Erinnerung - Aufmerksamkeit
Michael Seibel • (Last Update: 17.09.2014)
Das Wissen darum, dass wir, wie Heraklit sagt, nicht zweimal in den
selben Fluss steigen, begleitet seit Menschengedenken die
Begriffsbildung. Wie kann man dem Fluss einen Namen geben und wie vor
allem Tag für Tag den gleichen?
Das
Ungleiche, das Nicht-selbe ist ja offenbar das Wasser. Das Problem
der Nicht-Selbigkeit bestünde offenbar nicht, wenn der Fluss
einfach austrocknete. Er wäre, der Heraklitschen Formel nach,
dann um so mehr er selbst. Leider erlaubt es nur das Nicht-Selbe des
Flusses, sein Wasser, hinein zu steigen. Im rein Gleichen dagegen
herrscht Trockenheit.
Begriffe
stehen, wenn sie nicht Heterogenes umfassen, in der Gefahr, leer zu
sein.
Schließen
wir, um dann zu beginnen, die Erinnerung an Heraklit kurz ab: Man
muss natürlich fragen, wie viel Nicht-Selbigkeit der Fluss
verträgt, bevor man ihm einen neuen, passenderen Namen geben
muss, wie viel Wasser den Rhein hinunter laufen darf, wenn man noch
richtigerweise von einem Rheinhochwasser spricht und ab wann es
besser ist, davon zu sprechen, jetzt seien die Niederlande durch eine
Art inneres Meer unter Wasser gesetzt.
Begriffe
können von der Heterogenität der Inhalte, die sie zu
umfassen versuchen, gesprengt werden.
Der
Fluss, der uns eigentlich interessiert, ist nun der der Kunst. Er
scheint seit 1900 über alle Ufer getreten zu sein und seit
spätestens 1945 eine Flut zu veranstalten, von der man nicht
mehr weiß, was sie eigentlich bedeckt und ob es noch das reine
Wasser der Idee ist, woraus sie besteht.
Man
kommt also sozusagen nicht umhin, Wasserproben zu nehmen, den Boden
zu untersuchen, Luftbilder zu machen. Die Wasserproben, die wir jetzt
machen, wären zu vergleichen mit solchen aus einer Zeit, in der
wir uns des Kunstbegriffs noch ein wenig sicherer waren. Eine dieser
uns geläufigen Wasserproben des Kunstbegriffs – und
vielleicht die am höchsten verdichtetste - ist die Vorstellung
Schellings, der Kunst als endliche Darstellung des Absoluten, als
zugleich Selbstwerdung und Selbstanschauung des Geistes versteht. In
Kunst werde das Absolute erfahrbar. Das Schöne ist Erscheinen
des Wahren und Guten, der Identität von Subjekt und Substanz,
ein Erscheinen, das sein bloß Scheinhaftes, seinen Mangel als
bloßes beliebiges Sinnending kreativ in der Kunst hinter sich
lässt. Dem Genie gelingt sein Werk so vortrefflich, dass es
nicht lügt, dass selbst ein Descartes keinen Anlass mehr fände,
an der Wahrheit seiner Aussage zu zweifeln. Hegel ist sich im Grunde
mit Schelling in soweit einig. Ihr Streit geht dann eigentlich nur
noch um die Frage, ob im Kunstwerk nicht doch ein Rest an
Nichtidentität, also an Unverstandenem, nicht völlig mit
sich selbst ins Reine gekommenem verbleibt, der nur im Begriff, also
im Medium des reinen Denkens ganz bewältigt wäre, das der
Gedächtnisstütze eines Anschaulichen, wie Kunst sie bietet,
nicht mehr bedarf.
Dies
also sei unsere Vergleichswasserprobe. (Bitte lest euch, wenn ihr
vertiefen möchtet, noch einmal bei dem enzyklopädischen Überblick zu den Begriffen Ästhetik und Kunst ein.)
Was
sind jetzt die neuen Wasserproben? Wir haben begonnen, eine Reihe
Zitate moderner und zeitgenössischer Künstler zu ihrer
Arbeit gegenzulesen, die wir einer Zusammenstellung der
Museumsplattform NRW entnommen haben. Wir haben bei der Lektüre
der einzelnen Äußerungen jeweils Arbeiten der Künstler
vorgelegt, die nicht immer aus der Zeit der jeweiligen Äußerung
stammten und sozusagen nach Anklängen des Gesagten in der
künstlerischen Arbeit wie umgekehrt nach Anklängen des
Werks in der Äußerung gesucht.
