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Was es heißt, die Persönlichkeit zu kennen

Michael Seibel • Zum Ende der Ideengeschichte eines Konstrukts   (Last Update: 25.02.2015)


Von Zeit zu Zeit ist es nötig, sich vor Augen zu halten, was Wissen in einer empirischen Sozialwissenschaft bedeutet, wie es dort generiert wird, und wo der wesentliche Unterschied zum Alltagswissen liegt. Denn das ist sehr unübersichtlich geworden.

Wo liegen zum Beispiel die grundlegenden Unterschiede, ob ich etwas über bestimmte, mir bekannte Menschen weiß, oder ob ein Psychologe behauptet, die Persönlichkeitsmerkmale derselben Menschen zu kennen?

Der erste gravierende Unterschied: Der Psychologe kennt diese Menschen gar nicht. Ich hingegen kenne sie. Ich lebe mit ihnen zusammen. Aber selbstverständlich muss er sie auch nicht kennen. Es reicht, wenn sie seine Fragebögen ausfüllen. Dennoch! Das ist unbedingt zu erinnern: Ich kenne Sie. Er kennt sie nicht. Das sollte zumindest einen ersten Verdacht darüber stützen, dass er mit Wissen etwas anderes meinen könnte als ich.

Was besagt es, dass ich sie kenne? Es ist möglich, dass ich sie nicht gut genug kenne oder dass mich der eine oder andere, warum auch immer, hinters Licht geführt hat oder dass ich selbst in ihm etwas anderes sehen wollte als das, was ich hätte sehen können, hätte ich es nur gewollt. Ganz nebenbei lerne ich dabei auch mich selbst besser kennen. Und doch: Ich vergleiche die Menschen, die ich gut kenne, mit anderen Menschen in ähnlichen Situationen, schaue mir meine Bekannten in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen an, in trivialen und in für mich oder sie bedeutsamen, bedenke, wie sie sich in der Vergangenheit entschieden haben, welchen Problemen sie sich stellen und welchen sie lieber aus dem Weg gehen. Ich habe erlebt, dass sie bestimmte Fähigkeiten haben. Ich kenne viele von ihnen schon lange und habe bemerkt, wie sie sich verändert haben und wann sie eigentlich heute noch so reagieren wie vor vielen Jahren. Das ist ohne Zweifel Wissen, denn es bewährt sich im täglichen Umgang mit meinen Mitmenschen. (1)

Das ist der grobe Rahmen, in dem ich behaupten würde: ich weiß etwas von meinen Mitmenschen. Ich nehme an, die meisten Menschen sehen das ähnlich. Dazu haben wir im Laufe der Jahrtausende ein umfangreiches Instrumentarium intellektueller Instrumente entwickelt. Beispielsweise verfügen wir über unglaublich viele Worte, um, wenn es sein muss, sehr genau qualitativ zu differenzieren, was wir an anderen und an uns selbst wahrnehmen. Man hat sie nachgezählt. Die erste systematische Zusammenstellung für die englische Sprache soll von Allport und Odbert (1936) stammen, die die annähernd 550.000 Worte von Webster‘s New International Dictionary aus dem Jahre 1925 nach Adjektiven, Partizipien und Substantiven durchsuchten, die Persönlichkeitsdispositionen bezeichneten. Man kam auf eine Liste von knapp 18.000 Worten.

Dass es derart viele Wörter zur Beschreibung dessen gibt, wie der andere 'drauf ist', zeigt, dass die Sprecher einer Sprache intensiv zusammengearbeitet haben müssen, um sich auf ein so reichhaltiges Repertoire zu verständigen und dass sie dabei einen Weg gefunden haben, die Resultate ihrer Erfindungs- und Beschreibungsgabe zu tradieren. Es ist die Arbeit des Sprechens und der Schrift, des miteinander Sprechens in der Polis, der Literatur, der Entwicklung von Kultur. Zudem ist zu sagen, dass wir die 18.000 Worte nicht isoliert von den anderen 530.000 Worten gebrauchen, weil wir uns den Anderen mit all seinen Befindlichkeiten und Eigenarten in der gemeinsamen Welt verständlich machen.

Dies Geschäft war und ist kein wissenschaftliches, sondern ein lebensweltliches, der Umgang mit Sprache darin ist alltagssprachlich und wird in elaborierterer Form zu Literatur. Wir zielen intentional auf je Besonderes ab, auf konkretes Einzelnes, dass wir gegen anderes Einzelnes und gegen das, was wir für allen oder einigen gemeinsam halten, unterscheiden. Die Situationen, in denen wir differenzieren, sind konkret, und uns ist keineswegs gleichgültig, ob wir von Peter sprechen, oder von Paul. Eine Sprache, in der es nicht darum geht, das Besondere auszudrücken, benötigt keine 18.000 Eigenschaftsworte und kein Lexikon mit mehr als einer halben Million Wörtern.


Und in der Philosophie?

Den Menschen und seine Eigenschaften betreffende Inventare sind keine Erfindung moderner Psychologen, sondern wurden seit der Antike immer wieder vorgeschlagen, wenn es um die möglichen Gründe für die Festigkeit oder Gefährdung des Charakters ging, um jenes Schiff, das von den Wellen der Leidenschaften hin und her gestoßen wird. Die Auflistungen waren durchgängig ethisch motivierte Versuche der Selbstvergewisserung. Ihr antiker Herkunfsort sind Weisheits- und Klugkeitslehren.
Mal waren die Listen länger und manchmal kürzer. So nennen die Stoiker 130 Leidenschaften, die man kontrollieren muss, um Freiheit von Leidenschaften (Apatheia), Selbstgenügsamkeit (Autarkie) und Unerschütterlichkeit (Ataraxie) zu erlangen, um, wie Seneca sagt, »Herrschaft über sich selbst zu gewinnen, über das größte aller Reiche.«. Spinoza zählt 48 Leidenschaften (Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (1677)) und René Descartes beschreibt 42 Leidenschaften (Über die Leidenschaften der Seele (1649))


Gängige Kriterien für Wissenschaftlichkeit

Was macht der empirische Psychologe anders? Hier seien zunächst die allgemeinen Kriterien für Theorien in empirischen Wissenschaften rekapituliert. Wissenschaftler fordern: Es muss sich explizit definieren lassen, was mit den Begriffen der Theorie gemeint ist, sodass möglichst jeder Wissenschaftler die Begriffe gleich verwendet. Die Begriffe der Theorie sollen sich direkt oder indirekt auf Beobachtungsdaten beziehen. Aussagen, die sich aufgrund der Theorie machen lassen, dürfen sich nicht widersprechen. Die Aussagen der Theorie müssen empirisch überprüfbar sein. Sie sollten alle bekannten Phänomene des Gegenstandsbereichs der Theorie erklären. Dabei sollte die Theorie möglichst wenig Grundbegriffe benötigen und die Theorie sollte sich praktisch anwenden lassen. Explizitheit, empirischer Charakter, Widerspruchsfreiheit, Prüfbarkeit, idealerweise Vollständigkeit, Sparsamkeit und praktische Anwendbarkeit, das wären Kriterien empirischer Wissenschaften.

