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Franz Rieder • die neuen Blöcke von Bernard Lokai   (Last Update: 26.07.2017)

Sinkt jeder Tag

hinab in jeder Nacht,

so gibt's einen Brunnen,

der drunten die Helligkeit hält.

Man muss an den Rand

des Brunnendunkels hocken,

entsunkenes Licht zu angeln

mit Geduld.

(Pablo Neruda)





Die Zeit war geprägt von zwei, aus der Zeit herausragenden Ereignissen, vom Tod und der Zerstörung im syrischen Aleppo und vom urplötzlichen Tod des besten Freundes und Malers Hans-Jörg Holubitschka. Beide Ereignisse schlugen ein wie explodierende Fremdkörper in den Geist, in das Denken und die Vorstellungskraft, ließen sie nicht mehr los. Beide Ereignisse, das eine mitgeteilt durch ein Telefonat, das bzw. die anderen in den täglichen Nachrichten des Schreckens in Zeitung und TV waren bereits geschehen, als sie gewahr, bewusst wurden. Beide ergreifen einen mit der Tod und Zerstörung übergreifenden Erfahrung des Vergänglichen, des Wandelbaren.


Einfach zu sagen, alles verändert sich; alles wandelt sich, ist eine einfache Feststellung und so bereits eine Leugnung des Seins des Wandelbaren. Aber die Gedanken und Vorstellungen blieben nicht stehen, ließen sich nicht leugnen als Geschehen, oder ließen sich gar verleugnen in der Vorstellungskraft. Sein oder Nichtsein war hier nie die Frage, als wäre das, was sich verändert und gewandelt hat, vorbei, auf ewig verschwunden. Die Toten von Aleppo, dessen Jahrtausende alte, nun untergehende Kultur sind ebenso wenig verschwunden, nicht existent wie der Freund. Bilder gehen einem durch den Kopf. Einzelne, Serien von Bildern, Farben, Vorstellungen von explodierenden Fassbomben, Granaten, die einschlagen in Hausfassaden, in Dächer und sich durchbohren bis auf die Grundmauern, bevor sie explodieren in Kaskaden von Lichtblitzen vor der noch leeren Leinwand, die wie eine Rückprojektionsfläche, wie eine Retina des inneren Auges arbeitet.


Da sind auch die Erinnerungen an die unzähligen Erlebnisse mit dem Freund, die seine gerade noch erlebte Existenz zu einem "deus absconditus" verwandelt haben. Diese Erinnerungen wissen, dass der Freund tot ist und trotzdem stellen sie immer wieder, Tag für Tag vor dem Aufstehen, abends vor dem Einschlafen und sogar nachts in den Träumen sein Leben dar. Dort sind auch Jörgs Werke, die nun seine Anwesenheit als Maler und zugleich die Abwesenheit des Freundes vorstellen.


Was waren das nicht für Gespräche über die einzelnen Werke, über manche winzig kleine Fläche, über die Farbe des Himmels; mein Gott, was haben sie diskutiert, gestritten, sich beeinflusst? Das alles mischt sich mit Wut im Falle von Aleppo, mit Trauer, wenn es um den Freund geht. Wut und Trauer sind spürbar wie der heiße, rote Kopf vor Scham, wenn die Erinnerungen an alle die peinlichen Dummheiten, die einer beging und die nie wirklich ausgeräumt worden sind und nun wie Geister aus der Ferne in die Gegenwart spuken. Aber sollte das alles gewesen sein? Sollte es einzig Trauerarbeit sein, die einer leistet in solchen Tagen und Wochen vor den Leinwänden, auf denen sich skizzenhaft erste Konturen eines Bildes aufzeichnen? Was überhaupt ist, was kann ein Bild? Hat es überhaupt ein eigenes Sein?


Gewiss, das, was einem durch den Kopf geht, mag eine erste Idee sein, die in den Vorstellungen und Erinnerungen nach dem Bild sucht, das gemalt werden will. Eine Idee, die ein Bild mit der Vorstellung und der Erinnerung zusammenbringt. Die eine größtmögliche Übereinstimmung zwischen Tod, Zerstörung einer Stadt und Verlust des Freundes in einem, vielleicht auch in mehreren Bildern versucht; aber so malt ein Künstler nicht.


