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Werden und Beständigkeit – Parmenides und Heraklit

Franz Rieder •    (Last Update: 20.11.2019)

Wie immer sind die Ursprünge des Denkens vielfältig, die Spuren aus jener Zeit der Anfänge unseres Denkens verschwommen, viele verweht. Bei der Entstehung der Ideenlehre von Platon haben aber zwei Vorgänger sichtbare Spuren hinterlassen: Die Eleaten, worin besonders Parmenides hervorsticht, und die philosophischen Vorstellungen von Heraklit. In Heraklits philosophischen Ausführungen (Fragmente) können wir eine Sicht auf die Welt erkennen, in der im Zentrum Sein und Werden stehen. Fälschlicherweise hat sich eine heutige Sicht auf das antike Denken eingebürgert, die von einer einheitlichen und umfassenden Weltordnung ebenso spricht wie von Sein und Werden als einander bedingenden Aspekten; dem ist nicht so.

Wenn man so will, kam Ordnung in den Kosmos mit Platon und der Gedanke von sich bedingenden Aspekten bzw. Elementen des Denkens durch Aristoteles – wir kommen darauf ein wenig weiter unten. Bei Heraklit sind Sein und Werden identisch. Das heißt mithin, dass es Identität, also Beständigkeit als Eigenschaft oder Wesen des Seins nicht gibt. Dies bedeutet auch die Formel: Panta rhei (altgr. πάντα ε „alles fließt“). Die Wirklichkeit ist demnach nicht statisch, sondern prozesshaft, ein andauernder Prozess oder Fluss des Werdens und keiner anderen ewigen Gesetzmäßigkeit unterworfen und somit auch nicht gleichbleibend im Sinne von beständig.

Das fundamentale und unlösbare Problem allen Denkens hat hier seinen Ursprung, nämlich, wir können das Werden nicht unmittelbar im Denken reproduzieren, nur repräsentieren. Das wusste auch Heraklit, wenn er sagt, man badet nicht zweimal im selben Fluss. Was nicht stimmt, weil es egal ist, wenn wir baden. Aber wenn wir denken, darüber nachdenken, bleibt uns nur zu konstatieren, dass das, was wir erleben, nicht dasselbe ist, wie das, was wir darüber denken. Die ontisch-ontologische Differenz will das behalten und das „Seinsvergessen“ findet hier seinen UnOrt. Vergessen und Erinnern wird uns später beschäftigen, so viel aber sei hier schon gesagt, dass wir Sein weder vergessen noch erinnern, sondern stets nur dessen Spuren in unserem Denken, die keine Referenz auf ein ursprüngliches Sein, ein Erlebnis z. Bsp. beinhalten, sondern stets referenziell sind und nur innerhalb unserer Vorstellungen eine Erinnerung ergeben. Einfach gesagt: wir erinnern uns nicht an unsere erste Liebe, sondern an die „Bilder“, welche sie in unserem Denken erzeugt hat. Und das ist gut so; meistens.

Geradezu gegensätzlich dazu stehen die philosophischen Vorstellungen zu Sein und Werden in der eleatischen Schule. Parmenides und seine Schüler sprachen nicht nur der Welt des Werdens und Vergehens den Realitätscharakter ab, sondern erklärten überhaupt alle Sinneswahrnehmungen für illusionär. Wir befinden uns hier an einer Stelle in der Geschichte der Philosophie, die einen Hiatus markiert, der auch bis heute nicht überall als selbstverständlich überwunden scheint.

Die Eleaten, gewissermaßen die erfolgreichen Vorläufer unseres abendländischen Denkens, negieren jeden Zusammenhang zwischen Sein und Werden total, so dass allein die Totalität des Denkens gegenüber jeder Seinserfahrung übrigbleibt. Das allein für sich genommen trägt schon Hybris genug, die Folgen aus diesem Denken aber ist die Dissoziation des Werdens vom Sein und so bleibt eine Seinsvorstellung zurück, die nur noch Unveränderliches beschäftigt und alles, was dieser Idee widerspricht, für irreal erklärt. So schließt die Einheit des Denkens alles als Nicht-Identisches aus, was dem Denken und der intellektuellen Anschauung nicht verfügbar ist.