Wenn Persönlichkeitspsychologie die empirische Wissenschaft von den überdauernden, nichtpathologischen, verhaltensrelevanten individuellen Besonderheiten von Menschen innerhalb einer bestimmten Population sein soll, dann müsste eigentlich jedes einzelne Individuum der betreffenden Gesamtheit mehrfach auf seine Besonderheiten hin befragt werden. Dazu müsste man sich des gesamten Sprachmaterials bedienen, mittels dessen solche Besonderheiten ausgedrückt werden, also etwa eines Fragenkatalogs, der alle möglichen 18.000 Ausdrücke und deren weltliche Kontexte einbezieht.

Es versteht sich bisher von selbst, dass wir davon weit entfernt sind. Empirische Sozialwissenschaften sind Techniken der methodischen Reduktion. Das Wort empirisch bedeutet nicht einfach, das Beobachtung Grundlage des Wissens sein soll, sondern ausschließliche die Beobachtung von extrem eingegrenzten, sich wiederholenden Bereichen des Realen. Das ist offensichtlich ein grundlegender Unterschied zur alltäglichen Lebenspraxis. Jeder, der mit offenen Augen durch seinen Alltag geht, kommt einer Vollerhebung seiner Umgebung bei weitem näher als ein Psychologe. Unsere Grundgesamtheit ist viel kleiner, weil uns unsere Verkehrsformen und Kommunikationsmöglichkeiten begrenzen. Sie besteht aus den Menschen, mit denen wir zu tun haben, und wir benutzen dabei in der Tat einen Großteil der sprachlichen Möglichkeiten, um selbst feinste Unterschiede, die Menschen für uns unverwechselbar machen, festzustellen und zu beschreiben.

Wir reduzieren in geringerem Maß und anders. Denn wir erleben ganz alltäglich zumindest einige der Menschen um uns herum auf dem Niveau unverwechselbarer Einzigartigkeit und sind durchaus in der Lage, sie auch so zu beschreiben. Unverwechselbarkeit und Identifizierbarkeit sind nicht das gleiche. Die Unverwechselbarkeit eines Menschen im konkreten Zusammenleben besteht nicht darin, dass ich weiß, wie er heißt und ihm die kleinstmögliche Anzahl von Eigenschaften zuschreiben kann, die auf niemand sonst exakt passt. Empirische Wissenschaften sind in diesem Sinn viel weniger beobachtend als die alltägliche Lebenspraxis.

Da die empirischen Wissenschaften nach ihrem eigenen Programm komplexitätsreduzierend vorgehen, stellen sich ihnen die Fragen nach Validität, Reliabilität und Objektivität. Man hat wie man weiß zu fragen: misst eine Kenngröße, was sie messen soll, ist sie valide (weiß ich, wie zufrieden die Mitarbeiter sind, wenn ich nach der Anzahl der Fehltage frage? Nein, dadurch nicht. Es könnte sein, sie sind wirklich krank und nicht unzufrieden.). Ist eine Messung reliabel, kommt es bei Wiederholung zu einem ähnlichen Messergebnis? Und ist das Ergebnis einer Messung unabhängig von Prüfer und Messgerät? All das ist bekannt, aber darum nicht trivial. Solche Fragen muss man sich nur dann stellen, wenn man die Zahl der Messungen, die man anstellen muss, um eine Aussage treffen zu können, so klein wie möglich halten will. Das würde man nicht müssen, wären die empirischen Wissenschaften nicht Ressourcen verbrauchend.

Wenn ich alle Mitarbeiter frage, ob sie mit ihrer Arbeit zufrieden sind und sicherstelle, dass ich mitbekomme, wie unterschiedlich es ist, was sie unter zufrieden sein verstehen, und wenn ich mich zudem versichere, dass niemand einen Grund hat, mich aus welchem Grund auch immer zu belügen, brauche ich mir um Validität, Reliabilität und Objektivität keine großen Sorgen mehr zu machen. Ich muss allerdings eingestehen, dass die gewünschte Vollständigkeit auch in einem alltagssprachlich politisch-literarischen Kontext nicht erreichbar ist.

Die Alltagspraxis macht offensichtlich einen anderen Gebrauch von den Kriterien, die für empirisch wissenschaftliche Theoriebildung gelten würden. Etwa von der Forderung nach Explizitheit. Auf sie kann Alltagspraxis so wenig verzichten wie wissenschaftliche. Wenn das, was ich sage, unverständlich ist, könnte ich das Sprechen auch lassen. Wenn ich allerdings nur sagen dürfte, was jeder versteht, brauchte ich mit dem Sprechen ebenfalls nicht zu beginnen. Die Verständlichkeit ist auf sich verändernde Kontexte beschränkt. Am Arbeitsplatz müssen mich meine Mitarbeiter verstehen können. Zu Hause meine Frau. Es ist allerdings vergleichsweise unerheblich, ob meine Mitarbeiter verstehen, was ich meiner Frau erzähle und umgekehrt. Offenbar versuchen demgegenüber empirische Wissenschaften, einen gemeinsamen Kontext herzustellen, der sich nicht ändert und ihn über lange Zeit aufrecht zu halten und gegenüber anderen Kontexten zu favorisieren. Alltagspraktisch geschieht in vielen Bereichen etwas ähnliches, etwa am Arbeitsplatz. Aber Explizitheit wird alltagspraktisch nicht global beansprucht und ist von den Diskursteilnehmern leichter verhandelbar.

Alltäglich gebrauchen wir unsere Sinne, um Qualität von Dingen in der Form von Unterscheidungen an den Dingen feststellen zu können. Alltägliche Erfahrung ist darin entschieden weniger reduzierend als wissenschaftliche. Alltägliche Erfahrung achtet stärker auf Qualitäten, schon deshalb, weil die Quantitäten, mit denen wir es um uns herum zu tun haben, überschaubar sind. Das ändert sich allerdings seit langem durch die Verwissenschaftlichung der Berufsarbeit und die globale Ökonomisierung und Konkurrenz sämtlicher marktwirtschaftlicher Tätigkeiten. Dadurch nimmt die Beschäftigung mit Quantitäten anstelle der Differenzierung von Qualitäten einen zunehmend größeren Raum in der Alltagspraxis ein. Der Zwang zur Reduzierung erreicht uns von den Wissenschaften aus als Spezialistentum.

Wie man festgestellt hat, kennt heute jeder einzelne Mensch jeden anderen einzelnen Menschen auf der Welt um weniger als zehn Ecken. Ich kenne A, A kennt B, B kennt C usw. Spätestens nach der zehnten Filiation kenne ich jeden Menschen auf der Welt. Das ist sozusagen quantitativ richtig und qualitativ unsinnig. Es ist unsinnig, weil ich nicht einmal B kenne. Und es ist etwas Wahres daran. Die globale Konkurrenz zeigt, wie nah mir selbst der entfernteste Mensch ist.

