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Was macht Beweise zwingend?

Michael Seibel • Logisch formales und wissenschaftliches Beweisen zwischen reiner Form, Diskurs und Wahrnehmung, Selbstbezüglichkeit und fakenews   (Last Update: 30.03.2020)

Ein Beweis ist eine stichhaltige, zwingende Begründung für die Wahrheit einer Behauptung. Eine Behauptung hat immer sprachliche Form. Ein Beweis nicht unbedingt. Man kann durchaus beweisen, dass ein Krug zerbrechlich ist, indem man ihn zerbricht. Dadurch hat man allerdings nicht bewiesen, dass der nächste Krug ebenfalls zerbrechlich ist. Der Beweis hat also genau das vernichtet, dessen Eigenschaft er bewiesen hat.


Nicht-sprachliche Gründe lassen sich normalerweise durch ihre sprachliche Artikulation ersetzen. Die eigentliche Domäne des Beweisens, der gedankliche Übergang vom Exemplar zum Allgemeinen oder umgekehrt, für das es einsteht, oder der axiomatische Nexus, in dem rein deduktiv argumentiert wird, sind ganz und gar sprachliche Gebilde. Jedenfalls trägt der brachiale Beweis durch Zerschlagen nicht viel bei zu der seit den alten Griechen so heiß begehrten kognitiven Eroberung des Allgemeinen. Man wird also die Zerbrechlichkeit eines bestimmten Kruges einem gewissen Maß an Beobachtung und Übung nur mehr rein sprachlich durch einen Schluss beweisen. Das hat den Vorteil, dass es den besonderen Krug nach dem Beweis noch gibt und also die Behauptung den Gegenstand nicht verliert, um den sie sich dreht. Vorausgesetzt, der Krug ist beim Beweis seiner Zerbrechlichkeit überhaupt wirklich der Gegenstand des Beweises und nicht z.B. wie beim Tatsachenbeweis vor Gericht etwas ganz anderes, wie etwa beim Vorzeigen der Bruchstücke des Krugs durch Frau Marthe. Denn dabei geht es ja bekanntlich nicht um die Zerbrechlichkeit des Krugs, sondern um die Zerbrechlichkeit der Ehre von Frau Marthes Tocher Eva.


Wenn von Proponent und Opponent übereinstimmend als wahr anerkannt wird, dass alle Objekte aus dünnem Ton zerbrechlich sind und außerdem von beiden zugestanden wird, dass der besondere Krug, um den es geht, aus dünnem Ton ist, dann kann der Schluss, dass der Krug zerbrechlich ist, von keinem von beiden mehr mit Grund bezweifelt werden. Dieser Schluss hat also zwei empirische, genaugenommen historische Prämissen, da sie den Beweis erst von dem Zeitpunkt an möglich machen, ab dem sie zugestanden werden. Darüber hinaus erfordert der Beweis ein logisches Schlußverfahren.1 Alle drei Elemente müssen übereinstimmend als gültig anerkannt werden.

Selbstverständlich ist dünner Ton unter gleichen Bedingungen jederzeit und überall zerbrechlich, und natürlich scheint der Mond am Himmel auch dann, wenn niemand hinschaut und war die Erde auch bereits vor Galilei rund. Und natürlich gelten mathematische Beweise unabhängig von der Zeit. Aber so ewig gültig und so unabhängig von sozialem Konsens der Beweis auch erscheint, Beweise sind eine besondere Art von Aussagen, und als Aussagen machen sie letztlich nur in Diskursen Sinn. Für die formale Logik, die Mathematik und allgemein für Ordnungswissenschaften gilt das genauso. Im Hintergrund steht auch hier immer so etwas wie der Verdacht, dass ein Dorfrichter Adam einer Eva zu nahe treten könnte. Nur heißt das im Rahmen reiner Logik anders. Die Behauptung, dass ein Beweis, welcher auch immer, überhaupt gilt, und dass er am Ende sogar zeitunabhängig gilt, ist eine andere Art zu behaupten, dass Ordnungen bestehen, indem man zugleich behauptet, dass sie sich auch bestimmen und mithin verstehen lassen.

