Loading...

Nichts ist ohne Grund. Nur dieser Satz.

Franz Rieder •    (Last Update: 20.11.2019)

Leibniz, Philosoph, Physiker, Mathematiker, Historiker und Diplomat, der zwischen 1646 und 1716 gelebt hat und philosophischer Gegenspieler zu Descartes war, stellte mit dem Satz: „Nichts ist ohne Grund“, den Satz aller kausallogischen, relationalen Sätze auf. Nichts ist ohne Grund gilt heute nicht nur als Prinzip aller Prinzipien, als die Grundlage wissenschaftlichen Denkens, sondern sogar als Grundprinzip des Denkens schlechthin. Auf der Suche nach dem „Hypokeimenon“, dem zugrunde liegenden Beständigen, der Ursache von allem, der selbst das unlogische Werden fortan unterliegt, war es Leibniz, der im 17. Jhd. dieses logische Axiom formulierte.

Eigentlich als Begründung von wissenschaftlichem Denken, fungiert es heute gleichsam als Glaubhaftigkeitsbeweis für alles und jeden. Nichts scheint heute selbstverständlicher und gang und gäbe zu sein, als von sich aus quasi ungefragt selbst private und persönliche Angelegenheiten zu begründen oder selbstverständlich einer Aufforderung, dies zu tun, nachzukommen. Sei es, dass in einem beruflichen Bewerbungsgespräch die Frage im Raum steht: warum bewerben sie sich auf diese Stelle?, oder ein Antrag zu begründen ist, ein Gesetzentwurf nur durch nachvollziehbare Gründe die Passage in die Exekutive findet, ja selbst die Frage: warum liebst du mich? sollte präzise beantwortet werden, hängt doch von der Antwort einiges für den Aufgeforderten ab.

Der wissenschaftliche wie der private Diskurs haben dies gemeinsam, dass das heutzutage logisch höchste Gut, die klare, glaubwürdige und allgemein-verbindliche Aussage mit jener Hypothese beginnt: Ich beweise dir, warum etwas ist, wie es ist. Selbst, wenn der Beweis erst in der Zukunft geführt werden kann. Aber die implizite Kausalität weckt schon mal einen Vertrauenskredit. Überall und in den alltäglichsten Situationen erklären wir etwas durch etwas anderes und dieses (symbolische bzw. logische) Andere ist ein möglichst lückenloses Geflecht an Aussagen, die in einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung stehen. So kommt diesem System symbolischer Relationen und Repräsentationen der Status einer Begründung von etwas anderem zu. Und schon sind wir inmitten der ungelösten und wohl auch weiterhin unlösbaren Frage nach der Wahrheit. Es ist das Verdienst von Heideggers Sein und Zeit, die Bestimmung von Wahrheit aufgeklärt zu haben. Wir kennen Wahrheit mittlerweile nur noch in relationalen Aussageformen, also in Sätzen, die etwas in etwas anderem erscheinen lassen. Aber der „Satz ist nicht der Ort der Wahrheit, sondern Wahrheit ist der Ort des Satzes“i. In Sein und Zeit klärt Heidegger auf, was mit dieser wiederum schwer zu enträtselnder Phrase gemeint ist, nämlich die unterstellte, den mitschwingenden Verständnishorizont unserer traditionellen Auffassung von Wahrheit als repräsentative Übereinstimmung von Sätzen mit der Wirklichkeit. Betrachten wir diese Korrespondenz nicht einfach nur formallogisch, sondern vom Gehalt der Aussage her, dann sind Sätze, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen, allgemein als „wahr“ im Sinne von wahren Urteilen zu betrachten.

Ein nicht ganz faires Beispiel: Ich bin nass. Warum? Weil es geregnet hat. Warum? Nun kommt der Meteorologe und findet ein System an Weil-Aussagen: weil durch Lufterwärmung Feuchtigkeit aufsteigt, weil Wasserdampf in höheren, kälteren Luftschichten kondensiert, weil die kondensierten Tropfen schwerer werden als die Luftschicht und weil die Erdanziehungskraft sie zur Erde zurückbringt und weil sie so auf mich fallen können etc. Das klingt nicht wahrscheinlich, sondern glaubwürdig, sicher und für alle Welt gültig, also begründet – wir gehen jetzt mal nicht darauf ein, dass damit nicht begründet ist, warum ICH nass bin. Denn in diesem symbolischen System ist kein Platz für etwas Zufälliges oder Kontingentes.ii