Für Parmenides zählt nur der Nous, das, was geistig verfügbar ist und nicht den Sinneswahrnehmungen entstammt. Denn Sinneswahrnehmungen sind trügerisch, so die Eleaten, und können weder Wissen allgemein verbindlich begründen noch Erkenntnisse, die auf dem Wege rein intellektueller Anschauungen gewonnen wurden, widerlegen. So vererben die Eleaten den Grundsatz, dass Wissen sich nur auf ein unveränderliches Sein, also auf Beständigkeit bezieht.

Vergegenwärtigen wir uns kurz und in heiterer Stimmung, was es in der Antike mit dem, was bis dato als Wissen galt, über Jahrhunderte Tag für Tag auf sich hatte. Im Kosmos herrschten die Götter, an deren Spitze ein völlig selbstbezogener Opa alles schwängerte, was nicht schnell genug auf den Bäumen war und der jedem den Kopf abschlug, der ihm beim Lustgewinn in die Quere kam. Daneben imponierten sich narzisstisch aufgeblasene Onkels und Tanten in allerlei neckischen Alltagsspielchen, eine Horde wilder Vater- und Muttergottheiten, die sich gerne auch, wenn es ihnen gerade danach war, als unheilbringende Naturgewalten gerierten. Irdische Gottheiten überfielen permanent andere Staaten oder wurden von denen unterjocht, belogen ihr Volk, dass sich die Balken bogen und bauten selbstgefällig Jahrzehnte an ihren gigantischen Grabmälern, während Kinder verwaist sich durchs Leben bettelten, an Krankheiten früh starben oder als Sklaven verhökert wurden. Das alles geschah, weil die Götter ihr eigenes Reich exklusiv bewohnten und den Irdischen jeden Zugang verweigerten, sie nicht einmal in die Nähe ließen.

Sagen wir, Platon hat im Rückgriff auf Parmenides dem kosmischen wie irdischen Chaos Einhalt geboten. Er griff die Kernelemente der eleatischen Philosophie auf, nämlich das Misstrauen gegenüber dem ständig sich wandelnden Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen, die stets in Raum und Zeit sich ereignen, angestoßen von außen, von Materie und Natur, Schicksal und Zufall. Folgerichtig blieb dann das Konzept eines Seinsbereiches übrig, der den Sinnen verschlossen, aber dem Denken, dem menschlichen Geist zugänglich ist und der nur Beständiges, nämlich die unveränderlichen ewigen Ideen enthält.

Das, was veränderlich, was den Sinnen zugänglich ist, negierte Platon nicht total wie Parmenides, der diesem Unbeständigen den Status des Nichtseienden zuwies, sondern behielt das heraklitische Werden zwar stark abgewertet, aber mithin doch existent als ein von den Ideen bedingtes und unvollkommenes Sein. Für Platon blieb also der von Parmenides aus dem Denken vollständig entlassene Bereich der sinnlichen Erfahrungen innerhalb seiner philosophischen Konzeption eines hierarchischen, abgestuften Seins enthalten, an dessen oberster Stelle der Bereich der Ideen steht, darunter der Bereich der von den Ideen verursachten, sinnlichen Seinserfahrung, die dem Werden ausgesetzt, also den Veränderungen unterliegen. Platon zog also quasi eine Grenzlinie zwischen den Irdischen und den Himmlischen und behielt aus beiden Bereichen das, was seiner revolutionären Idee einer Verbesserung des Lebens aller Athener am nächsten kam: das Ewige und Beständige aus der Welt der Himmlischen und das Vernünftige aus dem menschlichen Dasein. Und da die Grenzline gleichsam wie eine offene Grenze zwischen Staaten bestimmt ist, gehörten fortan die Ideen beiden Sphären an, der himmlischen wie der menschlichen.

