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Erinnerung - Aufmerksamkeit

Michael Seibel •    (Last Update: 17.09.2014)

Das Wissen darum, dass wir, wie Heraklit sagt, nicht zweimal in den selben Fluss steigen, begleitet seit Menschengedenken die Begriffsbildung. Wie kann man dem Fluss einen Namen geben und wie vor allem Tag für Tag den gleichen?

Das Ungleiche, das Nicht-selbe ist ja offenbar das Wasser. Das Problem der Nicht-Selbigkeit bestünde offenbar nicht, wenn der Fluss einfach austrocknete. Er wäre, der Heraklitschen Formel nach, dann um so mehr er selbst. Leider erlaubt es nur das Nicht-Selbe des Flusses, sein Wasser, hinein zu steigen. Im rein Gleichen dagegen herrscht Trockenheit.

Begriffe stehen, wenn sie nicht Heterogenes umfassen, in der Gefahr, leer zu sein.

Schließen wir, um dann zu beginnen, die Erinnerung an Heraklit kurz ab: Man muss natürlich fragen, wie viel Nicht-Selbigkeit der Fluss verträgt, bevor man ihm einen neuen, passenderen Namen geben muss, wie viel Wasser den Rhein hinunter laufen darf, wenn man noch richtigerweise von einem Rheinhochwasser spricht und ab wann es besser ist, davon zu sprechen, jetzt seien die Niederlande durch eine Art inneres Meer unter Wasser gesetzt.

Begriffe können von der Heterogenität der Inhalte, die sie zu umfassen versuchen, gesprengt werden.

Der Fluss, der uns eigentlich interessiert, ist nun der der Kunst. Er scheint seit 1900 über alle Ufer getreten zu sein und seit spätestens 1945 eine Flut zu veranstalten, von der man nicht mehr weiß, was sie eigentlich bedeckt und ob es noch das reine Wasser der Idee ist, woraus sie besteht.

Man kommt also sozusagen nicht umhin, Wasserproben zu nehmen, den Boden zu untersuchen, Luftbilder zu machen. Die Wasserproben, die wir jetzt machen, wären zu vergleichen mit solchen aus einer Zeit, in der wir uns des Kunstbegriffs noch ein wenig sicherer waren. Eine dieser uns geläufigen Wasserproben des Kunstbegriffs – und vielleicht die am höchsten verdichtetste - ist die Vorstellung Schellings, der Kunst als endliche Darstellung des Absoluten, als zugleich Selbstwerdung und Selbstanschauung des Geistes versteht. In Kunst werde das Absolute erfahrbar. Das Schöne ist Erscheinen des Wahren und Guten, der Identität von Subjekt und Substanz, ein Erscheinen, das sein bloß Scheinhaftes, seinen Mangel als bloßes beliebiges Sinnending kreativ in der Kunst hinter sich lässt. Dem Genie gelingt sein Werk so vortrefflich, dass es nicht lügt, dass selbst ein Descartes keinen Anlass mehr fände, an der Wahrheit seiner Aussage zu zweifeln. Hegel ist sich im Grunde mit Schelling in soweit einig. Ihr Streit geht dann eigentlich nur noch um die Frage, ob im Kunstwerk nicht doch ein Rest an Nichtidentität, also an Unverstandenem, nicht völlig mit sich selbst ins Reine gekommenem verbleibt, der nur im Begriff, also im Medium des reinen Denkens ganz bewältigt wäre, das der Gedächtnisstütze eines Anschaulichen, wie Kunst sie bietet, nicht mehr bedarf.

Dies also sei unsere Vergleichswasserprobe. (Bitte lest euch, wenn ihr vertiefen möchtet, noch einmal bei dem enzyklopädischen Überblick zu den Begriffen Ästhetik und Kunst ein.)

Was sind jetzt die neuen Wasserproben? Wir haben begonnen, eine Reihe Zitate moderner und zeitgenössischer Künstler zu ihrer Arbeit gegenzulesen, die wir einer Zusammenstellung der Museumsplattform NRW entnommen haben. Wir haben bei der Lektüre der einzelnen Äußerungen jeweils Arbeiten der Künstler vorgelegt, die nicht immer aus der Zeit der jeweiligen Äußerung stammten und sozusagen nach Anklängen des Gesagten in der künstlerischen Arbeit wie umgekehrt nach Anklängen des Werks in der Äußerung gesucht. Diese Vergleichsmethode ist natürlich um so abenteuerlicher, als die einzelnen Äußerungen gar keine Werkbeschreibungen sind. Aber darum ging es uns auch nicht.