Ich möchte an dieser Stelle unterscheiden zwischen dem Bestehen einer Ordnung und der Beschreibung einer Ordnung. Wer z.B. einen Schwarm Vögel beobachtet, kann auf die Idee kommen, das, was er da sieht, als eine Ordnung zu beschreiben. Muss er aber nicht. Er kann es auch ganz anders beschreiben. Ob er das Wahrgenommene als Ordnung beschreibt oder nicht, ändert am Wahrgenommenen ja zunächst einmal nichts. Etwas als Ordnung zu beschreiben ist eine besondere Art und Weise, sich in Diskursen auf Wahrnehmungen zu beziehen. Dies vorausgesetzt ist ein Beweis nichts anderes als die Lieferung bündiger Kriterien, die es erlauben, Ordnung und Unordnung zu unterscheiden, es seien die Ordnungen von Vogelschwärmen oder was auch immer.

Man bemerkt folgenden Unterschied: etwas als Ordnung zu beschreiben referiert auf eine Wahrnehmung. Etwas zu beweisen referiert logisch nicht mehr auf eine Wahrnehmung, sondern auf eine sprachliche Beschreibung und deren Form. Logik geriert sich, als bestehe für sie letztlich kein Bezug zur Wahrnehmung. Logik tritt einen distanzierenden Schritt von der Wahrnehmung zurück. Das ist es, warum sie mit Richtigkeit statt Wahrheit auskommt. Aus dieser Distanz erscheint jegliches Wahrgenommene entweder als abstrakte Einheit oder als Variable. Wo ihre Weltlosigkeit all zu drückend wird, muss sie nacharbeiten und doch wieder zumindest der Form halber zulassen, dass es eine Welt, die sich möglicherweise wahrnehmen lässt gibt, wenn z.B. die Modallogik den Existenzquantor einführt. Das dürfte ihr erhalten bleiben.


Und was den Diskurs angeht, so neigen Ordnungswissenschaften dazu, dem Anderen eigentlich keine andere Rolle mehr einzuräumen, als Häkchen hinter jeden einzelnen Beweisschritt zu machen und dessen Richtigkeit zu bestätigen. Wie Logik dazu neigt, die Wahrnehmung auszuklammern, neigt sie dazu zu vergessen, dass sie grundsätzlich in Diskursen beheimatet ist. Aber plötzlich, ganz unerwartet, braucht sie den Anderen wieder als Instanz, der sie vor ihrer eigenen Überdrehtheit erretten muss, wenn ihr Gödel gerade bewiesen hat, dass sie in genau dem Moment unvollständig und sozusagen in einem Zustand des Zweifels ist, wenn sie mit sich und ihrer Abstraktheit allein ist. (Weiter unten kommen wir darauf zurück.) Herausgerettet haben sich die Logiker durch den Versuch, ihre eigene Hermetik durch weitere Mauern gegen den Kollaps abzusichern, mit Typentheorien und Logiken höherer Stufe. Vom Diskurs läßt man wieder etwas zu, nämlich den Gedanken einer anderen Instanz. Letztendlich ist es nichts anderes als der Diskurs, der das formallogische Denken und wahrscheinlich auch jedes andere Denken vor der reinen Selbstbezüglichkeit rettet. Das dürfte ihr ebenfalls erhalten bleiben.


Es bleibt aber dabei, dass ein Beweis immer eine Form von Argumentation zwischen Proponent und Opponent ist. Wer mit einem Beweis argumentiert, zeichnet die dadurch bewiesenen Aussagen gegenüber allen ihnen widersprechenden Aussagen kategorisch aus. Natürlich kann man auch weiterhin alles mögliche behaupten und 'unordentlich' argumentieren. Demjenigen, der den Beweis als gültig anerkennt, verbietet sich das fortan jedoch in sämtlichen Diskursen, in denen es um Wahrheit geht.


Was nun allerdings dazu zwingt, solche Diskurse um Wahrheit überhaupt zu führen und keine Smalltalks, ist selbst nicht Gegenstand irgendeines Beweises, sondern transzendente Voraussetzung jeder reinen Ordnungswissenschaft wie der Mathematik oder der formalen Logik. Eine, wenn auch nicht die einzige Ausprägung dieser Voraussetzung ist die Daseinsvorsorge. Sie liefert einen Grund, das Wahre dem Unwahren gegenüber zu favorisieren. Offenbar ist aber oft auch einfach die abstrakte Beschäftigung mit Ordnungen, ihre reine Betrachtung interessant genug. Man kann sich vorstellen, dass es nicht jedem Mathematiker um Daseinsvorsorge geht. (Ich denke an Georg Cantors wunderschönen Satz: „denn das Wesen der Mathematik liegt gerade in ihrer Freiheit.“2)