Diese Vergleichsmethode ist natürlich um so abenteuerlicher, als die
einzelnen Äußerungen gar keine Werkbeschreibungen sind.
Aber darum ging es uns auch nicht.
So
hörten wir von Matisse:
»Der
Ausdruck
liegt für mich nicht in der Leidenschaft, die etwa auf einem
Gesicht erschiene und die sich in einer heftigen Bewegung ausdrücken
würde. Er liegt in der ganzen Anlage meines Bildes: der Platz,
den die Körper einnehmen, die sie umgebenden leeren Räume,
die Proportionen, das alles hat daran teil. Komposition
ist die Kunst, die verschiedenen, dem Maler für den Ausdruck
seiner Gefühle zu Gebote stehenden Elemente auf gefällige
Weise anzuordnen. In einem Bild soll jeder Teil sichtbar sein und
diejenige Rolle spielen, die ihm zukommt, sei sie nun wesentlich oder
sekundär. Alles, was dem Bild nicht nützlich ist, ist
allein schon dadurch schädlich. Ein Werk muss im ganzen
harmonisch sein: Jedes überflüssige Detail würde im
Gemüt des Betrachters ein anderes, wesentliches Moment
verdrängen.«
Wir
legten daneben das Bild „blauer Akt“ von 1952.
Matisse, blauer Akt, 1952
Unsere
Paraphrase wäre die: Ja, es geht wie in der von Matisse
zitierten Tradition um den Ausdruck von Gefühlen, aber durch
Mittel der Gesamtkomposition, der „gefälligen“ –
also durchaus Gefühl erzeugenden – Anordnung von Elementen
im Raum. Es geht um „harmonische“ Verhältnisse. Das
Gesicht ist nicht mehr der privilegierte Ort des Gefühlsausdrucks
(überwundene Position), sondern die gesamte Komposition (neue
Position).
Hätten
wir nur diesen Textsplitter, er würde uns einigermaßen
ratlos hinterlassen. Was ist „gefällig“, was gilt
als „harmonisch“, welchen Gestaltungsregeln folgt die
Komposition? Das alles wird uns nicht beschrieben. Wir geraten da in
den Bereich des irgendwie Unsagbaren und im schlechten Sinn
Beliebigen. Nimmt man Werke von Matisse hinzu und selbst nur jenen
„blauen Akt“, scheinen sich seine Begriffe inhaltlich zu
verdichten. Kann man Gefühle ausdrücken, indem man
Gestaltungselemente auf der Fläche verteilt und immer wieder neu
verteilt? Das scheint so zu sein. Es scheint eine Bewegung der
Erfahrung zu geben, die diese Behauptung plausibilisiert und es
scheinen wirklich die Bilder von Matisse zu sein, die diese Erfahrung
möglich machen. Ich würde darin einen Wahrheitsanspruch
sehen.
Nun
hat Matisse allerdings längst faktisch Eingang in unsere
Sehgewohnheiten gefunden und ist genau so zum Bestandteil unseres nur
scheinbar privaten ästhetischen Geschmacks-Kanons geworden wie
die Form einer modernen Kaffeekanne. Wer weiß, wie wir uns
gegen seine Äußerung verwahrt hätten, hätten wir
sie in dem Jahr zu hören bekommen, als er sie machte. Sollte die
Plausibilisierung der Aussage von Matisse jemals im Rahmen einer
ursprünglichen Erfahrung mit seinen Bildern möglich gewesen
sein – und das muss sie wohl -, so ist sie uns insofern
versagt, als wir das, was diese Erfahrung erst zeigen soll, immer
schon für selbstverständlich halten, denn wir haben es
längst gelernt. Wir nutzen selbst z.B. bewusst dekorative
Elemente in unserer Wohnumgebung, um uns irgendwie auszudrücken,
der eine mehr, der andere weniger.
Aber
wenn wir schon auf ein Unverstehen (hier z.B.: Was meint eigentlich
der Terminus 'harmonisch'), auf ein Moment des Nicht-Plausiblen
stoßen, sollten wir uns fragen, ob das nicht vielleicht
wesentlich mehr wert ist als bestimmte, all zu eingespielte Formen
des Verstehens ('harmonisch=angebbar regelhaft' 'harmonisch=Teil
eines bestimmten Kanons').