So hörten wir von Matisse:

»Der Ausdruck liegt für mich nicht in der Leidenschaft, die etwa auf einem Gesicht erschiene und die sich in einer heftigen Bewegung ausdrücken würde. Er liegt in der ganzen Anlage meines Bildes: der Platz, den die Körper einnehmen, die sie umgebenden leeren Räume, die Proportionen, das alles hat daran teil. Komposition ist die Kunst, die verschiedenen, dem Maler für den Ausdruck seiner Gefühle zu Gebote stehenden Elemente auf gefällige Weise anzuordnen. In einem Bild soll jeder Teil sichtbar sein und diejenige Rolle spielen, die ihm zukommt, sei sie nun wesentlich oder sekundär. Alles, was dem Bild nicht nützlich ist, ist allein schon dadurch schädlich. Ein Werk muss im ganzen harmonisch sein: Jedes überflüssige Detail würde im Gemüt des Betrachters ein anderes, wesentliches Moment verdrängen.«

Wir legten daneben das Bild „blauer Akt“ von 1952.




Matisse, blauer Akt, 1952



Unsere Paraphrase wäre die: Ja, es geht wie in der von Matisse zitierten Tradition um den Ausdruck von Gefühlen, aber durch Mittel der Gesamtkomposition, der „gefälligen“ – also durchaus Gefühl erzeugenden – Anordnung von Elementen im Raum. Es geht um „harmonische“ Verhältnisse. Das Gesicht ist nicht mehr der privilegierte Ort des Gefühlsausdrucks (überwundene Position), sondern die gesamte Komposition (neue Position).

Hätten wir nur diesen Textsplitter, er würde uns einigermaßen ratlos hinterlassen. Was ist „gefällig“, was gilt als „harmonisch“, welchen Gestaltungsregeln folgt die Komposition? Das alles wird uns nicht beschrieben. Wir geraten da in den Bereich des irgendwie Unsagbaren und im schlechten Sinn Beliebigen. Nimmt man Werke von Matisse hinzu und selbst nur jenen „blauen Akt“, scheinen sich seine Begriffe inhaltlich zu verdichten. Kann man Gefühle ausdrücken, indem man Gestaltungselemente auf der Fläche verteilt und immer wieder neu verteilt? Das scheint so zu sein. Es scheint eine Bewegung der Erfahrung zu geben, die diese Behauptung plausibilisiert und es scheinen wirklich die Bilder von Matisse zu sein, die diese Erfahrung möglich machen. Ich würde darin einen Wahrheitsanspruch sehen.

Nun hat Matisse allerdings längst faktisch Eingang in unsere Sehgewohnheiten gefunden und ist genau so zum Bestandteil unseres nur scheinbar privaten ästhetischen Geschmacks-Kanons geworden wie die Form einer modernen Kaffeekanne. Wer weiß, wie wir uns gegen seine Äußerung verwahrt hätten, hätten wir sie in dem Jahr zu hören bekommen, als er sie machte. Sollte die Plausibilisierung der Aussage von Matisse jemals im Rahmen einer ursprünglichen Erfahrung mit seinen Bildern möglich gewesen sein – und das muss sie wohl -, so ist sie uns insofern versagt, als wir das, was diese Erfahrung erst zeigen soll, immer schon für selbstverständlich halten, denn wir haben es längst gelernt. Wir nutzen selbst z.B. bewusst dekorative Elemente in unserer Wohnumgebung, um uns irgendwie auszudrücken, der eine mehr, der andere weniger.

Aber wenn wir schon auf ein Unverstehen (hier z.B.: Was meint eigentlich der Terminus 'harmonisch'), auf ein Moment des Nicht-Plausiblen stoßen, sollten wir uns fragen, ob das nicht vielleicht wesentlich mehr wert ist als bestimmte, all zu eingespielte Formen des Verstehens ('harmonisch=angebbar regelhaft' 'harmonisch=Teil eines bestimmten Kanons').