Ein weiteres Kriterium empirisch wissenschaftlicher Theoriebildung wäre Widerspruchsfreiheit. Sie ist in Alltagspraxis ebenso Thema, sofern Alltagspraxis in Ordnungen stattfindet, die uns auf Widerspruchsfreiheit einschwören. Alltagspraktisch bezeichnet Widerspruchsfreiheit jedoch eher einen stets lebendigen Konflikt als ein Prinzip. Ähnlich steht es um Prüfbarkeit und praktische Anwendbarkeit. Wie mir scheint ist Alltagspraxis zumeist viel zu offen und experimentell, um so etwas wie Vollständigkeit zu beanspruchen.

Im Hinblick auf die Forderung an wissenschaftliche Theoriebildung nach größtmöglicher Sparsamkeit bei der Anzahl der erforderlichen Begriffe sehe ich den größten Unterschied zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Rationalität. Damit sind wir erneut beim Lexikon und der Tendenz, es ohne jeden Vorbehalt auszuweiten und uns gerade nicht zu beschränken.

Will man ernsthaft die Frage stellen: was sind die überdauernden individuellen Besonderheiten der Menschen, dann muss man an zwei Seiten extrem reduzieren und muss zu plausiblen Regeln der Reduktion kommen. Man muss es schaffen, eine Grundgesamtheit von dann 7 Milliarden Menschen extrem zu reduzieren, und man muss es schaffen, den relevanten Teil des Lexikons, der menschliche Besonderheiten beschreibt, ebenso erheblich zu reduzieren. Dieser Versuch sieht sich angesichts der 18.000 Eigenschaftsworte nicht unbedingt vor eine Chance gestellt, mit so viel Komplexität wie nur möglich umzugehen, sondern vor einen inoperablen Ballast. Von den 18.000 Eigenschaftswörtern müssen also möglichst viele gestrichen werden. Nur welche müssen gestrichen werden und welche müssen übrig bleiben?

Adjektive wie »ängstlich, furchtsam, nervös« bedeuten offenbar fast das gleiche, aber nicht genau. Kommt man bei der Beschreibung menschlicher Besonderheiten nicht mit einem davon aus? Aber welches von den dreien soll es sein? Alle drei beschreiben Qualitäten. Nur haben »ängstlich, furchtsam und nervös« sozusagen keinen Preis, mittels dessen man sie vergleichen könnte. Die Vergleichbarkeit wird sogar noch dadurch erschwert, dass es keine allgemeine Regel dafür gibt, was wir in einem gegebenen Kontext als eigenschaftsgleich oder qualitativ gleich bewerten. Qualitäten sind keine kontextübergreifend wohlbestimmten Gegenstände der Rede. Wenn ich zwei Schulkinder miteinander vergleiche und einen von beiden ängstlicher finde als den anderen, lege ich sicher ein anderes Maß an, als wenn ich zwei Soldaten im Kriegseinsatz vergleiche. Qualitäten bilden also keinen echten Gegenstandsbereich mit wohlbestimmten Gleichheiten und Ungleichheiten. Alle Reflexionsaussagen über Qualitäten sind notwendigerweise logisch ›unscharf‹. Qualitäten sind außerdem relational. D. h. sie sind immer eine Art von Beziehung eines wahrnehmenden Subjekts auf wahrnehmbare Gegenstände in der Welt.


Verwandlung von Qualität in Quantität

Wie kann man »ängstlich, furchtsam, nervös« dennoch quantifizieren und z.B. danach mit »selbstsicher, ordentlich und besonnen« vergleichen. Andererseits, warum sollte das schwerer sein, als Wasser in Wein zu verwandeln? Durch Vergleich und Tausch mittels eines Äquivalents. (Drei, vielleicht vier Akteure können Wasser in Wein verwandeln: die Bauern, die Götter und das Geld und vielleicht die Lebensmittelindustrie.) Es ist ein Vorgang, der in der Moderne nichts von seiner Magie verloren hat, denn das Wesen der Qualitäten besteht darin, das zu sein, was sie sind und nicht sogleich etwas anderes. Schauen wir also der Verwandlung menschlicher Eigenschaften so genau wie möglich auf die Finger, denn am Startpunkt der empirischen Sozialwissenschaften liegt eine massive qualitative Entdifferenzierung, ein Verlust von Wahrheit. Bei der Entwicklung der big five, der Leitadjektive der Persönlichkeitspsychologie, grenzt diese Entdifferenzierung ans Absurde. Das lässt sich Schritt für Schritt nachzeichnen.

Jede Ware hat ihren Preis, ihr quantitatives Maß, wie qualitativ unterschiedlich die Warenwelt auch sein mag. Soweit Preisbildung funktioniert, was sie zweifellos ubiquitär tut, bedarf es entwickelter Machtverhältnisse auf Seiten der Marktteilnehmer, denn wie Marx gezeigt hat, gibt die dingliche Gestalt der Waren, ihre Qualität, von sich aus kein Wertmaß her. Ebensowenig geben menschliche Eigenschaften von sich aus ein Vergleichsmaß her. Und doch besteht die Lösung der empirischen Wissenschaften bei der Eliminierung von Eigenschaften ebenfalls darin, Qualitäten über Quantitäten vergleichbar zu machen. Man erfindet sozusagen einer Währung, um furchtsam in nervös umzurechnen. Wie geht das?

Man kann z.B. jemandem die Frage stellen: Sind sie oft nervös? Und ihn um eine zahlenmäßige Bewertung bitten. 1 soll bedeuten, dass die Aussage nicht zutrifft, 2 bedeutet, dass sie gelegentlich zutrifft, 3, dass sie manchmal zutrifft und manchmal nicht, 4, dass sie eher zutrifft und 5, dass sie in hohem Maß zutrifft. Es ist uns längst völlig selbstverständlich, Anweisungen wie dieser zu folgen. Wir haben den Eindruck, immer noch bei einer rein qualitativen Beschreibung zu sein. Bin ich oft nervös? Könnte ich nicht sagen. Aber nie, das könnte ich auch nicht sagen. Ja, gelegentlich. Was soll ich ankreuzen, um diese qualitative Selbsteinschätzung auszudrücken? Die 2.

Was ich damit ankreuze, ist der 2tePlatz in der Liste, nicht der Wert 2. Der Augenblick aber, in dem der Proband den Fragebogen aus den Händen gibt und der Psychologe ihn in Händen hält, ist der Augenblick der Wandlung von Qualität in Quantität. Nervosität ist von nun an ordinalskaliert.