Das Bild, das der Künstler malt, ist kein Spiel mit Bildern der Vorstellung und Erinnerung; er orientiert sich nicht daran. So wäre es Nachahmung, selbst bei komplettester Übereinstimmung zwischen Idee und Wirklichkeit. Schlimmer noch, das Bild hätte kein eigenes Sein und wäre gegenüber dem, was es darzustellen versucht, schon abgewertet, bevor es überhaupt gemalt worden ist. Abgewertet nicht von einem Publikum, einem imaginären zumal, sondern an sich selbst schon. Das Bild und noch ganz zu Anfang die Idee des Bildes stehen in einer Art metaphysisch nihilistischer Umklammerung, aus der sie der Künstler noch lösen muss. Und das ist in der zeitgenössischen Malerei meistens so am Anfang vor der Leinwand. Das ist vielleicht einer ihrer Kernwiderstände.


Damit Idee und Bild Selbständigkeit gewinnen, damit beide eins werden und in ein freies Verhältnis zur Vorstellung und zur Erinnerung finden, muss der Maler sich aus dieser Umklammerung der eigenen Bilder lösen. Denn diese Bilder sind obsessiv und verneinend zugleich. Sie behaupten sich als die Vorbilder, als die eigentlichen, die wahren substanziellen Bilder, weil sie vorgeben, etwas zu sein, was die Vorstellung und die Erinnerungen mit dem festhält, was soeben vergangen ist, was sich verändert, gewandelt hat. Aber weder waren die Leiden in Aleppo, zumal nur aus der weiten Entfernung medial wahrgenommen, noch die Erinnerungen an den Freund je etwas anderes als komplementär.


Komplementär ist alle Vorstellung und Erinnerung gleichermaßen, als sie den Künstler verleiten, nach der Wahrheit zu suchen und nach dem Bild ausgreifen, das das wahre Leiden in Aleppo wie ein Stück des wahren Lebens mit dem Freund ins Bild zu setzen versucht. So sehr sich die eigenen Bilder der Phantasie und Vorstellungskraft auch komplementär zur Wirklichkeit verhalten mögen, so sehr sie der Wirklichkeit auch zu entsprechen scheinen, sie erzeugen lediglich Desorientierung. Und am Ende stehen heute im allgemeinen die 'maniera moderna' und das Klischee.


Zur Form der zerbombten Fassaden mit ihren fensterlosen Durchsichten in die einst verborgenen Privatheiten der Bewohner, diesen Gerippen zerstörter Lebensräume treten von sich aus Farben in den Vordergrund. Gelb, rot, blau beginnen sich zu berühren, vermischen sich mit starken, mal subtilen Pinselstrichen, fangen an, die Vorstellungen und Erinnerungen beiseite zu drängen, drängen sie weg von der Retina des inneren Auges, verdrängen sie von dort, an deren Stellen nun sie selbst, die Farben und Formen, die gestischen Aufträge, das Handwerk des Malers den Platz einnehmen. Wo eben nur Platz für Vorbilder, für Bildentwürfe aus Vorstellung und Erinnerung waren, tritt nun die Malerei selbst.


Dieses Bild, das nun entsteht, ist kein metaphysisches mehr. Hier entsteht ein Bild physisch und selbständig vor den Augen des Künstlers. Wo eben noch alles voll war von einem Nichtsein, von etwas Vergangenem, entwickelt sich ein eigenes Bild, ein Bild, das ein eigenes Sein hat. Und wo in den Vorstellungen die Diskurse aus den Medien wie auch die fortgeführten Gespräche mit dem Freund ins Selbst, die Selbstgespräche Raum ergriffen, breitet sich nun die Sprache der Malerei aus und lässt alle anderen Dialoge verstummen, leise werden und neue Bedeutungen formulieren.


Von der Vorstellungskraft ist die Vorstellung dessen, was gewesen ist, zurückgetreten. Übrig geblieben, anwesend ist nurmehr die Kraft im Akt des Malens selbst, die energeia (Aristoteles), und der dialogue intérieur des Malers mit seiner Arbeit, fähig Neues zu schaffen. So macht es mithin auch die Trauer, die beileibe in ihrer Arbeit nicht nur Erlebtes verschiebt und in neuen Zusammenhängen repräsentiert. Selbst die Trauer tut etwas dazu, was vorher nicht da war, insofern sie auch Schluss macht mit sich selbst, sich also selbst überwindet aus dem anfänglichen Trauma von Verlust, Zerstörung und Tod in eine Welt der Bewahrung, in der das Verlorene gut aufgehoben ist.


Aus der metaphysischen Umklammerung heraus drängt also die Kraft, Neues zu schaffen, zu transzendieren, was das Trauma des Schreckens wie der Verlust hinterlassen hat. Das Bild, oder wie in unserem Fall, die Blöcke 'B' - 33 Bilder und 'J' - 18 Bilder, also die Reihen bzw. Serien der Bilder, die nun gemalt werden, müssen sich also von allen anderen vorhandenen Bildern der Vorstellung lösen. Und das gelingt, wenn es denn gelingt, nur beim Malen selbst. Die Bilder, die im Künstler von der Wirklichkeit vorhanden sind, diese Bilder von etwas bestimmten, werden, ja können nie das werden, wovon sie Vorstellungen und Erinnerungen sind. So bleiben sie stets bezogen auf ein Sein, zu dem sie wie eine Kopie, ein geborgtes Sein stehen, welches in seiner eigenen Möglichkeit nie selbst Wirklichkeit werden kann.