Wenn Begriffe ihrem Wesen folgend das Gemeinsame, das Moment der Identität in den Vordergrund rücken, stehen sie grundsätzlich immer in der nächsten Gefahr, das Heterogene, ihren Gehalt, dahinter zu übersehen, zu verstecken, misszuverstehen. Es ist ein Fehler zu glauben, man habe etwas schon deshalb begriffen, weil man gelernt hat, einen bestimmten Begriff, etwas den der Kunst, richtig zu verwenden. Das Unverständliche, was uns unserem Vorverständnis entgegenstellt, bringt uns weiter. Das Wechselspiel von Brechung und Bestätigung unserer ästhetischen Erwartungen ist hochinteressant. Manchmal bemerkt man, wo man sich aufgehalten hat, erst in dem Moment, in dem man sich genötigt sieht, es zu verlassen. Und möglicherweise sind die Objekte, die wir Kunstwerke nennen, ja gerade deshalb und dann besonders gut, wenn sich etwas an ihnen bricht und nicht dann, wenn sie unseren Geschmack bestätigen. Hier bestünde die Verstehenschance nicht so sehr im Verständnis des Neuen, woran sich das Alte bricht, sondern in der Bestimmung, die das Alte dadurch erfährt, dass es sich an etwas anderem bricht, das soeben erscheint. Am Beispiel des Einwurfs, den wir von Matisse zitieren, ist es gerade der negative Teil seiner Aussage: »Der Ausdruck liegt für mich nicht in der Leidenschaft, die etwa auf einem Gesicht erschiene und die sich in einer heftigen Bewegung ausdrücken würde. (...)«, der plötzlich verständlich wird, nachdem Matisse seine Bilder gestaltet. Etwas Altes wird durch etwas Neues bestimmt. Das würde zugleich ein Kriterium bieten, das Neue für gelungen zu halten. Denn was uns auffällt: Eine sinnvolle Frage wie die nach der Komposition als Möglichkeit des Ausdrucks zu stellen ist das eine, Kriterien zu finden, welche Werke es im einzelnen sind, die die damit erforderten Antworten in besonderer Weise vorantreiben, also die Frage nach Spitzenkunst, ist etwas anderes. Die Potenz der Irritation eines bestehenden ästhetischen Kanon ist vielleicht für den Anfang nicht das schlechteste Kriterium. Dieses Kriterium hat, nebenbei bemerkt, auch eine gewisse Gültigkeitsdauer, denn selbst wenn sich ein jeder längst an die neuen Koordinaten des Blicks gewöhnt hat und dem Neuankömmling jeder irritierende Zug abhanden gekommen ist, wenn sich in der wunderbaren Welt eines Matisse so komfortabel leben lässt wie in der eines Spitzweg, kehrt das alte nicht einfach wieder.

Zur Frage, was Spitzenkunst sei, mache man sich einmal die Mühe, sich zu fragen, was Spitzenkunst mit Spitzenpolitikern, Spitzensportlern, Spitzenstars, Spitzenverdienern und anderen Göttern zu tun hat. Wer diesbezüglich nicht mindestens drei Wochen mit sich in Klausur gegangen ist, was sage ich, vier Wochen … , solange jedenfalls, bis er antworten kann „nichts“, und zwar so, dass er - was gar nicht so leicht ist - sich durch die Antwort nicht lächerlich macht, der schweige besser, denn er wird uns von Kunstmärkten und Kunstinstitutionen sprechen, aber nicht von Kunst.

Kaum, dass ich mich mein Monitum zu Gunsten der Irritation machen höre, schrecke ich zurück. Was rede ich da eigentlich? Ich mache die Brechung stark und das Wiedererkennen, die Bestätigung, das Erinnern schwach. Wenn ich mich so reden höre, schrecke ich zurück vor dem - heute auf jeder Ebene von Kommunikation emporgehobenen - Fetisch von etwas ziemlich Ursprünglichem, das zugleich Brechung und Bindung ist, der Aufmerksamkeit, heute einer der teuersten Waren der Welt, von der Konzerne wie Google und die gesamte Kommunikations­branche leben und die überhaupt der Kitt ist, der Anbieter und Kunden verklebt.