… Aber damit noch nicht mit anderen Eigenschaften vergleichbar. Ebenso kann man mit jeder anderen Eigenschaft umgehen, also z.B. auch mit »furchtsam«. Wenn man die selben Menschen nach ihrer Furchtsamkeit fragt, die man zuvor nach ihrer Nervosität gefragt hat, wird man feststellen, dass nicht alle, die sich als nervös einschätzen, sich auch im gleichen Maß für furchtsam halten. Anschließend kann man fragen, ob Menschen, die aussagen, in höherem Maß furchtsam zu sein, auch aussagen, in gleich hohem Maß nervös zu sein. Auch hier wird man feststellen, dass das nicht immer so ist. Jemand könnte im Interview z.B. sagen, er sei zwar grundsätzlich ein eher ängstlicher Mensch, habe jedoch keinen Grund zu ausgeprägter Nervosität, denn er schütze sich genügend. Man wird, der Erklärung folgend, auf einen Menschen treffen, der die aufgenötigte Quantifizierung sogleich wieder zurückweist und viel eher geneigt ist, sich mit Hilfe des Fundus seines 550.000 Wörter umfassenden Diktionärs qualitativ zu differenzieren. Genau das scheint mir ein wichtiger Grund zu sein, warum trotz einer programmatisch reduzierenden Wissenschaftlich­keit, die allerorten ausgebreitet wird, der Sprachumfang nicht nach und nach schrumpft und die Wissenschaft der Bildung (denn nichts anderes als Bildung ist die Fähigkeit der qualitativen Differenzierung), nicht den garaus macht.


Korrelation - Schritt für Schritt

Der nächste gedankliche Schritt hin zur empirischen Sozialwissenschaft ist der Gedanke der Korrelation. Ich konstruiere folgendes Beispiel: Korrelieren Ängstlichkeit und Nervosität? Wonach frage ich dabei genau? Suche eine Zahlenangabe, die beschreibt, ob tendenziell Personen, die sich als eher ängstlich einschätzen, sich auch als eher nervös einschätzen und würde in diesem Fall von einer positiven Korrelation sprechen. Wenn ich feststellen sollte, das gerade die, die sich als ängstlich einschätzen, sich als besonders wenig nervös einschätzen, wäre das eine negative Korrelation. Wenn ich nun genügend Menschen befrage, werde ich irgendwann feststellen, dass alle möglichen 25 Kombinationen der beiden Eigenschaftsausprägungen vorkommen.

Peter z.B. kreuzt auf die Frage »Sind sie oft ängstlich?« Die Antwortmöglichkeit an, die zufälligerweise an der dritten Stelle steht, indem er die Aussage für zutreffend hält: »Manchmal bin ich ängstlich und manchmal nicht«. Der Psychologe kodiert diese Antwort mit der Ziffer 3. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Hätte der Fragebogen die gleichen Antwortmöglichkeiten geboten, nur in einer anderen Reihenfolge, hätte das für den Befragten nichts an der Möglichkeit geändert, seine qualitative Aussage zu machen: »Manchmal bin ich ängstlich und manchmal nicht«. Er hätte die Antwortmöglichkeit ebenfalls gefunden, nur an anderer Stelle. Dem Auswerter jedoch wäre die Möglichkeit versagt gewesen, die Qualität quantitativ umzudeuten.

Lassen wir Peter nun auf die Frage »Sind sie oft nervös?« die Antwortmöglichkeit ankreuzen, die zufällig an zweiter Stelle steht: »Gelegentlich bin ich nervös«, womit er also insgesamt über sich ausgesagt hat: »Manchmal bin ich ängstlich und manchmal nicht. Und außerdem trifft zu, dass ich gelegentlich nervös bin.«

Im Alltagsleben würde uns das über Peter nichts sagen. Wir würden ihn um weitere Erklärungen bezüglich des Kontextes seiner Selbsteinschätzung bitten. Dem Psychologen hingegen reicht es zunächst als Aussage. Er würde wie folgt kodieren: Person 1, Ängstlichkeit 3, Nervosität 2. Nehmen wir an, er ginge bei 9 weiteren Personen mit der gleichen Dürftigkeit vor, dann käme er zu Werteliste wie der folgenden:

Person 1, Ängstlichkeit 3, Nervosität 2. Person 2, Ängstlichkeit 1, Nervosität 1. Person 3, Ängstlichkeit 2, Nervosität 2. Person 4, Ängstlichkeit 1, Nervosität 3. Person 5, Ängstlichkeit 1, Nervosität 1. Person 6, Ängstlichkeit 1, Nervosität 1. Person 7, Ängstlichkeit 1, Nervosität 1. Person 8, Ängstlichkeit 3, Nervosität 1. Person 9, Ängstlichkeit 1, Nervosität 1. Person 10, Ängstlichkeit 4, Nervosität 5.

Die Namen der Personen fehlen nicht nur aus Datenschutzgründen, sondern auch deshalb, weil die realen Personen so wenig interessieren wie die Kontexte.

Im nächsten Schritt wird der Mittelwert für Ängstlichkeit und für Nervosität gebildet.

Mittelwert für Ängstlichkeit: (3+1+2+1+1+1+1+3+1+4)/10 = 1,8
Mittelwert für Nervosität: (2+1+2+3+1+1+1+1+1+5)/10 = 1,8

Nunmehr wird für jeden einzelnen Wert aller 10 Teilnehmer für Ängstlichkeit und Nervosität angegeben, um wieviel er vom jeweiligen Mittelwert abweicht. Die beiden Abweichungswerte werden sodann miteinander multipliziert. Also für Person 1 beispielsweise:

Person 1, Ängstlichkeit (x) = 3 Nervosität (y) = 2 Ängstlichkeit-Mittelwert Ängstlichkeit (Xi-Mx) = 1,2 Nervosität-Mittelwert Nervosität (Yi-My) = 0,2 (Xi-Mx)*(Yi-My) = 0,24

Das selbe macht man für alle 10 Personen.




Nunmehr fragt man nach dem Mittelwert der Produkte (Xi-Mx)*(Yi-My)

(0,24+0,64+0,04-0,96+0,64+0,64+0,64-0,96+0,64+7,04)/10=8,6/10=0,86

Für die weitere Berechnung benötigt man die Standardabweichungen von Ängstlichkeit und Nervosität. Dazu quadriert man die jeweiligen Abweichung des Wertes vom Mittelwert. Man benötigt alle (Xi-Mx)^2 und alle (Yi-My)^2

Die Mittelwerte von (Xi-Mx)^2 und (Yi-My)^2 heißen Varianz X und Varianz Y.

Varianz X = (1,44+0,64+0,04+0,64+0,64+0,64+0,64+1,44+0,64+4,84)/10=11,6/10=1,16

Varianz Y = (0,04+0,64+0,04+1,44+0,64+0,64+0,64+0,64+0,64+10,24)/10=15,6/10=1,56

Die Standardabweichungen endlich sind die Wurzeln der Varianz. Standardabweichung X = 1,08 Standardabweichungen Y = 1,25


Nun liegen alle Werte zur Berechnung der Korrellation von Ängstlichkeit und Nervosität vor.