Wie dem auch sei, macht ein Beweis die gegenteilige Rede für den, der den Beweis gelten lässt, nicht nur falsch, sondern damit auch sinnlos und in gewisser Weise unverständlich. Es ist, sofern die Gültigkeit eines Beweises akzeptiert wird, schlichtweg unmöglich, der Rede von jemandem, der sich nachgewiesenermaßen irrt und sich standhaft weigert, einen gültigen Beweis nachzuvollziehen, das selbe Maß an Geltung zuzubilligen wie dem, der die Wahrheit sagt. Das gilt auch für alle Ordnungswissenschaften, die von der Platzierung von Beweisen in Diskursen völlig absehen. Gerade auch sie machen den Beweis zum grundlegenden Sinnkriterium überhaupt und betrachten den Widerspruch als sinnlos, es sei denn, er selbst wird wie beim indirekten Beweis wieder zum Bestandteil eines Beweises.

Der Proponent, der etwas behauptet, kann von demjenigen, dem gegenüber er seine Behauptung aufstellt, beweispflichtig gemacht werden. Stets dient ein Beweis dazu, den mit einer Behauptung erhobenen Wahrheitsanspruch einem anderen gegenüber, wer es auch sei, einzulösen. Mittels eines gelungenen Beweises lässt sich, soweit dieser reicht, Einverständnis erzielen. Einverständnis erzielen lässt sich allerdings auch auf andere Weise, z.B. durch einfache Zustimmung zu einem Vorhaben oder zu ästhetischen Urteilen, die weder beweisbar, noch widerlegbar sind. Ein Beweis hat dagegen zwingenden Charakter. Es gibt Beweise contre cœur wie etwa, wenn Unterlagen beweisen, dass gegen jemand berechtigte Forderungen bestehen oder bei Beweisen vor Gericht. Und es gibt Beweise, die das Fassungsvermögen desjenigen, dem gegenüber sie vorgebracht werden, schlichtweg übersteigen. Wer zweifelt, der mutmaßt Willkür. Beweise antworten nicht nur auf Zweifel, sondern ebenfalls auch auf Willkür. Beweise reklamieren Unterworfenheit unter Ordnung über Schuld und willkürfreies Maß. Wer sich eines Beweises bedient, besteht auf der Identität von Wahrheit und Geltung zumindest im Denken. Er zwingt sich selbst, darauf zu beharren, wenn das Gespräch darauf kommt und fordert sie von daaus im Sozialen.


Jeder Beweis ist ein sozialer Akt, mit dem versucht wird, von Behauptungen aus, in bezug auf die bereits Übereinstimmung besteht, weiteres Einverständnis über kontroverse Behauptungen zu erzwingen. Von diesem sozialen Aspekt lässt sich allerdings absehen. Man kann sich problemlos einsame Denker vorstellen, die sich bemühen ein bestimmtes Kalkül Schritt für Schritt zu verstehen, was nichts anderes heißt, als Ordnungen als Ordnungen entlang von Regeln zu verstehen. Man kann sich auf die Untersuchung des Kalküls selbst beschränken, vollkommen unabhängig davon, ob und was damit erreicht werden soll. Aber spätestens in dem Augenblick, in dem man eine Aussage als bewiesen auffasst, wird man rechenschaftspflichtig. Jeder Beweis definiert einen möglichen sozialen Zustimmungsraum. Der Beweis erlaubt es, mit beliebigen anderen, die die selben Prämissen akzeptieren, zum gleichen Urteil über Meinungen in der Sache zu kommen, wo immer sie vorgebracht werden, wie auch über die, die sie äußern. Nach dem Beweis sind für abweichende Meinungen Preise fällig, die in einer Gemeinschaft von Menschen zu zahlen sind. Der Beweis erfindet mit der Wahrheit und Unwahrheit zugleich Ignoranten und Verständige, Trottel und Hochbegabte, Wahrhaftige und Verschlagene.


Heute herrschen im Grunde zwei Modi des Beweisens vor, die Regeln der formalen Logik und die evidenzbasierten Wahrscheinlichkeiten der empirischen Wissenschaften.