Das war einst der innere Kern der zeitgenössischen abstrakten Malerei, dass nicht ins Bild kommt, was seine Wirklichkeit in etwas anderem als es selbst hat. Der Begriff der Abstraktion, eine sehr unglückliche Bezeichnung für das, was er bezeichnen möchte, suggeriert aber gerade diesen unselbständigen, unfreien ontologischen Status des Bildes wie des Künstlers, der keinen Weg aus der metaphysischen Umklammerung seiner Malerei herausgefunden hat.


Deshalb ist auch Malewitsch' 'Schwarzes Quadrat' ungegenständlich und nicht repräsentativ, weil die Farbe Schwarz so wenig etwas repräsentiert und von etwas abgezogen, abstrahiert ist wie die Form des Quadrates. Ein schwarzes Quadrat ist etwas ganz und gar eigenes, eben ein schwarzes Quadrat.


Wer nicht den Mut hat, sich aus der Umklammerung seiner eigenen Vorbilder, aus den Bildern, die dem Malen vorhergehen zu lösen, für den wird Kunst zur Techne wie es im antiken griechischen Begriff Architektur enthalten ist. So sehr darin, in der künstlerischen Fähigkeit und Fertigkeit auch die Suche nach der Arche (Platon), nach dem Sinn des Bildes oder Werkes aus den Vorbildern heraus geschieht, selbst die gelungene Synthese aus gekonntem Handwerk und intensiver geistiger Arbeit - "ex fabrica et ratiocinatione" 1 - macht so das Bild noch nicht zu dem, was es sein kann; nämlich zu etwas anderem, als aus den eigenen Vorbildern gewirkt.


Sie, die eigenen Vorstellungen und Erinnerungen schweben wie Geister durch das künstlerische Handwerk und werden viel zu oft auch noch als schöpferische Kräfte verklärt. So vertieft Kunst sich in das eigene Innere, wird zur téchne phantastiké 2 und das Bild schlussendlich in dieser, an den eigenen Vorbildern orientierten techne mimetiké 3 zu einem scheinbar authentischen Ausdruck, einer Umstülpung des Inneren des Künstlers auf die Leinwand und heraus kommt dieses scheinbar Persönlichste in der Darstellung von der Art einer doxo-mimetiké 4.


Die zeitgenössische Kunst aber lehnte einst, als sie entstand, jede Form der Selbstgewissheit, der Selbstüberzeugung sowohl, was die künstlerische "Technik" als auch was das Wissen um Kunst betrifft ab. Sich an die Tradition zu halten, weil sie erhaben, heroisch oder einfach nur ehrwürdig ist, war nicht ihr Ziel.


Zeitgenössische Malerei begann mit dem Versuch, sich von der Kunst phantastiké 5 so radikal wie möglich zu lösen und, seit der Postmoderne nun mit grenzenloser Lust an deren Stelle eine Kunst eikastiké 6 zu ermöglichen. Dazu muss der Maler sich der Möglichkeit und nicht der Wirklichkeit der eigenen Bilder überlassen können. Denn die eigenen Bilder geben nie die Fülle möglicher Bilder von selbst, mithin widerstandslos heraus. Als diese Binnenwirklichkeit erreichen sie nicht die Fülle des Möglichen, wovon sie ja nur eine aller möglichen Verwirklichungen im Geiste ist. Und ganz nebenbei vermerkt an dieser Stelle sei, dass ein "biografischer" Deutungsansatz immer aus den o.g. Gründen viel zu kurz greifen muss, geht es doch in dieser Malerei darum, aus einem mimetischen Verhältnis des Künstlers zu seinen Vorbildern, seiner Phantasie, ein physisches, materielles Verhältnis zum Malen selbst werden zu lassen.


Die Herausgabe des Möglichen versucht sich zunächst einmal assoziativ. Bilder, Farben, Formen, die selbst gar nichts zu tun haben mit den Bildern und dem Erlebnis des Traumas, tauchen auf und werden beim Malen hinzugefügt. Ein lichtes Blau aus einem ganz anderen Zusammenhang wird aufgetragen, einzelne Farbelemente entwickeln sich aus sich selbst heraus und ziehen sich durch Gruppen innerhalb eines Blocks oder bleiben als einzelne Bildelemente enthalten; manche funktionieren auch nur als Elemente eines Übergangs von einem zu einem anderen Bild eines Blocks, oder imponieren als eine Art bildliche Klammer, die Teil-Blöcke in horizontaler oder vertikaler Richtung gruppiert.