Wenn
Begriffe ihrem Wesen folgend das Gemeinsame, das Moment der Identität
in den Vordergrund rücken, stehen sie grundsätzlich immer
in der nächsten Gefahr, das Heterogene, ihren Gehalt, dahinter
zu übersehen, zu verstecken, misszuverstehen. Es ist ein Fehler
zu glauben, man habe etwas schon deshalb begriffen, weil man gelernt
hat, einen bestimmten Begriff, etwas den der Kunst, richtig zu
verwenden. Das Unverständliche, was uns unserem Vorverständnis
entgegenstellt, bringt uns weiter. Das Wechselspiel von Brechung und
Bestätigung unserer ästhetischen Erwartungen ist
hochinteressant. Manchmal bemerkt man, wo man sich aufgehalten hat,
erst in dem Moment, in dem man sich genötigt sieht, es zu
verlassen. Und möglicherweise sind die Objekte, die wir
Kunstwerke nennen, ja gerade deshalb und dann besonders gut, wenn
sich etwas an ihnen bricht und nicht dann, wenn sie unseren Geschmack
bestätigen. Hier bestünde die Verstehenschance nicht so
sehr im Verständnis des Neuen, woran sich das Alte bricht,
sondern in der Bestimmung, die das Alte dadurch erfährt, dass es
sich an etwas anderem bricht, das soeben erscheint. Am Beispiel des
Einwurfs, den wir von Matisse zitieren, ist es gerade der negative
Teil seiner Aussage: »Der Ausdruck
liegt für mich nicht in der Leidenschaft, die etwa auf einem
Gesicht erschiene und die sich in einer heftigen Bewegung ausdrücken
würde. (...)«,
der plötzlich verständlich wird, nachdem Matisse seine
Bilder gestaltet. Etwas Altes wird durch etwas Neues bestimmt. Das
würde zugleich ein Kriterium bieten, das Neue für gelungen
zu halten.
Denn
was uns auffällt: Eine sinnvolle Frage wie die nach der
Komposition als Möglichkeit des Ausdrucks zu stellen ist das
eine, Kriterien zu finden, welche Werke es im einzelnen sind, die die
damit erforderten Antworten in besonderer Weise vorantreiben, also
die Frage nach Spitzenkunst, ist etwas anderes. Die Potenz der
Irritation eines bestehenden ästhetischen Kanon ist vielleicht
für den Anfang nicht das schlechteste Kriterium.
Dieses
Kriterium hat, nebenbei bemerkt, auch eine gewisse Gültigkeitsdauer,
denn selbst wenn sich ein jeder längst an die neuen Koordinaten
des Blicks gewöhnt hat und dem Neuankömmling jeder
irritierende Zug abhanden gekommen ist, wenn sich in der wunderbaren
Welt eines Matisse so komfortabel leben lässt wie in der eines
Spitzweg, kehrt das alte nicht einfach wieder.
Zur
Frage, was Spitzenkunst sei, mache man sich einmal die Mühe,
sich zu fragen, was Spitzenkunst mit Spitzenpolitikern,
Spitzensportlern, Spitzenstars, Spitzenverdienern und anderen Göttern
zu tun hat. Wer diesbezüglich nicht mindestens drei Wochen mit
sich in Klausur gegangen ist, was sage ich, vier Wochen … ,
solange jedenfalls, bis er antworten kann „nichts“, und
zwar so, dass er - was gar nicht so leicht ist - sich durch die
Antwort nicht lächerlich macht, der schweige besser, denn er
wird uns von Kunstmärkten und Kunstinstitutionen sprechen, aber
nicht von Kunst.
Kaum,
dass ich mich mein Monitum zu Gunsten der Irritation machen höre,
schrecke ich zurück.
Was
rede ich da eigentlich? Ich mache die Brechung stark und das
Wiedererkennen, die Bestätigung, das Erinnern schwach. Wenn ich
mich so reden höre, schrecke ich zurück vor dem - heute auf
jeder Ebene von Kommunikation emporgehobenen - Fetisch von etwas
ziemlich Ursprünglichem, das zugleich Brechung und
Bindung ist, der Aufmerksamkeit,
heute einer der teuersten Waren der Welt, von der Konzerne wie Google
und die gesamte Kommunikationsbranche leben und die überhaupt
der Kitt ist, der Anbieter und Kunden verklebt.