Mit den Möglichkeiten der neuen Zeitdimension, kann Kausalität auf alles übertragen werden. So kann alles seinen Grund haben, ob das nun reell ist oder nicht, ob es bereits wissenschaftlich erwiesen oder noch nicht erwiesen ist, aber in der Zukunft erwiesen werden könnte. Das einzige, was man wirklich sagen kann und was ohne Fug und Recht wahr ist, ist, dass alles, was ohne Grund ist, nicht ist. Selbst der Zufall hat einen Grund, dessen Status des Noch-Grundlosen ist, des noch-nicht-begründet-sein im Wissen, denn das Prinzip des Grundes gilt ja immer und überall. Der Grund, so noch unbekannt, wird einfach später nachgereicht. Und dies heißt, dass aktuelle wissenschaftliche Aussagen, die zwar noch unbegründet erscheinen, schon am Wahrheitskredit partizipieren. Im wissenschaftlichen Diskurs hat der Zufall nicht zufällig den Status des Nicht-Seienden bzw. den eines Un-Falls. Wenn der Zufall als Unfall, als nicht-seiend betrachtet werden kann, dann ermöglicht sich der wissenschaftliche Diskurs als universelles Prinzip. Und was dann in der Zeit noch nicht begründet ist, steht der Forschung und dem Fortschritt offen, kann in der Zukunft begründet werden.

Würde das Werden der zeitlichen Beständigkeit enthoben, wäre es also ein Prozess, wäre es immer ohne Grund und Kausalität und somit im Werden, was qua definitionem nicht geht, da Denken in Kausalität und Zeit an die Dimension des Vorher-nachher, also einer messbaren Zeitdimension, fundamental gebunden ist. Das grundlegende Paradox ist, dass mit der Errungenschaft der Zeit als einer messbaren und damit dem Denken verfügbaren Dimension, die Menschen die Zeitlichkeit des Seienden und damit sich selbst, wie sie sich als subjektive Erfahrung erleben, nur noch rudimentär, wenn überhaupt in der Wissenschaft repräsentiert sehen.

Die Wissenschaft, z. Bsp. die der Medizin, kann mit subjektiver Erfahrung wenig anfangen, versucht heute mühsam und halbherzig über die sog. „individuelle Medizin“ etwas vom Ausgeschlossenen wieder in ihren Diskurs hereinzuholen. Das klingt zunächst gut, hält aber einer genaueren Betrachtung recht schnell schon nicht stand. Denn wissenschaftlich betrachtet wird auch in der „individuellen“ Medizin alles adressiert, aber nicht das Individuum; doch auch dazu später mehr.

Es kann nichts sein ohne Grund haben wir gelernt und haben mittlerweile dazu gelernt, das jenseits des wissenschaftlichen Diskurses alles grundlos ist, anzweifelbar, ein Einzelfall, also kontingent ist. Aber das gilt auch für den von Leibnitz als Prinzip aller Prinzipien aufgestellten Satz vom Grund. Den Satz: Nichts ist ohne Grund kann man selbst nicht begründen und da genau hier die Scheide zwischen den nicht erfahrbaren und nicht erkennbaren Phänomenen und Ereignissen des Seins und den intelligiblen, so auch wahrheitsfähigen Phänomenen des Seins liegt, ist dieses Prinzip aller Prinzipien qua Setzung als absoluter Grund eigentlich Metaphysik.

Der Satz vom Grund ermöglicht also einen ganz bestimmten Zugang zur Welt, den wir Wissenschaft nennen und an den wir als einzig wahren, für alle Menschen verbindlichen Zugang glauben, jedenfalls was Aussagen und Urteile angeht, die wir wahr oder falsch nennen. Obwohl sich der Satz bzw. dieser Zugang zur Welt durch nichts weiter begründen und damit auch nicht außerhalb seiner Kontingenz absichern lässt, bestimmt dieser metaphysisch unbegründete Systementwurf der Wissenschaft(en) fortan als Fundament und allgemeine Voraussetzung unser (modernes) Denken, definiert dessen immanente Ursachen oder „ersten Gründe“, dessen allgemeinste Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie Sinn und Zweck unserer gesamten Realität bzw. allen Seins.

Unsere moderne Wissenschaft, die bereits in der griechischen Philosophie ihren epistemologischen Ursprung und sich allenfalls als eine spezielle Metaphysik (metaphysica specialis) erwiesen hat, eröffnet mit ihren Grundsetzungen eine ganze Welt, eine allgemeine Metaphysik (metaphysica generalis), in der nicht nur auf Vernunftbasis bestimmte Bereiche der Welt und des Lebens untersucht werden, sondern alle Entitäten, umfassend und ubiquitär.


i GA21, 135


ii Kontingenz steht für: Philosophie, die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden. Soziologie, prinzipielle Offenheit menschlicher Lebenserfahrungen. Statistik, statistischer Zusammenhang nominalskalierter Merkmale. Evolution, Abhängigkeit der langfristigen Entwicklung des Lebens auf der Erde von Zufallsereignissen. Psychologie, fein abgestimmte emotionale Kommunikation zwischen zwei Menschen, siehe Rapport (Psychologie). Logik, Aussageform, die sowohl wahr als auch falsch sein kann. (Vgl. Wikipedia).



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



zurück ...

weiter ...






Ihr Kommentar


Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.