Sich der "physis" (Aristoteles) des Malens auszusetzen ist die Bedingung der Möglichkeit, dass das Bild oder die Blöcke einzeln wie zu mehreren sich von sich selbst her zur Gestalt oder zum Aussehen bringen. So wirkt im Bild kein mimetisches Verhältnis zur eigenen Vorstellung und Erinnerung wie zwischen einem Ideal und dem adäquaten Abbild davon, sondern in dieser physischen Dynamik entwickelt sich das Bild aus sich selbst heraus. Der Künstler ist damit auch kein "Meister" mehr der Idee, der er zum Ausdruck verhilft, sondern eher einer, der etwas, was an sich selbst schon ist, zum Sein verhilft.


Schauen wir nur auf die Entwicklung der zeitgenössischen abstrakten Kunst der letzten Jahrzehnte, dann wirken die großen Schlachtengemälde des "Goldenen Zeitalters" wie wohl überlegte und strategisch ausgeklügelte Scharmützel um kleine Territorien angesichts einer sich heillos und immer schneller wandelnden Welt als ubiquitärer Kriegsschauplatz, der sich rhizomatisch ausbreitet und global verwirklicht.


Bernard Lokai hat in der Riesenschlacht um das Sein 7 gewissermaßen eine Art asymmetrischer Kriegsführung eingeschlagen. Zugegeben, eine Wortwahl, die schnell eine falsche Richtung einschlagen kann, die aber etwas ins gedankliche Bild setzt, was dem Prozess des Malens schon recht nahe kommt.


Es gibt keinen Entwurf, keine Skizze. Es gibt am Anfang auch keine große "Schlachtordnung", keine Leitidee, mit der Lokai den Themen der Zerstörung, von Tod und Verlust begegnet. Ohne téchne mimetiké, ohne vorauseilende Idee einer Gesamtkonzeption, ohne fertige Festlegung der "Maltechnik" und auch ohne gesetzte Bestimmung des "Materials" wird begonnen. Alles entwickelt sich aus sich selbst heraus.


Lokai begegnet den eigenen Erinnerungsbildern wie den Blöcken selbst in einem asymmetrischen Prozess. Jeder Block, jedes Element eines Blocks beeinflusst oder reagiert auf einen anderen. Manchmal werden Blöcke ganz ausgetauscht, in eine neue Reihung gebracht, einzelne Elemente werden zu eigenen Blöcken. Sand aus Nordafrika kommt in den Prozess, wird in die Farben gestreut, Erde aus Südfrankreich mit dem Spachtel unter gedrückt.


In seinen großen Malwerken neueren Datums erkennen wir Elemente des Graffiti' bzw. des Postgraffiti' und der Street- oder Urban Art. Dort, seit den 68er Jahren aus den großen Wallpaintings in Hamburg an der Großen Freiheit - welch ein bezeichnender Ort an sich selbst schon - hervorgegangen, wurden die Graffiti, Tags, Paste Ups, Stencils und Sticker vornehmlich als politische Botschaften einer künstlerischen Stadtguerilla verstanden und die Stadt, der städtische, öffentliche Raum wurde selbst wiederum zum Ausstellungsraum von Kunst erweitert.


Lokai benutzt Elemente des Postgraffiti nicht als Schablonen und Träger von politisch und kulturell subversiven Botschaften, sondern reduziert diese Elemente zu kontextlosen, freischwebenden Zeichen, die ihre subversiven und subkulturellen Eigenschaften auf seine Bilder nun selbst applizieren. Ihre Ephemerität richtet sich allein auf seine eigene Malerei, ist pure Eigeninitiative und Stil. Wie aufgesetzte, beliebige, sinnlose "Schmierereien" an Hauswänden wirken sie und man möchte sie tunlichst abwaschen, beseitigten, damit sie das Stadt- bzw.- das Landschaftsbild nicht weiter verschandeln.


Seinen Blöcken fehlen diese Zeichenelemente weitgehend und da wo man sie zu erkennen glaubt, sind sie viel enger im Bild selbst integriert. Mancher mag Zeichen erkennen, Zeichen, die noch etwas bezeichnen wie Fadenkreuze, Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel. Einige der Bilder bzw. Bildteile in Block B und J wirken wie Mauerputzwerk, viele könnten ganz als Vorlagen für Wallpaintings benutzt werden. Lokai befördert in seinen Blöcken noch die "freien" Assoziationen der Betrachter.