Wie
lange ist das schon so? Wie sind eigentlich frühere Ästhetiken
mit der Frage der Aufmerksamkeit verfahren? Das
Mittelalter hätte den modernen Bedarf an Aufmerksamkeit nicht
verstanden. Das Absolute, ob Gott oder später Geist, kann doch
wohl nicht in der Gefahr stehen, langweilig zu sein und es nötig
haben, Mittel der Erzeugung von Aufmerksamkeit eigens einsetzen zu
müssen.
Aber
hatte es nicht auch schon die christliche Heilslehre im Mittelalter
nötig, Kunst für sich sprechen zu lassen? Da ist am Anfang
das Wort, der christliche Text, geschrieben und regelmäßig
allerorten gesprochen, eine endlose symbolische Kette aus biblischen
und rechtlichen Texten. Das Wort, die Schrift und das Sprechen
organisierten einen Apparat spannender Vorstellungen von Himmel,
Hölle und irdischem Leben, ein bilderreiches Imaginäres
also. Dieses Doppel aus signifikanter Kette und Imaginärem,
bringt die ursprünglich namenlose, verstörende Welt zum
Verschwinden und setzt an ihre Stelle ein Heilsgeschehen, mit
einigermaßen verlässlichen Verhaltenserwartungen
an Kirche, Adel und Gemeinden. Religiöse Symbole spielen darin
die Rolle, jeweils Zentren zu markieren, Orte der Verdichtung. Noch
im kleinsten Ort die Kirche, die alle anderen Häuser überragt.
Und um die Symbole die Bilder. Sie allein sind jedoch nicht in der
Lage, Geschichten zu erzählen. Das merkt man leicht, wenn man
wie wir Heutigen nicht mehr genau weiß, welche Heiligen,
Stifter und Bischöfe jeweils abgebildet sind. 'Bilder sagen mehr
als tausend Worte' ist ein grottendummer Spruch und war es immer.
Andererseits vermögen Signifikantenketten wenig, wenn sie kein
Imaginäres organisieren.
Die
Rolle der Worte war wohl vor der Renaissance, überall gültige
Orientierungen zu liefern, sich über alles zu legen, um sogleich
an immer denselben Ort, eben an die Stelle des Kreuzes,
zurückzukehren. Der
Philosophie als »ancilla theologiae« oblagt die
umfassende Harmonisierung von Glaubenswahrheiten der christlichen
Offenbarung und gesicherten Erkenntnissen aller Art durch bestimmte
diskursive Verfahren. In der Scholastik des 11. und 12. Jahrhunderts
waren das z.B.
Begriffsbestimmung
(definitio),
analytische Zergliederung (partitio)
und synthetische Zusammenschau (collectio),
die Lesung
(lectio), die
kommentierende Auslegung eines authentischen Textes, die Streitfrage
(quaestio), in
der kontroverse Meinungen der Autoritäten entschieden wurden,
sowie das Streitgespräch
(disputatio).
Philosophie
übernahm nichts weniger als den universalen Auftrag zur
Systematisierung des Glaubens, also die Zeichenkette der Offenbarung
in Ordnung zu halten.
Aber
welche Rolle übernahm die Kunst und
spielten die Bilder dabei? Gott langweilt nicht, jedenfalls nicht den
Menschen des christlichen Mittelalters. Es gibt kein Problem
mangelnder Aufmerksamkeit, sondern wenn, dann eins des Gedächtnisses,
das man mit darstellender Kunst anzugehen hätte. Man muss dem
Menschen die Schrecken der Hölle und die Freuden des Himmels,
die hierarchischen Mitspieler in ihrem Verhältnis zu einander
ständig veranschaulichen. Rituelle Orte sind imaginär
auszuzeichnen. Das Problem ist das Gedächtnis, die
Unzulänglichkeit des Menschen, sich die Heilsgeschichte
gegenwärtig zu halten, sein Bedarf nach starken Bildern, um
seinen Text und den Kampf von Verfehlen und Gehorsam nicht zu
vergessen.
Verglichen
damit hat in der Moderne eine gravierende Verschiebung stattgefunden
von der Erinnerung an immer das gleiche hin zur Aufmerksamkeit für
ständig anderes. Man kann sich kaum vorstellen, wie ohne diese
Verschiebung von der Erinnerung zur reinen Aufmerksamkeit abstrakte
Kunst möglich sein sollte, die gerade nicht dadurch wirkt, dass
sie an irgendetwas erinnert.