Greifen wir aus der Schar der antiken, vorsokratischen Philosophen nur Heraklit heraus, dann sehen wir unschwer auch in die Geschichte des platonischen Denkens, gleichwohl es damit in einer Hinsicht nicht ganz so leicht ist, nämlich mit Heraklits Auffassung zum Logos. Die Quellenlage ist schwierig, der in ionischem Griechisch verfasste Schreibstil seiner teils dunklen Aphorismen macht die Sache nicht einfacher. Wir denken, dass die philosophischen Gedanken des Heraklit uns ganz zentrale Überlegungen hinterlassen haben. Dass nämlich die sinnlichen Erfahrungen, die Menschen in ihrer Lebenswelt machen, von gänzlich anderer Qualität sind, als solche Lebenserfahrungen, die sich über das Denken, über Erkenntnisse und Wissen erschließen. Dass damit Heraklit als derjenige gilt, der für sich beanspruchen kann, den Logos erkannt zu habeni, sehen wir nun nicht als die größte seiner Hinterlassenschaften, sondern, dass Heraklit, wie oben vermerkt, der eigentliche Erfinder der ontisch-ontologischen Differenz ist.

Es ist schwierig und zumeist gegenläufig für das Verständnis, wenn, wie viele Philosophen es machten, die Unterscheidung zwischen dem „oberflächlichen“, lebensweltlichen Erfahrungen der meisten Menschen (ο πολλοί, hoi polloí: „die Vielen“) und eines tieferen, erkenntnisreicheren Zugangs, wie ihn die Philosophen hätten, getroffen wird. „Die Vielen“ stehen bei Heraklit in einer bestimmten Hinsicht für den Menschen, der sich nicht wahrer Philosophie widmet und daher nicht zu tieferer Erkenntnis vordringen kann.“ii

Die Unterscheidung verläuft faktisch nicht zwischen „den Vielen“ und den Besonderen (Philosophen), sondern zwischen lebensweltlicher, sinnlicher Erfahrung und geistiger Erfahrung. Ganz absurd wird es, wenn die an vielen Stellen zu findende Flussmetaphorik derart gedeutet wird, dass der Fluss Identität und Differenz vorstellt, insofern der Fluss seine Identität als Objekt dem festen Flussbett mit seinen begrenzenden Ufern verdankt, ohne die er nicht ein bestimmbares Ganzes wäre. Anderseits würde die spezifische Eigenschaft eines Flusses fehlen, wenn das Wasser sich nicht in ständiger Bewegung befände. Heraklit beschreibt somit bildlich „Selbigkeit als Beständigkeit einerseits, Herbeikommen von anderem und immer anderem andererseits.“iii

Von diesem Unsinn eines Subjekt-Objekt-Gefasels wusste Heraklit nichts, wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen. Trotzdem wusste er, dass sinnliche Erfahrung und Denken nicht identisch, sondern referenziell sind. Schwierig bleibt es, bei Heraklit eine genaue Bestimmung des Logos zu finden, sind der Fragmente doch zu wenige und deren Inhalte zu kryptisch. Es gibt Stellen, in denen dem ständigen Wechsel des Werdens, ähnlich wie bei Platon, auch die eine und ewige Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt und die er Logos nennt: „Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist,…Alles geschieht nach diesem Logos,..“iv (το δ λόγου τοδ όντος ε ξύνετοι γίνονται νθρωποι κα πρόσθεν κοσαι κα κούσαντες τ πρτον· γινομένων γρ πάντων κατ τν λόγον τόνδε πείροισιν οίκασι, πειρώμενοι κα πέων κα ργων τοιούτων, κοίων γ διηγεμαι κατ φύσιν διαιρέων καστον κα φράζων κως χει· τος δ λλους νθρώπους λανθάνει κόσα γερθέντες ποιοσιν, κωσπερ κόσα εδοντες πιλανθάνονται.) Oder an anderer Stelle, wenn Heraklit von der „wahren, menschlichen Erkenntnis“ spricht, ist dafür die Voraussetzung: …“den Logos als Denk- und Weltgesetz zu erkennen und das eigene Handeln und Denken an ihm auszurichten.“v