Ganze Tage assoziativer Überlassung an das "Material" verändern wie in einem Guerillakrieg ständig die Lage. Die ein und die andere Farbe, manche Bildelemente, verschiedene Materialien finden zusammen, ein "Mit-Sein" 8 gewissermaßen, bilden Gruppen innerhalb der Blöcke, lösen sie wieder auf, finden neue. Es ist wie mit der Kernphysik: treffen Elemente direkt aufeinander, werden starke Kräfte frei, lösen sich die Abgrenzungen auf, überschreiten ihre eigenen, materiellen Grenzen, entfalten ihre Kraft zur eigenen Dekonstruktion.


Dekonstruktion aber ist bei Bernard Lokai nicht Selbstzweck. Den Prozess als solchen zur Ansicht zu bringen, wie dies heute allenthalben gerne vorgeführt wird, ist nicht Lokai' Unterfangen. Die Loslösung von den eigenen Erinnerungs- und Vorstellungsbildern hat nicht ihr Ziel darin, alles aufzulösen; Lokai' ordnender Verstand bleibt weiter aktiv. Lokai' Auge wandert zwischen den einzelnen Bildelementen und den Blöcken hin und her, er hängt Blöcke um, gruppiert sie neu, ersetzt ein Blockelement durch ein anderes, manche durch neue, überarbeitet mehrfach einzelne Passagen, Elemente, Gruppen. Er organisiert und er optimiert und dies will beileibe kein Prozess um des Prozesses willen, l' art pour l'art, sein.


Sein Hauptaugenmerk aber gilt stets der Gefahr der Redundanz, der jeder Serie ausgesetzt ist. Das ist ihr Wesenskern, dass da wo Serialität wirkt, es zu einer "Überwirkung", einer Überschreibung von Signifikanz kommt. Das kennt jeder vom Film, der der Tod des Einzelbildes sein kann und oft auch ist. Und wie einst der Fotograf Toscani quasi die Filme anhielt und so in Form von Einzelbildern daraus in der viel beachteten und heiß diskutierten Benetton-Werbekampagne zur Ansicht brachte, was die Serialität des Films überzeichnet, verdeckt, in Redundanz gebracht hat, so wirken Lokai' Blöcke gegen ihre Serialisierung.


Nachrichten in gefilmten Sequenzen vom Tod und der Zerstörung Aleppos laufen täglich Gefahr, in der Flut der Serienbilder, Tod und Zerstörung zu nivellieren. Den Film anzuhalten und ein Einzelbild des Schreckens, nicht der Nachricht des Schreckens zur Ansicht zu bringen, also das zu versuchen, was ein Film eo ipso nicht kann, muss also formal in Lokai' Blöcken gewährleistet sein. Und das ist es.


Lokai' Blöcke funktionieren formal wie Serienbilder, aber so, dass jedes einzelne Bild sich gegen seine Redundanzgefahr, gegen seine Nivellierung behaupten kann. Wie? Indem für Lokai formal das Format der Einzelbilder wichtig und der Abstand zwischen den einzelnen Bildern von ganz zentraler Bedeutung ist. Das Format soll den Blick des Betrachters auf jedes einzelne Bild wie auch auf einen ganzen Block ermöglichen. Soll den Block lesbar machen in vertikaler und horizontaler Richtung, in Zweier-, Vierer-, Achter-Gruppen, diagonal und auch zufällig als spontaner Augenfall auf eine beliebige Stelle innerhalb eines Blockes als Ausgangspunkt.


Die Abstände zwischen den einzelnen Blockbildern, denen Lokai unendlich viel Aufmerksamkeit und Mühen gewidmet hat, sind weder zufällig noch nach rein "ästhetischen" Gesichtspunkten gewählt. Der leere Raum zwischen den Elementen ist in einem komplementären Sinn konstitutiv für den gesamten Block, für die einzelnen Blockbilder untereinander wie diese selbst. Leere Räume und einzelne Bilder scheinen sich auf den ersten Blick auszuschließen, aber dem ist hier nicht so. Sie gehören zusammen, ergänzen einander komplementär.


Wie die Buchstaben, Schrift und Sprache so funktionieren Lokai' Blöcke. Buchstaben sind die Grundgestalten, die Zeichen aller schriftsprachlichen Gebilde. Die Buchstaben verknüpfen sich in vielfältigsten Kombinationen zu Wörtern und diese wiederum in eben solcher Vielfalt zu Sätzen. Buchstaben aber werden wie Wörter in einem Satz durch einen Abstand getrennt, der ihre vielfältigen Kombinationen und lautlichen Konnotationen - nicht unerheblich für Wortneuschöpfungen, Witz und andere Formen der sprachlichen Ambiguität - erst möglich macht.