Wie lange ist das schon so? Wie sind eigentlich frühere Ästhetiken mit der Frage der Aufmerksamkeit verfahren? Das Mittelalter hätte den modernen Bedarf an Aufmerksamkeit nicht verstanden. Das Absolute, ob Gott oder später Geist, kann doch wohl nicht in der Gefahr stehen, langweilig zu sein und es nötig haben, Mittel der Erzeugung von Aufmerksamkeit eigens einsetzen zu müssen.

Aber hatte es nicht auch schon die christliche Heilslehre im Mittelalter nötig, Kunst für sich sprechen zu lassen? Da ist am Anfang das Wort, der christliche Text, geschrieben und regelmäßig allerorten gesprochen, eine endlose symbolische Kette aus biblischen und rechtlichen Texten. Das Wort, die Schrift und das Sprechen organisierten einen Apparat spannender Vorstellungen von Himmel, Hölle und irdischem Leben, ein bilderreiches Imaginäres also. Dieses Doppel aus signifikanter Kette und Imaginärem, bringt die ursprünglich namenlose, verstörende Welt zum Verschwinden und setzt an ihre Stelle ein Heilsgeschehen, mit einigermaßen verlässlichen Verhaltens­erwar­tungen an Kirche, Adel und Gemeinden. Religiöse Symbole spielen darin die Rolle, jeweils Zentren zu markieren, Orte der Verdichtung. Noch im kleinsten Ort die Kirche, die alle anderen Häuser überragt. Und um die Symbole die Bilder. Sie allein sind jedoch nicht in der Lage, Geschichten zu erzählen. Das merkt man leicht, wenn man wie wir Heutigen nicht mehr genau weiß, welche Heiligen, Stifter und Bischöfe jeweils abgebildet sind. 'Bilder sagen mehr als tausend Worte' ist ein grottendummer Spruch und war es immer. Andererseits vermögen Signifikantenketten wenig, wenn sie kein Imaginäres organisieren.






Die Rolle der Worte war wohl vor der Renaissance, überall gültige Orientierungen zu liefern, sich über alles zu legen, um sogleich an immer denselben Ort, eben an die Stelle des Kreuzes, zurückzukehren. Der Philosophie als »ancilla theologiae« oblagt die umfassende Harmonisierung von Glaubenswahrheiten der christlichen Offenbarung und gesicherten Erkenntnissen aller Art durch bestimmte diskursive Verfahren. In der Scholastik des 11. und 12. Jahrhunderts waren das z.B. Begriffsbestimmung (definitio), analytische Zergliederung (partitio) und synthetische Zusammenschau (collectio), die Lesung (lectio), die kommentierende Auslegung eines authentischen Textes, die Streitfrage (quaestio), in der kontroverse Meinungen der Autoritäten entschieden wurden, sowie das Streitgespräch (disputatio). Philosophie übernahm nichts weniger als den universalen Auftrag zur Systematisierung des Glaubens, also die Zeichenkette der Offenbarung in Ordnung zu halten.

Aber welche Rolle übernahm die Kunst und spielten die Bilder dabei? Gott langweilt nicht, jedenfalls nicht den Menschen des christlichen Mittelalters. Es gibt kein Problem mangelnder Aufmerksamkeit, sondern wenn, dann eins des Gedächtnisses, das man mit darstellender Kunst anzugehen hätte. Man muss dem Menschen die Schrecken der Hölle und die Freuden des Himmels, die hierarchischen Mitspieler in ihrem Verhältnis zu einander ständig veranschaulichen. Rituelle Orte sind imaginär auszuzeichnen. Das Problem ist das Gedächtnis, die Unzulänglichkeit des Menschen, sich die Heilsgeschichte gegenwärtig zu halten, sein Bedarf nach starken Bildern, um seinen Text und den Kampf von Verfehlen und Gehorsam nicht zu vergessen.

Verglichen damit hat in der Moderne eine gravierende Verschiebung stattgefunden von der Erinnerung an immer das gleiche hin zur Aufmerksamkeit für ständig anderes. Man kann sich kaum vorstellen, wie ohne diese Verschiebung von der Erinnerung zur reinen Aufmerksamkeit abstrakte Kunst möglich sein sollte, die gerade nicht dadurch wirkt, dass sie an irgendetwas erinnert.