Andere Stellen belegen wie oben gezeigt, die Einheit von Sein und Werden als einmal dem Denken vorgängig: „Richtiges Bewusstsein ist die größte Tugend, und Weisheit (ist es), Wahres zu sagen und zu handeln nach der Natur, auf sie hinhörend.“vi (σωφρονεν ρετ μεγίστη, κα σοφίη ληθέα λέγειν κα ποιεν κατ φύσιν παίοντας.) Und zum anderen die Auffassung der Begründung des Denkens in der sinnlichen Erfahrung. In der Verschränkung von Sein und Werden: „Denn was wäre Sein ohne Werden? – eine unerkennbare, gestaltlose Masse ohne Struktur und Leben; und was wäre Werden ohne Sein? – eine unerkennbare Bewegung ohne Richtung und Zweck, eine Veränderung von nichts zu nichts.“vii ist auch Erfahrung ohne stabiles Element, mithin ohne Identität. Wo soll Beständigkeit, mithin also auch Wahrheit innerhalb Erfahrung sein, wenn gilt: „Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.“viii (ποταμοσι τοσιν ατοσιν μβαίνουσιν τερα κα τερα δατα πιρρε·).

Es bleibt also festzuhalten, dass das Grundprinzip des Kosmos nach Heraklit, konträr zu Parmenides, nicht ein statisches, gleichbleibendes Sein, sondern das Werden ist, und das richtige Bewusstsein, Wahrheit und richtiges Handeln sich bildet, wenn auf die Natur „hingehört“ wird, in der er das untrennbare, zur Einheit verschränkte Verhältnis von Sein und Werden, sieht. Andere Stellen, in denen Heraklit den Logos wie Platon als das eigentlich Beständige auffasst, bringen keine widersprüchliche Bestimmung ins Spiel, sondern verdanken sich seinen Versuchen, den Logos aus dem Sein heraus, aus der unmittelbaren, sinnlichen Erfahrung zu bestimmen, was nicht geht und was Heraklit noch ganz nah bei den Vertretern der älteren, ionischen Philosophie vorstellt, bei deren Vertretern allesamt die Bestimmung des Logos aus der „Natur“ versucht wurde.

Heraklit versuchte zeitlebens den Transfer von Natur zu Geist aus den Spannungsverhältnissen von gegensätzlichen Kräften wie z. Bsp. dem „Feuer“, welches er nicht einfach nur als ein durch die Sinne erfahrbares Seiendes verstand, sondern als ein ‚Symbol‘ dieses Spannungsverhältnisses von Sein und Nichtsein, dem das Denken entspränge; und dieser Gedanke war damals revolutionär. Es ist demnach auch nicht wie in der älteren ionischen Philosophie als Grundstoff gedacht, sondern als das feinste, das geistähnlichste zu verstehen. Es stellt die universale Struktur alles Seins dar, bleibt aber letztendlich das eigentliche Rätsel seines Denkens selbst. So auch bei den weiteren Symbolen wie dem „Blitz“ als Symbol für den plötzlichen Umschlag, dem „Streit“ oder dem „Krieg“, die allesamt als Symbole für das eine Weltprinzip stehen, wie letztlich auch der „Traum“ für Heraklit das Symbol für den allgemeinen Unverstand der Menschen ist. Und der war integraler Bestandteil des Denkens.

