Nous und Ananke bei Platon
Franz Rieder • (Last Update: 20.11.2019)
Im Timaios ist der Kosmos etwas Ewiges, von der göttlichen Vernunft hervorgebracht. Der Kosmos ist gewissermaßen die „Schnittmenge“ aus Weltkörper und Weltseele, vorgestellt als kugelförmiger Körper des Alls, durchdrungen und umhüllt von der Weltseele; umhüllt deshalb, da ja die Weltseele weiter gedacht ist als der Weltkörper, mithin als dessen bewegendes Element. Auf dem Weltkörper, heute würde man sagen, Globus, existieren Lebewesen, Seelen genannt, die mehr oder weniger und das ist durchaus graduell gedacht, mit ihren Körpern zu einer Leib-Seele Verwandtschaft verbunden sind.
Wir sehen, einmal in anderen Worten gesprochen, hier an dieser Stelle in den Geburtsvorgang unseres Denkens, quasi zurück in die letzten Tage der Schwangerschaft des modernen Denkens. Von Parmenides übernahm Platon die strikte Unterscheidung zwischen der Sinneswahrnehmung, die auf körperliche Gegenstände gerichtet ist und einem rein geistigen, nur dem Nous (altgriech. νοῦς) zugänglichen Bereich. Die Noesis steht bei Platon als das höchste Erkenntnisvermögen, als diejenige Betätigung des Nous, mit der dieser das unwandelbare Seiende, das Sein des Seienden, unmittelbar und wirklichkeitsgemäß erfasst, unabhängig von jeder Sinneswahrnehmung. Bei Platon ist der Nous aber stets und notwendig an eine Seele gebunden, denn ohne eine Seele kann er nicht existieren. Also sind auch alle Lebewesen grundsätzlich, d. h. hier von Natur aus noetisch begabt, bzw. der Noesis fähig. Nus und Noesis stehen wie Noesis und Noema in Husserls Phänomenologie in strenger Korrelation zueinander. Bei Husserl entspricht jedem Urteilsakt ein Urteil als dessen Noema. Aber dasselbe Urteil kann auch in einem anderen Urteilsakt gefällt und von anderen Subjekten verstanden werden. Also sind Denken, das als ein bestimmter Denkakt zu einer bestimmten Zeit stattfindet nicht dasselbe wie der Nous, der weiter gefasst als die Noesis ist und ein im Kosmos als Ganzem wirkendes Prinzip bezeichnet; wir würden diese Korrelation mit „göttlicher Weltvernunft“ umschreiben.
Gehen wir zurück in die Geschichte, in die Etymologie des Begriffs Nous, dann muss man damit umgehen lernen, dass es keine eindeutige Bestimmung des Begriffs gibt. Ursprünglich, soweit nachvollziehbar, beinhaltet der Begriff einen Vorgang der Erfassung des Seienden mittels Sinneswahrnehmen. Homer verwendet das Verb noein so, hat aber eine klare, direkt wirksame Relation zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis im Blick; kein Zufall, da er ein Dichter ist. Wahrnehmung bewirkt Erkenntnis bzw. Urteile als etwas wahrnehmen zugleich auch etwas als etwas begreifen bedeutet. Dass, was mittels Sinne wahrgenommen wird, erwirkt ein unmittelbares Begreifen, etwa das Begreifen einer Situation als gefährlich, angenehm, schön, undurchsichtig, mysteriös. Diesen homerischen Nous haben Nietzsche, die Existenzialisten und Heidegger im Sinn, ein Begreifen, welches nicht unmittelbar zwischen Wahrnehmung und Denken analysierend abwägt, sondern ein Seiendes, eine Situation oder ein Ereignis unmittelbar sinnlich erfasst und zugleich sowohl eine ideelle sowie reale Reaktion bewirkt. Das nennen wir heute Intentionalität und behalten dabei die Vielgerichtetheit, die sich auf alles richtet, was innerhalb realer und ideeller Wahrnehmung erscheint und aus dieser heraus bewirkt werden kann. Bei Homer finden wir deshalb auch die Bedeutung des Nous (noos) als einen inneren Dialog, eine Art geistiges Selbstgespräch, dialogue intérieur, in dessen Verlauf der Dichter – man darf auch in Grenzen den Philosophen und den Künstler hinzunehmen – ein neues Werk erdenkt und umsetzti.