Korrelation r = (summe((Wert x- Mittelwert x)*(Wert y- Mittelwert y))/n)/ (standardabweichung x * standardabweichung y) = 0,64

Korrelation von Ängstlichkeit und Nervosität = 0,64. Dies wäre das Ergebnis aufgrund unserer 10 Musterprobenden. Man würde als Sozialwissenschaftler natürlich die Anzahl der Befragten vergrößern, sie vielleicht parallel oder zeitversetzt ein zweites Mal durchführen. Man würde sich über Validität und Reliabilität detaillierte Gedanken machen. Aber das ändert nichts, daran, dass man Schritt für Schritt so vorgehen würde, wie ich das hier beschreibe, um zu einer Korrelation von zwei Eigenschaften zu kommen. Man sieht, dass man auf genau die gleiche Weise vorgeben kann, ob sich zwei Eigenschaften eher ähnlich oder eher unähnlich sind. Ergäben ängstlich und nervös eine positive Korrelation von 0,64 wie in unserem Beispiel, so ordentlich und phantasievoll vielleicht ein Korrelation von 0,01 und friedfertig und streitlustig eine stark negative Korrelation von -0,81.

Das mathematische Modell der Korrelation ist einfach und Schritt für Schritt nachvollziehbar. Aber die Beziehung der auszudrückenden Qualität zum mathematischen Modell, mittels dessen Quantiäten verglichen werden, bleibt beliebig. Was hat z.B. der Mittelwert der Nennungen von 10 Personen zum Item Nervosität mit der an sich selbst wahrgenommenen Nervosität zu tun, von der ein Proband in der Weise berichtet, dass er auf dem Fragebogen etwas ankreuzt? Durchschnitts-Nervosität ist sicher keine Qualität mehr. Und Varianzen sind keine Intensitätsunterschiede, egal, wie sie errechnet werden.

Und geradezu magisch ist die Geltung der Korrelation, ihr letzter Schritt, den man kaum bemerkt, weil es kein mathematischer mehr ist, die prognostische Wirkung in einem Netz von Überzeugungen, um derentwillen die Reduktion vorgenommen wird. Jeder Psychologe und jeder Statistiker weiß das und warnt entsprechend. Wenn mich die Mathematik der Korrelation davon überzeugt hat, dass bei einem Mitglied der Population P die Ausprägung des Merkmals A positiv mit dem Vorhandensein der Eigenschaft B korreliert, sagen wir, eine teure Uhr am Handgelenk positiv mit dem Vorhandensein eines gewissen Geldvermögens, so ist und bleibt das eine unbewiesene Erwartung und jeder aufgeklärte Teenager weiß spätestens nach dem ersten Misserfolg, dass man sich darin nicht täuschen lassen sollte, was nicht hindert, Jahre später einem Finanzberater in die Fänge zu laufen, der ihn und hundert Mitmenschen mit dem guten Namen der Bank, für die er arbeitet und mit neuen Korrelationen von der Gefahrlosigkeit eines Investments überzeugt, weil er sich selbst von der Machbarkeit eines Hauskaufs bei kleinem Einkommen hat überzeugen lassen, was ihn jetzt dazu zwingt, sein Verkaufssoll an Wertpapieren zu erfüllen. Was weiss ich, wenn ich eine Korrelation kenne? Nichts von meinem Nächsten. Und in der Tat behauptet das die Persönlichkeitspsychologie auch richtigerweise nicht.

Die Reduktion im Zentrum der empirischen Sozialwissenschaften basiert auf recht einfachen mathematischen Modellen - die neuen Sachfragen angepasst und damit komplexer werden - , deren prognostischer Wert sich allererst in einer Phantasie entfaltet, die selbst gar nicht mehr Teil der empirischen Sozialwissenschaften ist und vor der Sozialwissen­schaftler sogar warnen, obwohl sie sie permanent bedienen, nämlich in der Vorstellung, den anderen zu kennen, bevor man ihn kennengelernt hat.
Wenn daran ein Stück Wahrheit ist, kann die apriorische Bestimmtheit eines jeden, - die Tatsache, dass sich die verkürzende Vermutung, ihn immer schon ein Stück weit zu kennen, durchaus praktisch bewährt, - nur aus unserem gesellschaftlichen Zusammenleben stammen, soweit uns dies darin beschränkt, uns voneinander zu unterscheiden.
Um bereits ein Gutteil dessen zu verstehen, was typisch für Peter als Patient ist, muss ich nicht erst Peter kennenlernen, sondern ein Krankenhaus und die Gesundheitsversorgung.

Ich formuliere damit nicht eine Kritik an den empirischen Sozialwissenschaften, sondern versuche, ihre Geltung zu erfassen, warum sie mit der Simplifizierung durchkommt. Dass sie methodisch reduktionistische Modelle produzieren, sagen Psychologen klar und deutlich. Beobachten heißt im Sinne der empirischen Wissenschaften die Beobachtung einschränken, nur möglichst fokussiert beobachten.


Die grosse Reduktion

Bis hierhin haben wir vom Diktionär der 18.000 Eigenschaften gesprochen und vom rein mathematischen Modell der Korrelation, durch das jede der 18.000 mit jeder anderen vergleichbar wird und das Vergleichsergebnis ein einfacher Zahlenwert ist. Wie lässt sich von hieraus die Anzahl der Eigenschaften auf eine überschaubare Größe reduzieren? Norman (1967) reduzierte die Liste der 18.000 Worte auf 2800 Eigenschaftsworte, die er für besonders gebräuchlich hielt. Diese teilte er in Gruppen von je 200 Eigenschaftsworte auf und bat je 100 Studenten, sich im Hinblick auf diese Eigenschaften zu beurteilen. Im Ergebnis blieben ca, 1600 Eigenschaftsworte übrig, die alle Studenten verstanden hatten und im Hinblick auf die ihnen Selbsteinschätzungen möglich waren. Goldberg (1990) wiederum reduzierte diese Liste in mehreren Klassifikationsschritten durch Studenten auf 339 Adjektive, die in 100 Gruppen fast synonymer Worte eingeteilt wurden (z.B. enthielt die Gruppe »Fear« die Adjektive »anxious, fearful, nervous«). Mit diesen führte man eine Faktorenanalyse durch. Was ist eine Faktorenanalyse? (Die folgende Darstellung entnehme ich Jens B. Asendorpf, Psychologie der Persönlichkeit, Heidelberg 2007, S. 151 ff)



»Das Vorgehen bei der Faktorenanalyse sei hier an einem Beispiel illustriert. Studierende beurteilten sich in bezug auf 15 Eigenschaften auf einer Antwortskala von 1–5. Jede Person kreuzte also 15 Werte an. (Obige) Tabelle zeigt die Korrelationen zwischen allen Paaren von Eigenschaften (...). Die Korrelationen sind realistisch; sie basieren auf Daten von Ostendorf an über 1000 Studierenden.