Also zurück zu Matisse. Wenn ich diese Wasserprobe aus dem Fluss der Kunst mit der klassisch-idealistischen vergleiche, scheinen mir die klassischen Terme Wahrheit und Schönheit Entsprechungen bei Matisse zu haben, nicht zuletzt in seiner Zitation des Harmonischen. Entsprechungen, nicht Bedeutungsgleichheiten. Ob das Matisse-Zitat besonders gut gewählt ist, ebenfalls nicht. Es ist die Eigenart von Wasserproben, dass sie immer nur an einer besonderen Stelle entnommen sind.

Dann hatten wir die Bemerkung von Frank Stella, 60 Jahre später:

»Mein Hauptinteresse war es, das, was man allgemein dekorative Malerei nennt, wirklich lebensfähig in eindeutig abstrakten Grenzen zu machen. Dekorativ, das heißt in einem guten Sinne – in dem Sinn, wie es sich auf Matisse anwenden lässt.«

Wir haben uns nicht nehmen lassen, eine Arbeit Frank Stellas von 1970 daneben zu legen und uns auf die Suggestion seines Hauptinteresses einzulassen, die „Lebensfähigkeit“ des Dekorativen in abstrakten Grenzen.




Frank Stella, 1970

Mit dem Hinweis auf Matisse wird offenbar Bezug auf einen bereits etablierten Kanon genommen, der Gefallen erzeugt. Mit der Bestimmung „lebensfähig in eindeutig abstrakten Grenzen“ wird zugleich aber ein gewisser Abstand zu Matisse eingenommen, wenn dort von „Ausdruck des Gefühls“ die Rede war. Die Dreiheit der Eigenschaften lebensfähig, abstrakt, dekorativ versperrt sich Harmonievorstellungen keineswegs, will jedoch gerade kein Innen, kein Gefühl ausdrücken.

Mir scheint, dass ich Stellas Fragestellung, soweit seine Bemerkung sie wiedergibt, recht gut verstehe, mir fehlt jedoch das Gespür dafür, ob er die selbstgestellte Frage in seinen Werken irgendwie besonders herausragend löst. Ich vermag es einfach nicht zu sagen. Stella verstört mich nicht und regt mich nicht besonders an. Keine Frage, er überschreitet inzwischen manche Grenze, die sich dem Dekorativen in den Weg zu stellen scheint. Er dekoriert jetzt auch dreidimensional. »Beyond Paintbrush Boundaries«. Ich verstehe seine Frage, aber seine Antworten bewegen mich nicht. Soll ich mich deshalb gegen die Welt der Kunstexperten stellen und seine Arbeiten für mäßig halten? Dessen möchte ich mich enthalten. Mein Grund ist nicht der, dass ich all zu viel Respekt vor Expertentum habe. Ich habe zwei Gründe, Der erste ist, ich verstehe die gestellte Frage und halte sie für relevant. Kann ein rein abstraktes Dekoratives eine eigenständige, hohe ästhetische Qualität erreichen? Mein zweiter Grund ist, ich habe mich weder mit der Frage noch mit den Arbeiten von Frank Stella oder Künstlern, die einer ähnlichen Frage nachgehen, genug beschäftigt, und ich weiß aus eigener Erfahrung vor allem mit zeitgenössischer Musik, dass Objekte, die einem zunächst sperrig und unattraktiv vorkommen, im Laufe der Beschäftigung erhebliche ästhetische Qualität zeigen können. Stellas Chancen stehen allerdings schlecht, denn die Dinge, die sich später als besonders reizvoll herausstellen, obwohl ich sie zu beginn nicht verstanden habe, haben mich zu beginnt eher verstört oder geärgert, aber nicht gelangweilt. Stellas Arbeit verstört mich nicht.

Wie man sieht, streifen wir gerade erst die Frage - Wie bildet sich eigentlich ein ästhetischer Kanon, ein Bestand an ästhetisch präferierten Objekten und wie die bisweilen traumwandlerische Fähigkeit der Unterscheidung, die man Geschmack nennt. Und schon zeichnen sich erste Teilstücke von Antwortmöglichkeiten ab.