Besonders Kant und später Husserl, auch Gadamer mag man hier nennen, haben sich um ein Verständnis bemüht, was unterwegs zwischen Wahrnehmung und Denken sowie Handeln passiert und welchen ontologischen Status das Gedachte in den verschiedenen Denktätigkeiten oder Denkformen annimmt bzw. annehmen kann. Der ist unterschiedlich, ob die Noetik in Form einer Logik, einer Erkenntnistheorie, einer nicht-psychologischen Phänomenologie oder in den verschiedenen Formen der Dichtung, der Poesie oder anderen erscheint. Wo und wie findet heute in den Wissenschaften noch das Ringen um den adäquaten Zugang zu den vielfältigen Erscheinungsformen des Wirklichen statt? Das hat sich verdichtet und verschoben als bloßes Vorhandensein unterschiedlicher, fachwissenschaftlicher Zugangsarten zum Wirklichen. Nur leider findet kein wirklicher Streitdiskurs zwischen den Fachwissenschaften mehr statt und zudem fast keine Auseinandersetzung mehr zwischen den empirischen und den Geisteswissenschaften.
Platon hatte wie Homer noch eine Erinnerung an diese unterschiedlichen Zugangsarten zum Wissen, dort genannt „Dianoia“, das Nachdenken. Es bezeichnet ein fundamentales Nachdenken, sogar eine Fundamentaldisziplin des Denkens bzw. Erkenntnisvermögens des Menschen, die heute so gut wie verschwunden ist und lediglich noch in der Logik rudimentär aufscheint. Bei Platon steht die Dianoia zwischen der Doxa, also dem Meinen und Dafürhalten und der wahren Vernunfteinsicht und trägt bereits diskursiven Charakter, als die Dianoia als das Denkvermögen der Seele im Unterschied zum Nous in Anschlag gebracht ist, der deshalb nur diskursiv operieren kann und muss, da er vom göttlichen Nous abgeleitet ist. Diskursiv bedeutete daher bei Platon stets das Vermögen und der Versuch, eine größtmögliche Übereinstimmung mit den Ideen im Realen zu finden.
Aber, je mehr die Seelen der Lebewesen „sich mit dem Körper verbunden haben, desto mehr haben sie ihre noetischen Fähigkeiten verloren. Und dies gilt nicht nur für die Tiere, sondern auch für die meisten Menschen.“ii Und also nicht nur Menschen haben eine Seele. Die Welt hat eine, die Götter, die Gestirne, die Dämonen, die Erde, die Tiere und die Pflanzen. Die Seele steht vermittelnd zwischen den Bereichen des Sinnlichen, des Körperlichen und des Geistigen, zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, da die Seele an allen Bereichen teilhat. Sie selbst ist dynamisch gedacht, nicht statisch, weil sie das Bindeglied ist zwischen Sein und Werden istiii und also ist die Seele auch zu bestimmen als eine Bewegung, die sich selbst bewegen kanniv, kann, unsterblich, unvergänglich und unzerstörbar ist, weil das sich selbst Bewegende weder untergehen noch entstehen kann. Und als gegenwärtige Seele im Menschen ist sie es, die dem Körper des Menschen Leben verleiht und daher wird der Tod des Menschen auch Trennung von Körper und Seele gedacht. Wenn hier die zentralen Motive der christlichen Lehre aufscheinen, ist dies beabsichtigt. Ein schöner Gedanke ist dann auch, dass die Seelen ihre noetischen Fähigkeiten einbüßen, aber die eingebüßten prinzipiell auch wiedererlangen können, so sie den Weg der Philosophie beschreiten; Ach!
Platons Philosophie von der Beziehung zwischen Kosmos und Mensch basiert auf der Annahme einer natürlichen Ordnung verschiedener Seelenleben, wobei die Seele den Geist, heute würden wir sagen die Vernunft repräsentiert, ohne dabei gleich an unsere moderne Form der Rationalität, schon gar nicht unmittelbar den Geist im Timaios mit der modernen, wissenschaftlichen Rationalität gleichsetzen zu müssen. Im Rahmen der natürlichen Ordnung des Seelenlebens beherrscht und lenkt der Nous die Seele; beherrschen meint hier Durchdrungen-sein. Mit der Lenkungsfunktion des Nous findet Platon die Schnittstelle zu den unterschiedlichen Phänomen des menschlichen Verhaltens und zugleich auch eine Öffnung zu einer politischen Philosophie der zwischenmenschlichen Realität. Sofern der Nous die ihm zustehende Lenkfunktion tatsächlich ausüben kann, handelt der Mensch als einzelner besonnen und im Sinne der Allgemeinheit ethisch korrekt. Jede Form von Fehlverhalten, sei es auf den einzelnen Menschen oder die Gemeinschaft (Polis) bezogen, ist auf eine Störung der innerseelischen, hierarchischen Ordnung zurückzuführen.