Die Eigenschaften wurden bereits so sortiert, dass eine klare Struktur deutlich wird. Betrachten wir nur die fett gedruckten höheren (positiven oder negativen) Korrelationen, so lassen sich Dreiergruppen unterscheiden. Jeweils die ersten beiden Eigenschaften jeder Dreiergruppe korrelieren positiv miteinander und die dritte Eigenschaft negativ mit den beiden vorangehenden Eigenschaften. Zum Beispiel korreliert kontaktfreudig .52 mit lebenslustig, und schüchtern korreliert –.56 mit kontaktfreudig und –.53 mit lebenslustig. Dieses Korrelationsmuster weist darauf hin, dass es eine Eigenschaftsdimension gibt, die von kontaktfreudig und lebenslustig auf der einen Seite zu schüchtern auf der anderen Seite reicht. (…) Im Großen und Ganzen scheint es also 5 verschiedene, relativ unabhängige Dimensionen zu geben, die den Dreiergruppen entsprechen. Das wird durch die Faktorenanalyse dieser Korrelationen bestätigt. (…) Die Faktorenanalyse ist ein statistisches Verfahren, mehr oder weniger korrelierende Variablen in Gruppen miteinander korrelierender Variablen zusammenzufassen. Jede solche Variablengruppe wird durch einen Faktor repräsentiert, wobei man sich unter einem Faktor eine neue Variable vorstellen kann, die so gewählt ist, dass ihre Ähnlichkeit zu allen Variablen der Gruppe maximal ist. Erfassen die Variablen Eigenschaften, entsprechen die Faktoren breiteren Eigenschaften. (...) Die Faktoren lassen sich durch die Variablen mit hoch positiven und hoch negativen Faktorenladungen inhaltlich interpretieren.«


Bei der Faktorenanlyse geht es jetzt also– um im Beispiel zu bleiben - nicht darum, aus den Eigenschaften kontaktfreudig, lebenslustig und schüchtern, eine bestimmte Eigenschaft auszusuchen, die in Zukunft die ganze Dimension vertritt, sondern darum, eine vierte, namenlose und hypothetische Eigenschaft zu errechnen, deren mathematische Charakteristik so ist, dass sie mit dem kleinst möglichen Fehler anstelle der drei Originaleigenschaften der Gruppe in deren Korrelationen zu alle möglichen Eigenschaften außerhalb der Gruppe eintreten kann.

Der Erfolg davon ist, dass die Zahl der möglichen Eigenschaften um den Preis einer berechenbaren Unschärfe verringert werden kann, dass man es statt den drei ursprünglichen Eigenschaft mit einer neuen theoretischen Eigenschaft zu tun hat. Es ist nun Sache der empirischen Psychologen, dieser Kunsteigenschaft einen Namen zu geben und zu interpretieren, was sie wohl in der Realität bedeuten könnte. Man kennt ihre Korrelationswerte, und dennoch ist sie empirisch nicht direkt beobachtbar, diese sich selbst genießende Kontaktfreude, die, wo sie missrät, in eine Art schambeladene Schüchternheit umschlägt.

In dieser Art jedenfalls wurde es möglich, Persönlichkeitsinventare auf nur noch fünf, statistisch unabhängige Dimensionen zu reduzieren, auf die big five.

Nennen wir sie: Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrung.

Auf eine Suche nach der verlorenen Zeit kann man sich mit diesen fünf Eigenschaftsworten gerade nicht machen. Man stelle sich einen Menschen vor, der – er mag über alle 18.000 Adjektive verfügen – sich weigert, mehr als 5 Adjektive zu benutzen, um andere Menschen zu beschreiben, und der diese auch noch besonders grobschlächtig in nur 5 Abstufungen verwendet, der uns also eine Sprache weit unter jedem Schulniveau anbietet.







Geltung, Menschenbewirtschaftung, Seelenbewirtschaftung

Was macht es nun aber interessant, die Sphäre der persönlichen Feindifferenzierung unter Menschen zu verlassen, die zugleich die Sphäre der Bildung, der Literatur, der Politik und Kultur ist, um reduzierend und quantifizierend in ein Projekt einer empirischen Sozialwissenschaft einzutreten?

Ich sage das nicht, weil es neu wäre, sondern weil wir ständig geneigt sind, derlei Vereinfachungen für unhintergehbare Wahrheiten zu halten. So zitiert der eine oder andere Neurowissenschaftler heute die big five, um zu demonstrieren, wie nah er mit seinen Tomographen der Seele gekommen ist. Wir neigen dazu, derlei für wahr zu halten, weil man uns mit Blick darauf irgendwann einmal einen Job gegeben hat und uns, wenn wir Pech haben, ebenfalls mit Blick darauf in die Psychiatrie einweist. Und dennoch handelt es sich um eine Reduktion, die von uns so gut wie nichts übrig lässt.

Was wären wohl die Fragen, mit denen man sich ausgerechnet an diesen Spezialisten wenden sollte, oder sollte man ihn besser einen sprachbehinderten Autisten nennen?

Man bekommt schnell eine Antwort wie folgende: Persönlichkeitsinventare werden häufig im Rahmen von Einstellungstests und Personalauswahl verwendet und sparen dort viel Geld.

»Barrick und Mount (1991) fanden, dass der Faktor Gewissenhaftigkeit die besten Vorhersagen lieferte. Die mittlere »wahre« (…) Korrelation zwischen selbstbeurteilter Gewissenhaftigkeit und Vorgesetztenurteil betrug für beide Vorhersagekriterien .23 (...). Diese Korrelationen sind angesichts der großen zugrundeliegenden Stichprobe weitaus besser als der Zufall. Sie erscheinen zunächst nicht groß. Dennoch ist ihr Nutzen beträchtlich, wenn man bedenkt, dass Persönlichkeitsfragebögen in großem Stil einfach und preiswert verwendet werden können. Nutzenabschätzungen zeigen, dass bei mittleren Mitarbeiterkosten (Außendienstmitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft) und einer Validität von .18 der Gewinn gegenüber einer Zufallsentscheidung bei 430 € pro Einstellung liegt (...). Wenn dies auf die Millionen Arbeitsplätze hochgerechnet wird, die in den USA jährlich besetzt werden, könnten Persönlichkeits­fragebögen jährlich Milliarden Dollar erwirtschaften
(Asendorpf, ebd. S. 169 f.)


Auf die Idee zu kommen, unterschiedliche Eigenschaften miteinander zu korrelieren, ist für sich gesehen ein beachtlicher Akt der schöpferischen Phantasie und sonst einmal nicht viel mehr. Wenn es stimmt, dass Persönlichkeits­fragebögen jährlich Milliarden Dollar einsparen, wäre das allerdings in der Tat eine erhebliche reale Geltung, die sich bei psychiatrischer Diagnostik, bei Optimierungen des Einsatzes von Ressourcen und bei Vorhersagen fortsetzt. Es sind jedoch wie am Warenmarkt Machtverhältnisse, die diesem Akt der Phantasie reale Geltung verschaffen. Marx hat das für den Warenmarkt bereits im 19. Jahrhundert plausibel machen können. Es ist geradezu eine Definition von Machtverhältnissen, dass darin ungleiches vergleichbar wird. Das wäre ein Gedankengang, den ich hier wenigstens andeuten möchte.