Heraklits Philosophie war fragmentarisch, kein System, sondern formulierte Grundgedanken, aus denen Ansätze zu verschiedenen philosophischen Disziplinen hervorgingen. Seine Philosophie wurde bereits in der Antike beispielsweise von Kratylos, den Platon wiederum hörte, aufgegriffen und hat spätere Philosophen bis in unsere Zeit stark beeinflusst. Die größte Hochschätzung seiner philosophischen Fragmente fand Heraklit mehr als zweitausend Jahre nach seinem Tod besonders bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger, aber auch bei Philosophen der französischen Postmoderne wie Gilles Deleuze u.a. Weil er wie kein anderer das Andere des Denkens, das Undenkbare, das dem Denken Heterogene würdigte und somit dem Denken einen Grenzwert zuschrieb, eine Transzendenz.

Wir gehen zurück auf die Unterscheidung von Sein und Seiendem und finden in der platonischen Ontologie die Lehre vom Sein als solchem und vom Seienden in seinen Grundstrukturen zwei Hauptgattungen der von Platon besonders im Timaios gedachten Entitäten. Da ist das „stets Seiende“, das unentstanden und unvergänglich ist und sich nie ändert, und das „stets Werdende“, welches aufgrund seines unablässigen Wandels nie „ist“, sondern nur als Prozess existiert wie wir das eben bei Heraklit gesehen haben. Diesen beiden Entitäten oder Hauptgattungen des Denkens entsprechen auch zwei verschiedene Arten der Erfassung durch den Menschen, wobei Erfassung für uns bis hierher lediglich als eine Art vorübergehender ‚Arbeitstitel‘ fungieren mag: das stets Werdende, stets sich Verändernde, erfassen wir in Meinungen und Vermutungen, heute in Wahrscheinlichkeiten von Vorhersagen. Es hat somit allenfalls relativen Charakter, jedenfalls keinen beständigen, also dauerhaften, präzisen und allgemeingültigen Charakter. Als sich wandelndes hat es auch keine erfassbare Beschaffenheit.

Dagegen stehen eben jene Erkenntnisse, die derartige Eigenschaften positiv besitzen, also allgemein, raum- und zeitunabhängig gültig, also auch wahr sind. Können Feststellungen über dynamische, nicht gleichförmige Vorgänge nur eingeschränkt als Meinungen und Vermutungen getroffen werden, so gibt es echte Erkenntnisse für alle Menschen. Entstammen die einen den Sinneswahrnehmungen und sind somit stets werdende, sich verändernde und also unabgeschlossene, individuelle Seinserfahrungen, sind allein Vernunftinhalte ideell Seiendes, das nicht dem Wandel durch die Sinne unterliegt.

Dass das Denken überhaupt diesen Status eines Primats gegenüber anderen Seinserfahrungen einnehmen kann, also neben einer vorgestellten, beständigen Ordnung, die dem Denken zugänglich ist und überhaupt als solche vom Denken erfasst werden kann, also mithin eine intelligible Ordnung ist, impliziert im Timaios die platonische Ontologie noch ein zweites Element: die Ordnung im Denken muss hierarchisch und gewertet bzw. gewichtet sein. Das, was Inhalt des Denkens ist, was immer gleichbleibend ist, ist auch objektiv, durch alle Menschen einsehbar und nachvollziehbar „besser“ als das, was bloß für den einzelnen Menschen oder für einige gilt. Natürlich ist es auch besser als das, was als nicht ewig, sondern als entstanden gilt, sich stets wandelt, verändert, vergeht. Es hat in Platons Weltordnung einen höheren Rang und so ist es bis heute in den meisten Fällen und für die meisten Menschen. Meinungen, Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten sind von geringerem Rang, man sagt heute Aussagekraft, als Tatsachen.