Aber was kann den Nous denn daran hindern, dass er seine Lenkungsfunktion im Rahmen seiner, ihm von Natur aus gegebenen Freiheit so ausüben kann, wie es ihm möglich wäre? Zum Kosmos gehört nun mal auch die Welt, in der wir leben und diesen Aspekt repräsentiert bei der Entstehung des Kosmos die Notwendigkeit (griech. anánkē) in den philosophischen Überlegungen des Timaios. Nach Platons Philosophie ist die Welt durch das Zusammentreten von Freiheit im Sinne der Vernunft und Notwendigkeit entstanden. Dabei hat die Vernunft die dominierende, und wie wir auch gleich sehen werden, die schöne Rolle übernommen. Sie, die Vernunft, wollte immer das Beste bewirken wie die Kraft im Mephisto, die stets das Gute will, aber nur das Böse schafft, die also ständig auf Hindernisse stieß, die von der Notwendigkeit herrührten.
Bei Platon ist, da alles Geschehen übersubjektiv einer „natürlichen“, hierarchischen Ordnung entspringt, auch verständlich, dass die Vernunft die Notwendigkeit „überzeugen“ muss, „das Meiste des Werdenden zum Besten zu führen“. Für Platon bewegt der Nous die Notwendigkeit durch „vernünftige Überredung“ zur Unterwerfung und zu konstruktivem Zusammenwirken, (Platon, Timaios 48a.) so dargelegt im Schöpfungsmythos, erzählt im Dialog Timaios. Liest man dort genau, dann wird deutlich, dass der Nous, der ja sowohl die materielle wie die geistige Welt durchwirkt, zwar das Gute will, aber meist doch nur das Bestmögliche schafft, gleichwohl er das „höchste Erkenntnisvermögen“ ist.
Es gelang dem Nous zwar, die Notwendigkeit zum Nachgeben zu bewegen. Das bedeutet aber nicht, dass die Schöpfung gänzlich nach dem Willen der Vernunft gestaltet wurde, da seine Herrschaft im Kosmos nicht absolut ist und sein Prinzip, seine Lenkungsfunktion mangelhaft, was meint, begrenzt ist. Es ist auf die Beeinflussung der materiellen Welt beschränkt und ist damit auch von der Notwendigkeit (anánkē) beschränkt. Die Notwendigkeit, Ananke, beschreibt also jenes Prinzip, das den Einfluss des Nous auf die materielle Welt, also auf das Werden, begrenzt.
Und welche Grenzen sind das? Es sind natürlich jene Grenzen, die sich notwendigerweise aus der Natur der Materie ergeben, die also dem innerhalb des materiellen Bereichs durch den Nous Realisierbaren entgegenstehen. Wir sehen hier die Grundlegung des Nous als transzendentale Denkfigur, als Bedingung der Möglichkeit, die phänomenale Welt, die Welt des Seienden zu denken und zu verstehen, mithin zu verändern. Und so zu denken, dass darin die Welt der Ideen, des besonnenen und ethisch korrekten menschlichen Verhaltens etc. im Sinne einer prinzipiellen Realisierbarkeit, wenn auch nur der „bestmöglichen“ enthalten ist. Wir erkennen in den platonischen Ideen also einen normativen Aspekt aus dem Vorbildcharakter, den die Ideen gegenüber dem Seienden einnehmen. Was in der Platon-Rezeption stets im Zentrum steht, ist der Unterschied zwischen Idee und Seiendem in dieser normativen Hinsicht. Was aber seltener gefragt wird, ist, wie man überhaupt eine Idee erkennen kann, wenn nicht alles und jedes eine Darstellung, ein Abbild einer Idee sein kann?