Der Blick der Persönlichkeitspsychologie und der anderen heutigen empirischen Sozialwissenschaften sieht den Menschen, - das dürfte deutlich geworden sein -, nicht als besonderes Individuum, als Gegenüber, als den 'Nächsten', mit dem ich zusammenlebe. Sie beschreibt vielmehr Grundgesamtheiten, Teilaspekte quantifizierter Mengen von Menschen und wendet sich beschreibend ausschließlich den Aspekten des Einzelnen zu, die sich mit den entsprechenden Aspekten der Menschenmengen vergleichen lassen, sei es, um die Mengen präziser zu bestimmen, sei es, um den Einzelnen in diesem Vergleich zu beurteilen.

Ein solcher Blick hat eine lange Vorgeschichte. 2700 v.Chr. im alten Ägypten und im China der Xia-Dynastie (ca. 2000 v.Chr.) finden sich sehr früh Volkszählungen. Rom zählt regelmäßig seine Bevölkerung. Für Kanalbau, für Pyramidenbau, die Aufstellung eines Heeres oder als Basis der Steuererhebung braucht man amtliche Listen und Menschenmassen. Für ein indigenes Volk wie den Yanomami hingegen, das mit ca. 30.000 Menschen den Oberlauf des Orinoko bewohnt und Brandrodungs-Feldbau betreibt, würde so etwas wie ein quantifizierender Blick auf Menschenmassen keinen Sinn machen. Der Blick auf Menschen als Ressource hat historische Voraussetzungen, umschreibt geschichtliche Produktionsverhältnisse und erfordert Feindifferenzierungen, denen ich hier im einzelnen nicht nachgehen kann. Wurde beispielsweise in Ägypten und China der Souverän von vorn herein als Gott betrachtet, so tritt dynastische Macht im Absolutismus, in dem der europäische Blick auf den Menschen als massenhafte Ressource neu entsteht, weitgehend säkularisiert auf. Offenbar folgt der Blick auf den Menschen als Masse, wo er entsteht, nicht ein und der selben Genealogie. Formen rudimentärer Sozialfürsorge können in feudalen Schutzpflichten, in Misericordia, religiöser Barmherzigkeit, verwandtschaftlicher Verpflichtung oder persönlichen Loyalitäts-Pflichten gründen, ohne die Sorge um eine Ressource in den Mittelpunkt zu stellen, die aus Gründen des Machterhalts zu bewirtschaften wäre. Der Blick, der in einer Ansammlung von Menschen nicht nur das Volk, die Gemeinde oder den Feind, sondern primär die Ressource sieht, unterliegt geschichtlichen Bedingungen.

Die Geschichte der amtlichen Statistik ist offenbar eng verbunden mit der Geschichte dieses Blicks. Das statistische Wissen wird die längste Zeit, mehr oder weniger durchgängig bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein, als strategisches Geheimwissen der Regierungen betrachtet, als etwas, das sie schwächen würde, wenn es in die Hände konkurrierender Mächte geriete.

(Foucault schreibt am Ende von Die Ordnung der Dinge:

»Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form und Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des 18. Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«,

Ich würde ergänzen wollen, dass das Bild nicht nur des Menschen, sondern auch der anonymen Masse ein ebenso vergängliches Bild darstellt, dessen Erscheinen sich ebenfalls datieren lässt und dessen Kulte sich beschreiben lassen. Historisch gesehen scheint das Bild der Masse als Ressource das von Foucault gemeinte Bild des Menschen zu umschließen, etwas früher – im Absolutismus und Merkantilismus des 16. Jahrhunderts - zu beginnen und – noch weiß man es nicht - etwas später zu enden.)

Als 1648 der 30-jährige Krieg zu ende geht, versuchen Absolutismus und Merkantilismus, mit dem regelmäßigen Finanzbedarf einer wachsenden Beamtenschaft und stehender Heere fertig zu werden. Staatliches Handeln erfolgt von nun an nach den Grundsätzen der "Staatsraison". Der Einzelne wird Untertan. Die Begründung dafür erhält der Staat durch die von Macchiavelli vorbereitete Idee der "Souveränität"(summa potestas). Zur bewussten Fundierung der politischen Macht durch die Wirtschaft und umgekehrt zum Einsatz politischer Macht für wirtschaftliche Zielsetzungen bedarf der Staat quantitativer Planungsgrößen. Ein Mittel dazu ist die Statistik, die schnell wachsende Bedeutung erringt. So kommt es seit dem 17. Jahrhundert nach und nach zur Ausbildung einer Bevölkerungs-, Gewerbe-, Finanz- und Handelsstatistik. Statistisch-mathematische Methodik entwickelt sich parallel dazu. Als Geburtsstunde der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt der Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat im Jahr 1654.

Der Blick auf das Volk hat sich also in den Blick auf eine Ressource verwandelt. Nach der Halbierung der Bevölkerung in großen Teilen Deutschlands durch den 30-jährigen Krieg kommt es zu entfalteten Formen von Biopolitik, „Peuplierung“, massiver Förderung der Einwanderung, zur Gründung von Waisenhäusern aus bevölkerungspolitischen, nicht aus karitativen Gründen. Die Bevölkerung erscheint als Untertanen-Verband. Genossenschaftliche Zusammenschlüsse wie in selbstverwalteten Städten des Mittelalters verlieren ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Vorstellung vom Menschen als wesentlich vernünftigem und freiem Wesen ist demgegenüber ein Kind der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts. Und wenn der Mensch ab dann als ein freies Wesen verstanden wird, wenn auch vielleicht nicht wesentlich weiter, als es ihm seine bürgerlichen, finanziellen Möglichkeiten erlauben, reicht es zur Bewirtschaftung der Ressource Mensch nicht mehr, Listen zu führen und den äußeren Zustand des Volks zu beschreiben. Denn ein Volk, das aus freien Menschen besteht, ist nicht einfach passiv lenkbar und bewirtschaftbar wie ein Acker, sondern es weist innere Kräfte auf, die sich zu untersuchen lohnen. August Comte, geboren im Jahr der französischen Revolution 1789, denkt an eine „soziale Physik“, die zu entdecken sei und die er Soziologie nennt.

Die Persönlichkeitspsychologie, die sich weitere hundert Jahre später entwickelt, bietet einerseits die Assistenz für Planungsentscheidungen, die die Statistik den Administrationen seit dem Absolutismus zunehmend bietet, jedoch nunmehr auch als laizistische Seelenbewirtschaftung, die die äußeren statistischen Merkmale des Menschen, Alter, Geschlecht, Stand, Ausbildung ins Intime hinein abrundet. Dass sie Geltung bekommt, setzt mindestens voraus: Der Mensch muss als Ressource gesehen werden und im Hinblick auf Kosten und Verwendbarkeit dieser Ressource muss sein Charakter, sein Innenleben relevant sein, denn die Persönlichkeits­psychologie richtet sich nicht an den Befragten, sondern an die, die ihn verwalten, versorgen oder einsetzen. Sie ist einer von einer ganzen Reihe von Versuchen, so etwas wie die menschliche Freiheit, die Fähigkeit, sich zu entscheiden, empirisch in den Griff zu bekommen.