Beweisbarkeit - logisch


Zunächst die Logik. Wenn man alle sozialen Verbindlichkeiten wegnimmt, die der Kredit eingeht, den die Wahrheit mit dem Beweis aufnimmt, bleibt auch vom strengsten Beweis nicht das geringste übrig, außer eines Spiels mit Symbolen, das man spielen kann oder eben nicht. Dies genau ist das Spiel der formalen Logik. Überraschenderweise zeigt allerdings auch sie, wie aus zufälliger Kombinatorik Notwendigkeiten entstehen. Und zwar etwa folgendermaßen:


Die Möglichkeit, einen Beweis zu führen, setzt eine vorgängige Verständigung über die Bedeutung der behaupteten Sätze voraus. Selbstverständlich kann jeder Beweis bezweifelt werden, aber eben nur solange, wie sich darüber streiten lässt, was die Bedingungen seiner Geltung sind oder, falls wenigstens darüber Konsens besteht, solange bestritten wird, dass die Bedingungen seiner Geltung sicher erfüllt sind.


Die formale Logik strebt nun unüberbietbare Exaktheit an, was nichts anderes heißt, als dass sie anstrebt, jede Bezweifelbarkeit von Beweisen aufgrund unklarer Geltungsbedingungen schlichtweg auszuschließen. Formallogische Beweise haben jeglichen sozialen Charakter gründlich abgelegt. Es darf einfach niemand mehr ins Spiel treten, der etwas bestreiten könnte und es darf um nichts bestimmtes mehr gehen, über das sich streiten ließe. Das wird dadurch erreicht, dass formale Systeme definiert werden, die die Menge der wohlgeformten Formeln und Aussagen eindeutig festlegen, eine Menge von Axiomen und eine Menge von Schlussregeln. Wichtig ist dabei, dass die Korrektheit eines Beweises dann im formalen System auf mechanische Weise nachgewiesen werden kann. Gedanklich umsetzen lässt sich das später mit Turingmaschinen, real mit jedem Computer. Greifen wir stellvertretend Gödels berühmten Königsberger Aufsatz von 1930 heraus. Er formuliert dort:


„Die Formeln eines formalen Systems (...) sind äußerlich betrachtet endliche Reihen der Grundzeichen (Variable, logische Konstante und Klammern bzw. Trennungspunkte) und man kann leicht genau präzisieren, welche Reihen von Grundzeichen sinnvolle Formeln sind und welche nicht. Analog sind Beweise vom formalen Standpunkt nichts anderes als endliche Reihen von Formeln (mit bestimmten angebbaren Eigenschaften). Für metamathematische Betrachtungen ist es natürlich gleichgültig, welche Gegenstände man als Grundzeichen nimmt, und wir entschließen uns dazu, natürliche Zahlen als solche zu verwenden. Dementsprechend ist dann eine Formel eine endliche Folge natürlicher Zahlen und eine Beweisfigur eine endliche Folge von endlichen Folgen natürlicher Zahlen. Die metamathematischen Begriffe (Sätze) werden dadurch zu Begriffen (Sätzen) über natürliche Zahlen bzw. Folgen von solchen und daher (wenigstens teilweise) in den Symbolen des Systems selbst ausdrückbar (A.v.m.: Gödel betrachtet das System der Principia Mathematica (PM) und die Axiome der Zermelo-Fränkelschen Mengenlehre3). Insbesondere kann man zeigen, daß die Begriffe „Formel“, ,,Beweisfigur“, „beweisbare Formel“ innerhalb des Systems PM definierbar sind, d.h. man kann z. B. eine Formel F(v) aus PM mit einer freien Variablen v (vom Typus einer Zahlenfolge) angeben, so daß F(v) inhaltlich interpretiert besagt: v ist eine beweisbare Formel.“4

Hier geht es statt um Tonkrüge um Zahlen und Zeichen und statt um Proponenten und Opponenten um formale Systeme, die daraufhin untersucht werden, ob sie widerspruchsfrei, negationsvollständig, korrekt und vollständig beweisbar sind. Ein formales System heißt widerspruchsfrei, wenn eine Formel niemals gleichzeitig mit ihrer Negation aus den Axiomen abgeleitet werden kann. Ein formales System heißt negationsvollständig, wenn für jede Formel die Formel selbst oder deren Negation aus den Axiomen abgeleitet werden kann. Ein formales System heißt korrekt, wenn jede Formel, die innerhalb des formalen Systems bewiesen werden kann, inhaltlich wahr ist. Und es heißt vollständig, wenn jede Formel, die inhaltlich wahr ist, auch innerhalb des formalen Systems bewiesen werden kann.