Das übernimmt die „Arete“v, eine bestimmte Art der erkennenden Wahrnehmung, die heute oft mit den bildenden Künsten in Zusammenhang gebracht wird. Um nämlich eine Idee zu erkenn, muss das Gutsein („arete“) von etwas Seienden erkannt oder zur Darstellung gebracht werden. Oft wird nun eine direkte Beziehung zwischen der Idee und dem Begriff Arete konstruiert, die aber bei Platon so nicht vorhanden ist, gleichwohl es den Anschein hat, beim späten Platon können alle Attribute, alle Artefakte vom Bett bis zum Stuhl Arete einer Idee seinvi. Nur muss man unterscheiden, dass Platon mit Arete ein prinzipielles Gutsein meint, welches dann natürlich auch allen Einzeldingen zugutekommen kann. Im Prinzip ist hier schon bestimmt, was viel später erst in der Kunst durch Josef Beuys vertreten wurde: alles kann Gegenstand künstlerischer Betrachtung und Bearbeitung werden, selbst Dinge des Alltags, selbst der Konsummüll. Arete meint deshalb einer Form der Intentionalität, wie Seiendes sein kann, wie es im normativen Sinne sogar sein sollte. Arete, Gutsein von etwas, ist daher nicht die Idee des Guten selbst, sondern bereits deren diskursive Form. In Platons Hierarchie bedeutet das, dass die Idee des Guten eine Vorstellung von sich als Orientierung vermittelt und damit der Arte, also den Vorstellungen von etwas besserem in den Dingen als gleichsam Zielvorstellung dient. Das, was die Idee des Guten den Ideen mitteilt, ist ihr Gutsein. Erst dadurch macht sie diese eigentlich zu Ideen. Deshalb ist die Idee des Guten die Idee der Ideenvii.
Ein letzter, recht schwieriger Gedanke der platonischen Ideenlehre ist, dass Ideen in einem sehr engen Zusammenhang untereinander stehen und wir nicht wissen, handelt es sich ontologisch betrachtet um den Bereich der Arete oder den der Ideen der Ideen, also den absoluten Ideen. Aristoteles hilft uns hier nicht weiter, da er die Arete direkt den absoluten Ideen zuordnet und für das Seiende im Sinne von Artefakten Arete nicht zulässtviii. Wir haben aber gesehen, dass Platon die Ideen als einfache und damit wesentliche Grundbedingungen des Denkens, des Nous, betrachtet, deshalb einfach, weil die Ideen keine weiteren Ideen in sich enthalten, sondern in klarer Abgrenzung zu allen anderen Ideen bestimmt sind. Ganz im Sinne der Dianoia bestimmen die absoluten Ideen, also die, in unserem Sinne nun nicht mehr metaphysisch, sondern ontologisch letzten, höchsten Ideen grundsätzlich den schon diskursiv operierenden Nous, der wiederum Abbild des göttlichen Nous ist. Ersetzen wir den göttlichen Nous nun als eine Besonderung der Idee und den diskursiven Nous als eben Diskurs, dann wird auch heute die aktuelle Relevanz der platonischen Ideenlehre schon ein wenig klarer.
Nach der platonischen Ideenlehre, die mehr Aktualität hat, als gemeinhin vermutet wird, hat das Denken, indem es Erkenntnis (im Sinn von Arete) über eine Idee gewonnen hat, auch Kenntnis über die Beziehungen, die zwischen den Elementen des Bereichs bestehen, zu dem die Idee gehört. Wissen differenziert sich also durch Vertiefen der Kenntnisse von den zusammengehörigen Beziehungen eines Wissensbereiches, der von den Ideen als Erkenntnisfeld bestimmt wird. Und so kommt Platon natürlich auch zu dem Schluss, dass eine Idee zu kennen zugleich bedeutet, Kenntnis von den Relationen zu anderen Ideen zu habenix. Wie will man über die Freiheit eines Menschen innerhalb eines Staatsgebildes nachdenken, ohne die Idee der Freiheit? Wie will man von der Freiheit Kenntnis haben, ohne die Grenzen der Freiheit in staatlichen Systemen auszuloten, ohne eine Abgrenzung von materieller Unabhängigkeit und den zahlreichen, sie bedingenden Faktoren, von zeitlichen, räumlichen, soziologischen und ideellen Bereichen und deren Beziehungen zueinander? Oder formulieren wir es andersherum: was wird wohl an Erkenntnis übrigbleiben, wenn Menschen sich nurmehr in reduziertem Maße mit der Idee der Freiheit beschäftigen?