Zwei weitere Wasserproben: Aussagen von Robert Delaunay, 1912 und Marcia Hafif, 1981 (Den vollen Text gebe ich hier nicht noch einmal wieder.) Wieder unsere Paraphrase: rein expressive Malkunst ist Delaunays Absichtserklärung. Schlüsselworte sind der Begriff Natur in mehrerlei Gestalt als äußere Natur, in der sich alle Elemente, die es zur Gestaltung braucht, vorfinden und präzise analysieren lassen und als menschliche Natur, die sich „von der Schönheit inspiriert“ künstlerisch sicher ausdrückt. Beides, menschliche und äußere Natur, kommt zusammen im Satz: „Die Natur erzeugt also die Wissenschaft der Malerei.“ Harmonie und Schönheit werden einerseits als das bezeichnet, wodurch die Seele lebt und andererseits als einer Wissenschaft zugängliche, also wahrheitsfähige und sogar voll verstandene, einfache Natureigenschaften. Naturschönes und Kunstschönes werden in eins gedacht. Und doch bleibt für mich bei Betrachtung von Delaunays Bildern „Harmonie“ das Rätselwort des Textes.


Delaunay, 1912

Gibt Delaunays „Wissenschaft der Malerei“ eindeutige Antworten auf die Frage, was harmonisch sei? Ist Schönheit eine Naturtatsache? Eine der ältesten Diskussionen der Ästhetik überhaupt. Platon meint, sie ist es nicht.

Delaunays stürmische Tonlage, wenn er sagt, »wir gelangen zu einer rein expressiven Malkunst, die alle vergangenen, archaischen und geometrischen Stile überholt hat«, ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen. Er ist längst von einem Dutzend anderer Harmonie-Codes „überholt“ worden. Aber man muss ihn, so werden uns Kunsthistoriker sagen, als Teil der farbintensiven (orphisch-) kubistischen Entwicklungsarbeit und deren neu erwachtem Interesse an Farbtheorien sehen.

Kurz zu Marcia Hafifs Konzentration auf den Pinselstrich:

»In einem realistischen oder einem abstrakten Gemälde dienen die Pinselstriche (...) einer grundlegenden Idee, aber in einem monochromen Gemälde sind die Pinselstriche selbst Bedeutungsträger. Statt einer Intention zu dienen, sind sie vielmehr die Intention selbst – ein Teil des gesamten Bildgegenstandes.«

Folgende kurze Meditation dazu: Die Pinselstriche sind die Intention (ich ergänze: des Malers) selbst. Es geht ihm also darum, die Pinselstriche als solche erscheinen zu lassen. Das scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein und wird Hafifs Äußerung nach regelmäßig verhindert, wenn Pinselstriche einer Idee dienen, denn dann erscheint die Idee und nicht der Pinselstrich. Sofern kann man sinnvollerweise programmatisch fordern, dass der Maler mit seiner Intention eigens darauf abziele, damit etwas sich zeige, was sich andernfalls nicht zeigt. Der Strich und nichts als der Strich (Ich muss unweigerlich an den ersten Satz aus Hegels Logik denken:

»Sein, reines Sein, - ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen. Durch irgendeine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden oder wodurch es als unterschieden von einem Anderen gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten.«

Reiner Strich, reines Sein? In soweit könnte man meinen, Hafif wolle geradezu Hegels Logik malen. (Stellen Sie sich vor, jemand würde Sie entsprechend beauftragen: „Bitte malen Sie eine Logik, keine Landschaft, keinen Menschen, nein, eine Logik!“ Wir würden Sie das lösen?) Aber schon am nächsten Satz Hegels scheiden sich möglicherweise die Geister. Er lautet: „Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere.“ Ist es das, reine Leere? Hat Hafif das wohl so gesehen? Nun ist die monochrome Malerei nicht schlichtweg Verweigerung gestalterischer Intention. Man darf erwarten, dass gerade daraus etwas folgt, nämlich der „gesamte Bildgegenstand“, wovon nach Hafif der Strich „ein Teil“ ist. Und auch bei Hegel folgt aus der „Unbestimmtheit und Leere“ des Anfang nicht nichts, sondern alles weitere, in Hegels Worte die „absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität“, wir wir ihn übersetzen, alles Denkbare, Vorstellbare und Wirkliche.

Ich denke über mögliche Parallelen nach.



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