ousia im Sinne eines Selbststand besitzenden konkreten Individuums, zum anderen als eine allgemeine und bleibende Bestimmtheit eines konkreten Individuums. Das alles hat durchdringende Auswirkungen auf unser modernes Denken wie wir sehen werden. Ob es die endlosen Auseinandersetzungen zur Frage der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in sozialpolitischer Hinsicht betrifft, oder in rechtspolitischer Hinsicht die Frage nach der Grenze zwischen Gesetz und individueller Freiheit, die sogar die Frage nach der Legitimität von Widerstandshandlungen berührt.

Während Platon nur dem Allgemeinen ein Wesen (ousia) im vollen Sinne zusprach und den Einzeldingen nur eine Teilhabe an der Ousia ihrer jeweiligen Arten, gibt es Überlegungen von Aristoteles, die in eine umgekehrte Richtung verlaufen, in denen also umgekehrt die primäre, ursprüngliche Ousia in den Einzeldingen zu finden ist und den Arten nur eine sekundäre, abgeleitete Ousia zugebilligt wird. Aristoteles darf aber letztlich in der Tradition der Wesensmetaphysik von Platon gelesen werden und wurde auch nur von dieser Position ins Mittelalter übertragen. Aus der mittelalterlichen Philosophietradition rührt die auch heute noch allgemein gebräuchliche Verwendung der Ousia her im Sinne der letzteren, der allgemeinen und bleibenden Bestimmung.

Es gibt weitere Kritikpunkte an der Tradition der griechischen Wesensphilosophie. Was aber aller Kritik stets entgegengehalten wird ist, dass mit der Aufgabe der Frage nach dem Wesen auch die Gefahr wächst, alle Betrachtungen des Seienden zu früh auf eine nurmehr bloße empirische Betrachtung, auf ein Sosein zu beschränken. Es kann nicht genügen, die Frage zu stellen: wie ist der Mensch? Der Antworten gäbe es zwar viele, aber sie definierten wohl nur Akzidenzien (Eigenschaften), wenig Substanz. Die Frage: was ist der Mensch? seit dem Mittelalter als „Quidditas“, Washeit bezeichnet, ist von solcher Wichtigkeit, dass man sie so leicht nicht aus dem Kanon der philosophischen Fragen streichen kann. Es hilft dabei auch wenig, eine Position wie den sogenannten „modifizierten Essentialismus“ von Karl Popper einzunehmen, der auf Letztbegründung zugunsten immer tieferer Erklärungsebenen verzichtet. Auch kann die Frage nach dem Wesen nicht abgelöst werden durch eine Bestimmung von Bedeutung und Sinn, wie dies etwa in der Wertphilosophie von Max Weber versucht wird. Dort steht die Frage: wie und warum etwas so ist wie es ist? immer im Horizont einer Relation zwischen Wertideen und Kulturerscheinungen. Wenn Wertideen und Kulturerscheinungen aber letztlich geschichtlichen Veränderungen unterliegen, was dann? Wie lässt sich dann eine Werte-, schlimmer noch ein Ideen-Relativismus verhindern?

Man kommt also nicht umhin, gerade im Zusammenhang einer Philosophie des menschlichen Daseins, die Frage: was ist der Mensch? neu zu stellen. Und zwar nicht so, dass dabei nur die Ermöglichung des menschlichen Daseins bestimmt wird, sondern dessen fundamentale existenzielle Bestimmungen sichtbar werden. Wir kommen im Rahmen unserer philosophischen Anthropologie darauf zurück.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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