In den frühen Dialogen nimmt Platon zunächst Ideen von den verschiedenen Aretai wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Frömmigkeit oder Tapferkeit an. In den mittleren Dialogen wird dieser Bereich wesentlich ausgeweitet und ganz nach seiner universellen Lehre von den Ideen kommen dann auch die Ideen der Gleichheit, des Geraden und Ungeraden sowie die von Feuer, Schnee, Wärme, Kälte, und schließlich solche der Gesundheit, Stärke und des Lebens hinzu. Die Frage, ob auch Artefakte im Sinne der Arete zu den Ideen zu zählen sind, haben wir beantwortet mit dem Hinweis, dass alles, was von Menschen hervorgebracht, ideell oder materiell, oder manipuliert worden ist, direkt oder indirekt, auch verbesserungsfähig bzw. verbesserungswürdig ist. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, welche Bereiche der Arte gehören zusammen und welche ontologische Idee wird darin sichtbar?
Platon bestimmt die Materie und die geistige Welt als nach ihrer Natur nach beide nicht geeignet, sich widerstandslos vom Nous lenken und gestalten zu lassen. Anders herum ausgedrückt, bietet also nicht nur die Materie Widerstand gegen die „praktische“ Vernunft, sondern auch die Welt in ihrer jeweiligen, geistigen Verfassung bietet ihre Trägheit, so zu bleiben wie sie ist, gegen den Nous auf. Es ist nicht immer klar, ob und in wie weit Platon im Timaios der Materie mithin allem sinnlich erfahrbaren Seienden eine naturgegebene und damit auch notwendige Mangelhaftigkeit zugewiesen hat, oder ob er dem gezielten, auf das bestmögliche Ergebnis hinausgehende Vorgehen der Vernunft allein die Gegenwirkung im Sinne von Widerstand in „Form der schweifenden Ursache“ zuweist. „Wenn nun jemand, genau so, wie das entstanden ist, wahrheitsgetreu vortragen will, so muss er auch die Form der schweifenden Ursache einmischen, so wie es ihr naturgegeben ist, Bewegung anzustoßen.“x Es ist also ein Zufallsfaktor, was Platon hier mit der Form einer schweifenden Ursache meint und kein Kausalprinzip im Sinne einer Wirkursache wie dies später Aristoteles bestimmen wird. Der Nous setzt sich gegenüber dem Zufälligen, Ungeordneten, das notwendigerweise aus der Beschaffenheit der Materie resultiert, weitgehend durch. Daraus ergibt sich, dass im Kosmos auch Ordnung und Gesetzmäßigkeit vorhanden sind. Die Tendenz der Materie zum Chaotischen wird durch die Einwirkung des Nous eingedämmt. Somit ist die Welt, in der die Menschen leben, nicht als Erzeugnis des vollkommenen Nous in jeder Beziehung schlechthin optimal. Vielmehr sind die bestehenden Gegebenheiten nur das Beste, was der Nous hier der Notwendigkeit abringen kann.xi
Von heute aus gesehen ist Platons Verständnis von Notwendigkeit völlig verschieden von unserem. Bei Platon ist Ἀνάγκη Mutter der Moiren, der Schicksalsgöttinnen und eine der ursprünglichen Schöpfungsmächte, der in griechischen Tragödiendichtungen, z. B. mehrfach im Motiv des gefesselten Prometheus des Aischylos, selbst die Götter gehorchten. Sie überzeugt, führt zum Besten, bewegt und ist doch nicht gleich dem Nous, der göttlichen Vernunft bzw. der Idee. Das kommt von ihrer doppelten Bedeutung, denn Ἀνάγκη meint Bedürfnis und Zwangsläufigkeit, enthält sowohl den Aspekt von Voraussetzung und Ermöglichung im Sinne von Transzendentalität als auch den von Beschränkung und Zwang.