Was wir eben 'dynamis koinonias' genannt haben, wird nun noch deutlicher. In seinen Blöcken spielt Lokai nicht einfach mit Schärfe und Unschärfe, Vorder- und Hintergrund, bringt spielerisch unterschiedliche Maltechniken und -materialien zusammen, sprüht, wischt, reibt dem bloßen Zufall folgend. 'Dynamis koinonias' meint ja mehr "Miteinander-sein-können", also keine reinen "Zufallsbekanntschaften". Das, was auch unter Einfluss des Zufalls, aber mehr noch der inneren und physikalischen Textur des Materials selbst zur Aussicht kommt, ist also weder ein Bild, das sich in einer Art unkontrolliertem Prozess selbst malt, noch eins, dem der "Meister" von Beginn an seinen geistigen Stempel, seine eigenen Vorbilder aufprägt.


Diesen Vorgang zu beschreiben soll das "Bild" eines asymmetrischen Mitgangs erleichtern. Weder führt das Material noch die Spontaneität oder Genialität des zeitgenössischen Malers hier Regie. Alle diese téchne- und doxo-mimetisch dominierten Auffassungen von Kunst sind letztlich Schein-Nachahmungen 9 und bleiben oberflächlich und manieristisch, wenn wir Manierismus so verstehen, wie der Begriff ursprünglich gemeint war: den Möglichkeiten nach.


Im Gegensatz dazu beschreibt Lokai seine Auseinandersetzung mit seinen inneren Bildern und den auf der Leinwand entstehenden, asymmetrischen Assoziationen als einen Dialog, der ihn hinter seine Vorstellungs- und Erinnerungsbilder von Zerstörung, Verlust und Tod mitnimmt, ja sogar an die Frage: wie heute Malerei überhaupt noch möglich ist?. Dort stellt sich also hinter der Frage nach den eigenen Erlebnissen und deren Erinnerungen bzw. Vorstellungen die grundsätzlichere Frage: wie kann zeitgenössische Malerei Zerstörung, Verlust und Tod beikommen und zwar so, dass die Frage nicht nur auf den Maler und seine Vorstellungen selbst gerichtet ist als diese eine Möglichkeit, 'a la maniera'.


Sie geht zwar von den eigenen Erfahrungen aus, bleibt aber dort nicht stehen. Krieg in Syrien, die schier endlos dauernde Zerstörung Aleppos - heute ist es Mossul im Irak - war bislang kein besonderes Sujets der künstlerischen Auseinandersetzungen, nicht bei den bekannten Malerzeitgenossen. Mag sein, dass die Herausforderung an die Malerei zu groß ist, Zerstörung und Verlust nicht nur auf den Grund zu gehen, sondern auch in einer Art Gegenbild gegen die nivellierende Bilderflut der Medien zur Ansicht zu bringen. In den Medien hat Aleppo seinen Ort, besser Un-Ort oder Epizentrum, im Schlaf- oder Wohnzimmer oder 'à la main', wo immer auch Digital TV, Smartphone, Tablet oder PC ihren Platz heute finden. So allgegenwärtig die Themen unserer Zeit auch sind, letztlich sehen wir nichts mehr in der seriellen Bilderflut.


Auch der Verlust eines Freundes bringt große Erschütterung ins eigene Dasein und so ein wenig das Universum durcheinander. Denn nichts ist ab da wie vorher. Verlust hat als absoluter, was der Tod ist, das Unwiederbringliche in sich. Und wie kann ein Bild oder eine Serie von Bildern mit etwas Unwiederbringlichen umgehen? Wir wissen aus der Psychologie, dass Verleugnen und Verdrängen hier nicht viel hilft. Wir wissen im kritischen Blick auf uns selbst, dass bloße Erinnerungen an den Freund ihn selbst in der Erinnerung selten so wiederbringen, wie er und die Freundschaft wirklich waren.


Erinnerungen, diese Form der Anwesenheit von etwas Abwesendem, von etwas unwiederbringlich schon verlorenem, sind nicht selten Trugbilder und eben so oft sind wir es, die meinen, das wir selbst es sind, die uns täuschen. Das mag sein, aber was wäre, wenn wir es letztlich nicht mit einem uns selbst täuschenden Verhalten, mit unserer Selbsttäuschung zu tun haben, sondern dahinter die Täuschung, der 'Trug' des Freundes selbst aufscheint. Nicht ein willentlicher, ein vordergründiger Trug, sondern viel tiefer, ein Trug, eine Täuschung des Lebens des Freundes selbst wie der unser aller Leben?