Also
zurück zu Matisse. Wenn ich diese Wasserprobe aus dem Fluss der
Kunst mit der klassisch-idealistischen vergleiche, scheinen mir die
klassischen Terme Wahrheit und Schönheit Entsprechungen bei
Matisse zu haben, nicht zuletzt in seiner Zitation des Harmonischen.
Entsprechungen, nicht Bedeutungsgleichheiten. Ob das Matisse-Zitat
besonders gut gewählt ist, ebenfalls nicht. Es ist die Eigenart
von Wasserproben, dass sie immer nur an einer besonderen Stelle
entnommen sind.
Dann
hatten wir die Bemerkung von Frank Stella, 60 Jahre später:
»Mein
Hauptinteresse war es, das, was man allgemein dekorative Malerei
nennt, wirklich lebensfähig in eindeutig abstrakten Grenzen zu
machen. Dekorativ, das heißt in einem guten Sinne – in
dem Sinn, wie es sich auf Matisse anwenden lässt.«
Wir haben uns
nicht nehmen lassen, eine Arbeit Frank Stellas von 1970 daneben zu
legen und uns auf die Suggestion seines Hauptinteresses einzulassen,
die „Lebensfähigkeit“ des Dekorativen in abstrakten
Grenzen.
Frank Stella, 1970
Mit dem Hinweis
auf Matisse wird offenbar Bezug auf einen bereits etablierten Kanon
genommen, der Gefallen erzeugt. Mit der Bestimmung „lebensfähig
in eindeutig abstrakten Grenzen“ wird
zugleich aber ein gewisser Abstand zu Matisse eingenommen, wenn dort
von „Ausdruck des Gefühls“ die Rede war. Die
Dreiheit der Eigenschaften lebensfähig, abstrakt, dekorativ
versperrt sich Harmonievorstellungen keineswegs, will jedoch gerade
kein Innen, kein Gefühl ausdrücken.
Mir scheint,
dass ich Stellas Fragestellung, soweit seine Bemerkung sie
wiedergibt, recht gut verstehe, mir fehlt jedoch das Gespür
dafür, ob er die selbstgestellte Frage in seinen Werken
irgendwie besonders herausragend löst. Ich vermag es einfach
nicht zu sagen. Stella verstört mich nicht und regt mich nicht
besonders an. Keine Frage, er überschreitet inzwischen manche
Grenze, die sich dem Dekorativen in den Weg zu stellen scheint. Er
dekoriert jetzt auch dreidimensional. »Beyond Paintbrush
Boundaries«. Ich verstehe seine Frage, aber seine Antworten
bewegen mich nicht. Soll ich mich deshalb gegen die Welt der
Kunstexperten stellen und seine Arbeiten für mäßig
halten? Dessen möchte ich mich enthalten. Mein Grund ist nicht
der, dass ich all zu viel Respekt vor Expertentum habe. Ich habe zwei
Gründe, Der erste ist, ich verstehe die gestellte Frage und
halte sie für relevant. Kann ein rein abstraktes Dekoratives
eine eigenständige, hohe ästhetische Qualität
erreichen? Mein zweiter Grund ist, ich habe mich weder mit der Frage
noch mit den Arbeiten von Frank Stella oder Künstlern, die einer
ähnlichen Frage nachgehen, genug beschäftigt, und ich weiß
aus eigener Erfahrung vor allem mit zeitgenössischer Musik, dass
Objekte, die einem zunächst sperrig und unattraktiv vorkommen,
im Laufe der Beschäftigung erhebliche ästhetische Qualität
zeigen können. Stellas Chancen stehen allerdings schlecht, denn
die Dinge, die sich später als besonders reizvoll herausstellen,
obwohl ich sie zu beginn nicht verstanden habe, haben mich zu beginnt
eher verstört oder geärgert, aber nicht gelangweilt.
Stellas Arbeit verstört mich nicht.
Wie man sieht,
streifen wir gerade erst die Frage - Wie bildet sich eigentlich ein
ästhetischer Kanon, ein Bestand an ästhetisch präferierten
Objekten und wie die bisweilen traumwandlerische Fähigkeit der
Unterscheidung, die man Geschmack nennt. Und schon zeichnen sich
erste Teilstücke von Antwortmöglichkeiten ab.
Zwei
weitere Wasserproben: Aussagen von Robert Delaunay, 1912 und Marcia
Hafif, 1981
(Den vollen Text
gebe ich hier nicht noch einmal wieder.)
Wieder unsere
Paraphrase: rein expressive Malkunst ist Delaunays Absichtserklärung.