Transzendentale Schein-Alternative

Im Gegenzug wäre hier ein Wort zur Spieltheorie zu sagen, die versucht, Handlungsfreiheit gerade nicht empirisch, sondern logisch-transzendental zu bewältigen. John von Neumann und Oskar Morgenstern machten sich mit ihrem bahnbrechenden Buch Games and Economic Behavior 1944 für eine Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften stark und empfahlen, ökonomische Theorien um strategische Kalküle zu erweitern. Sie argumentierten, dass die meisten ökonomischen Probleme strategische Probleme sind, bei denen die Marktteilnehmer auch die Aktionen der anderen Akteure in ihre Entscheidungen einbeziehen müssen, da ihre Zielgrößen auch von deren Aktionen abhängen. So können beispielsweise der Zentralbankpräsident, der Wirtschaftsminister und die Tarifparteien in einer Volkswirtschaft als Spieler in einem Spiel aufgefasst werden (ganz unabhängig von empirischen Unwägbarkeiten wie ihrem Innenleben). Die Spieltheorie fragt dann zum Beispiel danach, wie unterschiedliche Ausgestaltungen der Vertragstexte durch unterschiedliche Anreize zu unterschiedlichem Verhalten der Vertragspartner führen. Die Spieltheorie unterstellte zunächst, dass alle Spielteilnehmer rational handeln und über vollständige Information das Spiel betreffend verfügen. Als das trug die Spieltheorie einen stark apriorischen Zug. In der weiteren Entwicklung wurden jedoch verstärkt auch solche Situationen unvollständiger Information und Lernsituation Gegenstand der Theorie, in denen vollständig rationales Verhalten offensichtlich unmöglich ist. Die Spieltheorie sieht sich heute als Theorie, die jede Art von sozialen Konfliktsituationen zu analysieren und in der Konsequenz des Gedankens zu beherrschen erlaubt. Die Spieltheorie kann die Grenze nicht bestimmen, bis zu der Konfliktsituationen mit Spielen überhaupt vergleichbar sind und sich die Kontrahenten an beschreibbare Regeln halten.

Es scheint bei der Außenansicht auf die menschliche Freiheit ein Dilemma zu bestehen zwischen Theorien, die im Grunde transzendental-logisch argumentieren wie der Spieltheorie und empirischen Theorieansätzen, die den Preis einer Simplifizierung zu zahlen haben, die bis hart ans Absurde geht wie im Fall der big five.


Das Nadelöhr ist durchschritten

Inzwischen sind die big five allerdings nicht mehr auf dem technisch neuesten Stand. Erinnert sei an das Nadelöhr bei ihrer Entwicklung: Es bestand darin, dass sich 18.000 Eigenschaften nicht vollständig korrelieren lassen, weil man nicht Tausende oder gar Millionen Menschen jeweils 18.000 mal befragen kann. Im wesentlichen wäre das ein Erfassungsproblem und in der Folge ein Rechenproblem. Als das gehört das Nadelöhr im Prinzip der Vergangenheit an, wenn man auf die Größenordnungen von Daten schaut, die heute durch Internetnutzung, Kreditkarteneinsatz und in der Telefonie anfallen. Es scheint ziemlich sicher, dass sich die Sozialwissenschaften damit auf eine neue Grundlage stellen lassen, sofern die neuen Datenpools nicht das Schicksal der Statistik bis ins 19. Jahrhundert teilen und als Geheimsache betrachtet werden. Öffentlicher Zugang besteht gegenwärtig nicht.

Heute stehen wir, Zugang vorausgesetzt, eher wieder vor der intellektuellen Herausforderung der Synthese all dieser Information. Die Wandlung von Qualität in Quantität ist so unheilig und im Grunde unplausibel wie zuvor. Wie gesagt: Alle Reflexionsaussagen über Qualitäten sind notwendigerweise logisch ›unscharf‹. In der Warenwelt hat die Quantifizierung nicht nur qua Preis, sondern auch qua begrenztem Sortiment, also der Begrenzung der Wahlmöglichkeit eines jeden auf ein ordinales Set von Produkten, wenn auch auf eins, das weit mehr Möglichkeiten bietet als die des Fragebogens von 1 bis 5, längst stattgefunden und wird außerdem voll dokumentiert und ist als das sogar einzelnen Konsumenten zurechenbar. Vielleicht können wir über kurz oder lang auf die reduzierende Beschreibung von Persönlichkeits­merkmalen, ja überhaupt auf Persönlichkeitsmerkmale gänzlich verzichten. Denn war es nicht Sinn der big five, Wahrscheinlichkeiten von zu erwartendem Verhalten zu bestimmen? Dazu werden wir das Konstrukt 'Persönlichkeit' in Zukunft vielleicht nicht mehr brauchen. Denn wir sind bei der Seelenbewirtschaftung und der Kenntnis von Regelmäßigkeiten des individuellen Verhaltens durch die Analyse des Internet-, des Kaufverhaltens und der Reisetätigkeit und der Fülle sonstiger bereits ständig aktueller Daten zu einzelnen Menschen bereits viel weiter.

Und ungenügend reflektiert ist nach wie vor der Traum, all das lasse sich beherrschen. Diese Reflexion hätte ihren Ort in Literatur. Wenn nötig wieder mittels des gesamten Lexikons.


1) »Der Vorwurf von Praktikern an die Sozialwissenschaft lautet häufig, sie produziere entweder Banalitäten, die jeder Praktiker ohnehin schon lange wisse, oder die Ergebnisse seien völlig praxisfern. In dieser Hinsicht haben es die Sozialwissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften heute besonders schwer. Eine Wissenschaft, die sich mit dem Erleben und dem Verhalten von Menschen beschäftigt, betritt ja kein Neuland; sie tritt in Konkurrenz zu vorhandenem Alltagswissen, zu bereits vorhandener Alltagserfahrung. Das in der Menschheitsgeschichte in Jahrtausenden angesammelte Wissen ebenso wie das in der Entwicklungsgeschichte jedes Individuums – in seinem ganzen bisherigen Leben - kumulierte Alltagswissen zeichnen sich gerade durch einen hohen Grad an praktischer Bewahrung im Alltag aus: Was sich da an Wissen und Erfahrung angesammelt hat, muss zwar nicht unbedingt richtig sein (im Sinne von exakter Übereinstimmung mit der Realität), aber es "funktioniert", d.h. es hat sich in der Bewältigung von Alltagsaufgaben als hilfreich erwiesen.« (Helmut Kromrey, Empirische Sozialforschung, Opladen 2002, S.16) …

... bewährt, aber nicht richtig? Wer spricht hier und von woaus erreicht uns diese Stimme?





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