Zerstörung, Verlust und final der Tod stellen uns heute die "letzten Fragen". Was ist der Mensch lautet die eine, der wir nicht entkommen können. Und so haben wir die 'Prima Philosophia' zu Höchstleistungen der Mystifikation des Unbekannten getrieben. Was in früheren Epochen Mysterien und Kultus-Kunst waren ist heute von wissenschaftlicher Forschung verdrängt worden und in medialen Lebensentwürfen rationalisieren wir das Bild des Todes wie die von Zerstörung und Verlust. Ohne es zu merken, haben wir die intellektuelle Erfahrung der Welt unseren anderen Lebensentwürfen vorangestellt, Wissenschaft und Kunst erklären uns die Welt noch bevor wir sie erleben. Dem Tod haben wir ein Mädchen zur Seite gestellt, dem memento mori das carpe diem.


Der Tod tanzt oder hält wach wie Beuys formulierte. Er ist gleichermaßen bedrohlich, fremd, unbekannt wie inspirierend; der Totenschädel ist besetzt mit Diamanten, die den Wert kühler Sinn-Projektionen moderner Lebensentwürfe bemessen.


Andy Warhol hat seinem individuellen Todesbild ein serielles, medial konfiguriertes Bild des Todes in seinem Werk gegenüber gestellt. Er hat sein individuelles Todesbild formal entpersönlicht, hat es jeder formal-ästhetischen Tiefe enthoben. Da gibt es kein Dahinter, nur ein fast schon zur self fulfilling prophecy gediehener gesellschaftlicher Umgang mit dem Tod, in der der Umgang mit dem Tod als ein maschinelles Gestaltungsideal funktioniert; fein säuberlich und gnadenlos präzise arbeiten die 'Electic Chairs' wie die alltäglichen Beerdigungsrituale ohne jede individuellen Handschriften.


Warhol, der im Jahr 1968 selbst nur knapp ein Attentat überlebte, blieb aber auch als Künstler im symbolischen Bannkreis des Todes. In schreiender Farbigkeit lehnen sich seine Serienbilder sowohl gegen die mediale Abstumpfung von Hinrichtungen, gegen deren flüchtig vorbeistreifenden Medienmeldungen wie auch gegen seine und die menschliche Vergänglichkeit auf.


Warhol will, dass der Betrachter Stellung bezieht, gegen die mediale, serielle Nivellierung der Grausamkeiten der Todesstrafe, aber auch gegen den Tod selbst. Gegen dessen uninspirierte Anonymität und Banalität. Aber so sehr er sich auch zeitlebens mit dem Tode auseinandersetzte, es ging ihm um die Entmystifizierung eines gesellschaftlichen Bewusstseins und Umgangs mit dem Tod; es ging ihm um deren Aufklärung mit den Mittel der Kunst.


Aber was ist, wenn all' die mementi, die Mädchen, Totenschädel und sonstigen Allegorien der Vergänglichkeit (vanitas), die uns ein Leben lang im Bannkreis des Todes metaphysisch-nihilistisch umklammert wach halten, aufgeklärt wären, und der Tod und damit das Leben nichts anderes wäre als ein sinnloser Vorgang, dessen Schöpfung so ohne Tiefe, ohne metaphysisches Dahinter ist, wo es also auch für die Künste schließlich nichts zu finden gibt, wenn der Tod lediglich dem Leben eine passagere Bedeutung zuweist, die der Mensch nur allzu gern annimmt, aber nicht annehmen muss, was dann?


Das diese Frage so abwegig nicht ist, hielt J. P. Sartre bereits in dem eindringlich erschütternden Satz fest: "Jeder Tod ist ein Mord." Und weist auf den Betrug für den anderen, für Freund und Partner hin. Und er hat Recht, denn kein Tod ist einfach nur ein "natürlicher" Tod. Er ist Trennung und Bruch, Bruch vieler uneingelöster Versprechen und Beziehungen, Mord, heimtückisch, unvorhersehbar und chancenlos für die Lebenden wie die Betroffenen. Dies alles und mehr ist der Tod für uns, selbstverständlich nicht intentional.


Die Guilloche auf der Lünette der Uhr des alten Klosters Sao Francisco im Zentrum des Brasilianischen Salvador de Bahia zeigt in goldenen, vom salzigen Seewind schon teilweise bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Buchstaben: "Ferriunt omnes, ultima necat." 10 Aber so können und wollen wir unser Leben nicht sehen. Denn unser Bewusstsein betreibt ein ganz anderes Spiel. Es funktioniert im Gegensatz dazu komplementär und kumulativ. Seine Inhalte, seine Vorstellungen, Bilder und Erinnerungslinien stehen in einem ständigen Vervielfältigungsprozess, in fortwährender Anreicherung und also Akkumulation.