Schlüsselworte sind der Begriff Natur
in mehrerlei Gestalt als äußere
Natur, in der sich alle Elemente,
die es zur Gestaltung braucht, vorfinden und präzise analysieren
lassen und als menschliche Natur,
die sich „von der Schönheit inspiriert“ künstlerisch
sicher ausdrückt. Beides, menschliche und äußere
Natur, kommt zusammen im Satz: „Die Natur
erzeugt also die Wissenschaft der
Malerei.“ Harmonie und
Schönheit werden einerseits als das bezeichnet, wodurch die
Seele lebt und andererseits als einer Wissenschaft zugängliche,
also wahrheitsfähige und sogar voll verstandene, einfache
Natureigenschaften. Naturschönes und Kunstschönes werden in
eins gedacht. Und doch bleibt für mich bei Betrachtung von
Delaunays Bildern „Harmonie“ das Rätselwort des
Textes.
Delaunay, 1912
Gibt Delaunays
„Wissenschaft der Malerei“ eindeutige Antworten auf die
Frage, was harmonisch sei? Ist Schönheit eine Naturtatsache?
Eine der ältesten Diskussionen der Ästhetik überhaupt.
Platon meint, sie ist es nicht.
Delaunays
stürmische Tonlage, wenn er sagt, »wir gelangen
zu einer rein expressiven Malkunst, die alle vergangenen, archaischen
und geometrischen Stile überholt hat«, ist
heute nur noch schwer nachzuvollziehen. Er ist längst von einem
Dutzend anderer Harmonie-Codes „überholt“ worden.
Aber man muss ihn, so werden uns Kunsthistoriker sagen, als Teil der
farbintensiven (orphisch-) kubistischen Entwicklungsarbeit und deren
neu erwachtem Interesse an Farbtheorien sehen.
Kurz zu Marcia
Hafifs Konzentration auf den Pinselstrich:
»In
einem realistischen oder einem abstrakten Gemälde dienen die
Pinselstriche (...) einer grundlegenden Idee, aber in einem
monochromen Gemälde sind die Pinselstriche selbst
Bedeutungsträger. Statt einer Intention zu dienen, sind sie
vielmehr die Intention selbst – ein Teil des gesamten
Bildgegenstandes.«
Folgende kurze
Meditation dazu: Die Pinselstriche sind die Intention (ich ergänze:
des Malers) selbst. Es geht ihm also darum, die Pinselstriche als
solche erscheinen zu lassen. Das scheint keine Selbstverständlichkeit
zu sein und wird Hafifs Äußerung nach regelmäßig
verhindert, wenn Pinselstriche einer Idee dienen, denn dann erscheint
die Idee und nicht der Pinselstrich. Sofern kann man sinnvollerweise
programmatisch fordern, dass der Maler mit seiner Intention eigens
darauf abziele, damit etwas sich zeige, was sich andernfalls nicht
zeigt. Der Strich und nichts als der Strich (Ich muss unweigerlich an
den ersten Satz aus Hegels Logik denken:
»Sein,
reines Sein, - ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten
Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich
gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach
außen. Durch irgendeine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm
unterschieden oder wodurch es als unterschieden von einem Anderen
gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit
festgehalten.«
Reiner Strich,
reines Sein? In soweit könnte man meinen, Hafif wolle geradezu
Hegels Logik malen. (Stellen Sie sich vor, jemand würde Sie
entsprechend beauftragen: „Bitte malen Sie eine Logik, keine
Landschaft, keinen Menschen, nein, eine Logik!“ Wir würden
Sie das lösen?) Aber schon am nächsten Satz Hegels scheiden
sich möglicherweise die Geister. Er lautet: „Es ist die
reine Unbestimmtheit und Leere.“
Ist es das,
reine Leere? Hat Hafif das wohl so gesehen? Nun ist die monochrome
Malerei nicht schlichtweg Verweigerung gestalterischer Intention. Man
darf erwarten, dass gerade daraus etwas folgt, nämlich der
„gesamte Bildgegenstand“, wovon nach Hafif der Strich
„ein Teil“ ist.
Und
auch bei Hegel folgt aus
der „Unbestimmtheit
und Leere“
des Anfang nicht nichts, sondern alles weitere, in Hegels Worte die
„absolute
Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität“,
wir wir ihn übersetzen, alles Denkbare, Vorstellbare und
Wirkliche.
Ich
denke
über mögliche Parallelen nach.
Ihr Kommentar
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