Ἀνάγκη ist also materielle Voraussetzung für das Sichtbarwerden des Geistigen im Physischen als auch eine Einschränkung, da sichtbare Abbilder die Beschaffenheit ihrer Urbilder nur begrenzt aufweisen, repräsentieren können. Sie ist somit zugleich Mitursache, nie Alleinursache, als auch Hemmnis der Schöpfung, nie allein deren (logisches wie faktisches) Gegenteil. Die wesentliche Differenz zu unserem allein logischen, mithin naturwissenschaftlich-empirisch geprägten Begriff von Notwenigkeit ist, dass der platonische Begriff keine vorherrschende, alleinige Gesetzmäßigkeit impliziert, diese vielmehr logisch wie faktisch ausschließt. Notwenigkeit bei Platon – und wie wir sie forthin verstehen wollen – ist Abwesenheit von Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit. Notwenigkeit ist näher bei den Moiren, also Blitz und Donner, dem, was wir heute Zufall, Ereignis und Heidegger in ontologischer Hinsicht „Sorge“ nennt. Wir bleiben, um in den antiken Begriffen der platonischen Philosophie zu sprechen, mit Platon näher an der Dianoiologie im Unterschied zur Alethiologie von Aristoteles und Heidegger, die bei Aristoteles die Wahrheit in durch Widerspruchsfreiheit gebildeten Grundbegriffen sucht, aus der gesicherte Grundsätze, also widerspruchsfreie Aussagen gebildet werden und schließlich Urteile und abgeleitete, handlungsorientierende Lehrsätze gebildet werden können.
Diesem, dem platonischen Begriff der Notwendigkeit näherstehenden Zufall steht also nicht wie in weiten Teilen der Naturwissenschaft und dem Common Sense der meisten Menschen auch heute noch eine Notwenigkeit gegenüber, die eine logische Notwendigkeit meint, wie etwa auch der Titel: „Zufall und Notwendigkeit“ von J. Monod glauben machen möchte. Bei Platon ist Notwendigkeit ja nah diesem Zufall, der ein ungeordnetes, keinem Gesetz, keiner Regel unterliegendem Geschehen entspricht, also kein Gegensatz dazu. Und von Naturgesetzen sprach Platon auch in einem unserem Denken fremden Zusammenhang. Wenn es auch in vielerlei Hinsicht uns widerstrebt, naturwissenschaftlich ausgesagte Notwendigkeit einmal von Platon her gegenläufig zu denken, ist dieses Gedankenexperiment doch vielleicht so unsinnig nicht.
Anmerkungen:
i
Zum Nous bei Homer siehe Arbogast
Schmitt: Selbständigkeit und
Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer, Stuttgart
1990, S. 130–141, 182–226.
Dazu auch ältere
Ansätze wie: Kurt von Fritz: Die Rolle des νοῦς.
In: Hans-Georg
Gadamer (Hrsg.): Um die Begriffswelt der
Vorsokratiker, Darmstadt 1968, S. 246–363, hier: 246–276;
James H. Lesher: Perceiving and Knowing in the Iliad and Odyssey.
In: Phronesis 26, 1981, S. 2–24, hier: 8–19;
Thomas
Buchheim: Die Vorsokratiker, München
1994, S. 108–110, 112f.; Maria Marcinkowska-Rosół:
Die Konzeption des 'noein' bei Parmenides von Elea, Berlin
2010, S. 33–44.
ii Filip Karfik: Gott als Nous. In: Dietmar Koch u. a. (Hrsg.): Platon und das Göttliche, Tübingen 2010, S. 82–97, hier: 94–96.
iii Jörn Müller: Psychologie, in: C. Horn u.a. (Hrsg.), Platon-Handbuch, 2009, S. 150.
iv Platon, Nomoi 895e-896a
v Das antike griechische Wort Arete (altgriechisch ἀρετή aretḗ) bezeichnet allgemein die Vortrefflichkeit einer Person oder die hervorragende Qualität und den hohen Wert einer Sache. Bei Personen ist Tüchtigkeit gemeint, insbesondere im militärischen Sinn (Tapferkeit, Heldentum). Oft ist damit die Vorstellung verbunden, dass der Tüchtige auch erfolgreich sei. Anfänglich erscheint Arete als exklusives Ideal des Adels. Später wird der Begriff in breiteren Schichten aufgegriffen, vor allem in der bildungsorientierten städtischen Oberschicht. Dies führt zu einem Bedeutungswandel: Soziale Kompetenzen – insbesondere staatsbürgerliche Qualitäten und politische Führungsfähigkeit – treten in den Vordergrund (Wikipedia).
vi Franz von Kutschera: Platon III. Die späten Dialoge, 2002, S. 184 f.
vii Siehe Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie, 2000, S. 355
viii Aristoteles, Metaphysik 1070a 18
ix Platon, Sophistes 254 b f
x Platon, Timaios 47e–48d.
xi Zum Verhältnis von Nous und Notwendigkeit im Timaios siehe Lothar Schäfer: Das Paradigma am Himmel. Platon über Natur und Staat, München 2005, S. 183–197
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