Für das Bewusstsein gibt es nicht die Endlichkeit, sondern die Unendlichkeit als Bezugssystem. Vom Tod ausgehend, sucht es dessen Überwindung, denn der Mensch will leben und nicht sterben, er will seine gegebene Zeit überschreiten, generativ wie für sich selbst. Deshalb trägt der Mensch die Idee der Unendlichkeit immer schon in sich, wirkt diese Idee rekursiv auch in ihn hinein, in sein Denken, Empfinden und Handeln, auch in die Kunst.


Der Künstler, der Maler malt immer gegen die Zeit, wenn er denn "gut" ist. Und so hinterlässt er uns seine "ewigen" Werke als sein Bewusstsein seiner Zeit, seiner Geschichte, wenn sein Körper schon längst ins Nichts gesunken ist. Sein Körper stirbt, seine Ideen in seinen Werken bleiben uns wohl möglich lange erhalten.


Wir sind zwar aus der Endlichkeit geboren wie das Universum selbst und der Urknall unserer Geburt war nichts anderes als der Beginn eines Lebens aus dem Tod. Der Tod, die Vergangenheit und Vergänglichkeit von allem haben uns das Leben geschenkt und das Bewusstsein, dass auch wir endlich sind. Auch das Bewusstsein und die Idee der Unsterblichkeit, der wir mit Leidenschaft begegnen und die den Künstler aus der amorphen Dauer wie, im besten Fall, aus der Nivellierung des "Jedermann" heraushebt. Und seine Waffe gegen den Tod ist sein Werk.


Von Aleppo wird nichts übrig bleiben, nichts, was auch nur im Entferntesten mit dem Aleppo vor dessen derzeitiger Auslöschung zu tun hat wie auch von Hans-Jörg Holubitschka nichts Lebendiges mehr bleibt, außer seine Werke, außer die Bilder von Zerstörung, Verlust und Tod von Bernard Lokai, die auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihnen sind und die vielleicht nie zu ende geht wie der dialog interieur, der fortan die Gespräche mit dem Freund und Malerkollegen aufbewahrt und fortführt. Viele dieser Bilder und Geschichten werden Erinnerungen sein, die von Mund zu Mund wandern und so von sich erzählen, werden im Gedächtnis bewahren, was es so in Wirklichkeit nie gab, aber was das Bewusstsein aus seiner metaphysischen Umklammerung nicht herzugeben bereit ist, jedenfalls nicht so ohne weiteres, so ohne Widerstand.


Wenige Bilder werden Zerstörung, Verlust und Tod als solche zeigen, nicht Aleppo und Hans-Jörg, nicht die Erinnerung an sie. Sie werden dem Betrug des Todes nicht auf den Leim gehen, werden eben keine Stelen in einem Heiligtum errichten, sondern helfen, vergessen zu machen, was an unverarbeiteten Klischees von Vorstellungen und Erinnerungen, diesem nihilistischen Vandalismus des eigenen Bewusstseins abgelegt ist. Und nur so den Blick freigeben auf das, was bleibt, was wirklich währt: der ewige künstlerische Kampf gegen Zerstörung, Verlust und Tod, der dem Leben, dem uneinholbar sich Wandelnden und dem Vergangenen Sinn und Würde verleiht.


Anmerkungen:

1 ("ex fabrica et ratiocinatione", Vitruv, Buch 1: Ausbildung des Architekten und architektonische Grundbegriffe; Das Anlegen von Städten )
2 Gustav Adolf Seeck, Platons Sophistes: Ein kritischer Kommentar: (240c8-d5 Das "Können" (techne) des Sophisten hat sich als "Scheinbildnerei (phantastiké 239c9) und damit als "Täuschungskunst" (apatetiké 240d2) erwiesen. ) https://books.google.de/books?isbn=2821846339
3 (Heidegger: Platon, Sophistes)
4 Seek ("Schein-Nachahmung", Platons Sophistes)
5 Ästhetische Grundbegriffe: Band 1: Absenz - Darstellung. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt - 2016 https://books.google.de/books?isbn=3476005208
6 Sophistes, 236c
7 ('gigantomachia peri tes ousias', Flatscher, Tonhauser)
8 Heidegger; "dynamis" und "koinonia" nach Aristoteles
9 "logos pseudos" in Martin Brasser : Wahrheit und Verborgenheit: Interpretationen zu Heideggers . https://books.google.de/books?isbn=3826013050
10 Alle -Stunden- verletzen, die letzte tötet



Mehr zu Bernhard Lokai unter: on-golf.de/kunst/bernard-lokai


Bernhard Lokai stellt aus: Einzelausstellung in Buchen

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