Gleichzeitig tritt ein drittes Element innerhalb der platonischen Ontologie oder Seinsordnung auf, das Ewige nämlich ist gleichzeitig auch Ursache für alles, was ist. Die philosophischen Fragen innerhalb der griechischen Philosophie kommen hier an eine Stelle, an der die Fundamente des Denkens neu gesetzt werden und die bis heute unser Denken maßgeblich mitbestimmen. Alles Entstandene und Vergängliche hat notwendigerweise in der platonischen Philosophie eine Entstehungsursache, mithin einen Erzeuger, den man nun nicht personell denken muss, und ein Muster, nach dem es geschaffen wurde. Das, was nicht selbst Ursache seiner selbst sein kann, ist Abbild eines Musters; man kann auch mit Einschränkungen „Original“ sagen. Ist das Muster ein wirklich seiendes, ewiges Urbild – eine „Idee“ im Sinne von Platons Ideenlehre – so ist das Abbild, obwohl nicht selbst schon ein Muster oder eine Idee, zwangsläufig gelungen und schön. Ist das Abbild nach einem minderwertigen Muster, oder wird es von Menschen aus einem minderwertigen Muster geschaffen, welches selbst nur Abbild von etwas anderem ist, so fällt es nicht so gut aus und mit jeder Kopie von der Kopie wird es schlechter. Es soll nur kurz hier angedeutet werden, dass Platon fundamental den Zusammenhang zwischen allem, was irgend hervorgebracht wird, nach Maßgabe des Geistes, der bei der Hervorbringung mit am Werke ist, bewertet und festhält. Leicht einzusehen, denn bei der Kopie einer Kopie ist in der Regel nicht viel Denkarbeit am Werke, besser gesagt im Werk enthalten; wir kommen gleich auf dieses Thema zurück.

Im Timaios ist im Prinzip eine Revolution im Denken der Antike passiert. Opfer dieser Revolution oder anders gesagt, abgesetzt wurden Erde, Luft, Wasser und Feuer, die vier Elemente der Vorsokratik, aus denen alles Seiende geschaffen war und die Götter, was aber auf dasselbe hinausläuft. Poseidon, Amphritite seine Gattin, die Tritonen und die Nereiden, Thetis und Styxs (Wasser), Helios und Hephaistos (Feuer), Aiolos und Boreas (Wind), Gaia, Artemis, Aphrodite, Apollon und Ares (Erde) wirken von nun an nicht mehr. Das Leben der Menschen wird nicht mehr bestimmt von den Moiren, den Schicksalsgöttinnen, Klotho spinnt nicht mehr den Schicksalsfaden, Nemesis richtet nicht mehr durch ihren gerechten Zorn. Pan hütet nicht mehr Hof und Haus, Persephone und Hades nicht mehr die Unterwelt der Verstorbenen. Mit dem Logos als dem eigentlich Beständigen in Platons Timaios, wird die ionische Philosophie sowie die griechische Mythologie vollends überwunden und der Gedanke einer beständigen, im Logos inhärenten Identität erstmals systematisch gedacht und der Weg zum Primat der Vernunft gegenüber Mythologie, Natur und sinnlicher Erfahrung geebnet. Der Logos stammt aus der Mythologie und indem er sie überwindet, trägt er ein tragisches Schicksal. Die Opfer der geistigen Revolution spuken bis heute und selbst die gottlosen Wissenschaften ereilt ihre Klagen, tagtäglich lauter werdend.

Es lohnt sich, weiterhin bei Platon etwas genauer nachzulesen, finden wir dort doch eine ganze Reihe philosophischer Denkfiguren, ohne die es schwer wäre, unser heutiges Denken wirklich zu verstehen.



Anmerkungen:

i Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, Berlin 1980, S. 130

ii Klaus Held: ebenda S. 441

iii Margot Fleischer: Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit – Parmenides – Platons Timaios, Würzburg 2001, S. 30.

iv Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker 22 B 1; Übersetzung leicht variiert nach Hans-Georg Gadamer (Hrsg.): Philosophisches Lesebuch, Band 1, Frankfurt am Main 1965, S. 27

v vgl. Dieter Bremer: Heraklit. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike, Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92 u.a.

vi Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker 22 B 112; Übertragung nach Dieter Bremer: Heraklit. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike, Band 1, Stuttgart 1996, S. 73–92, hier: 91

vii Jürgen-Eckardt Pleines: Heraklit. Anfängliches Philosophieren, Hildesheim 2002, S. 80 f.

viii Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker 22 B 12



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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