Eine größere Indifferenz gegen jegliche ontische Bestimmtheit einerseits und gegen jegliche sozialen Schuldverhältnisse andererseits ist schlichtweg nicht denkbar. Es geht wie immer in Ordnungswissenschaften um die Beschreibung der Form von Ordnungen ohne jede Rücksicht auf etwas nicht Variables Besonderes, das zu ordnen wäre. Nochmals Gödel:


„Für metamathematische Betrachtungen ist es natürlich gleichgültig, welche Gegenstände man als Grundzeichen nimmt, und wir entschließen uns dazu, natürliche Zahlen als solche zu verwenden.“

… noch nicht einmal Zahlen als Quantitäten, sondern als abzählbare Reihenfolgen. Gödel beschreibt das überraschend anschaulich. Nehmt „endliche Reihen der Grundzeichen (Variable, logische Konstante und Klammern bzw. Trennungspunkte)“ und reiht sie irgendwie beliebig aneinander. Es geht eben nicht um Inhalte, sondern um beliebige Zeichen, die allerdings überraschenderweise nicht lange beliebig bleiben. Man muss sich das als eine Art Kinderspiel und als eine Suchaufgabe vorstellen. Man bildet Reihen aus beliebigen Zeichen. Man nummeriert sie durch. Sie müssen abzählbar sein. Keine soll später einfach verlorengehen. Wenn man das gut macht, entdeckt man unter all diesen Zeichenfolgen einzelne Folgen, die geeignet sind, Formeln auszudrücken und andere, die geeignet sind, Regeln auszudrücken, die angeben, welche Formeln sinnvoll sind und welche nicht und wieder andere, die Grundbegriffe, Axiome eines Ordnungssystems darzustellen.


„Gödel konnte zeigen, dass die Regeln und Axiome eines formalen Systems arithmetisch repräsentiert werden konnten und sich die symbolischen Manipulationen von Zeichenketten, wie sie bei der Durchführung formaler Beweise verwendet werden, auf die arithmetische Ebene übertragen lassen. Auf diese Weise gelang es ihm, metatheoretische Aussagen, wie z. B. die Frage nach der Existenz eines Beweises, in arithmetische Formeln hineinzucodieren. Das einzige, was Gödel hierfür benötigte, waren die Mittel der Peano-Arithmetik, d. h. die natürlichen Zahlen zusammen mit der Addition und der Multiplikation. Damit hatte er ein erstaunliches Phantomen entdeckt: Jedes formale System, das die Peano-Arithmetik umfasst, ist stark genug, um metatheoretische Aussagen zu formulieren, und damit implizit in der Lage, über sich selbst zu sprechen.“5


Es geht mir an dieser Stelle nicht darum zu zeigen, wie das im einzelnen geht, sondern nur darum zu erinnern, dass das geht.6 Was auf diese Weise passiert, ist das Notwendigwerden von Zufällen qua Selbstbezüglichkeit.


Bis hierher liegt Gödel auf einer Linie mit den Mengenlehrern seiner Zeit. Das Problem, auf das Gödel nun allerdings stößt und mit dem er 1930 die Welt der Mathematiker durcheinander bringt ist, dass es gegen das Hilbert-Progamm und gegen Freges jubilatorische Erwartung an eine vollständige Logik, die nichts mehr „dem Errathen überlassen“7 muss, in solchen axiomatischen Systemen Sätze gibt, die zugleich sinnvoll und dennoch nicht entscheidbar sind. Er formuliert seine Unvollständigkeitssätze:


„Jedes hinreichend mächtige, rekursiv aufzählbare formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig.“

und

„Jedes hinreichend mächtige konsistente formale System kann die eigene Konsistenz nicht beweisen.“

Zugleich mit dem Entstehen von Notwendigkeit aus Zufall entsteht also auch in der Logik Unbestimmtheit.



Beweisbarkeit - naturwissenschaftlich


Nun zum Beweis, wie die Naturwissenschaften ihn verstehen. Wie wird heute der Bogen von der Logik zu den empirischen Wissenschaften geschlagen?

Die gewöhnliche Alltagserfahrung hat als Wissen des Besonderen gleich eine ganze Reihe von Eigenschaften, die der Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse entgegenstehen. Erfahrung ist zunächst eine auf der Betätigung der Sinneswahrnehmung beruhende Erkenntnistätigkeit des einzelnen Individuums. Sie wird normalerweise unintendiert vollzogen und als etwas erlebt, das dem Individuum passiv widerfährt und aus dessen besonderer Perspektive oft irrtumsbelastet wahrgenommen und nach dessen persönlichen Kriterien und Vorurteile emotional, oft unbewusst und meist unreflektiert bewertet wird. Das geschieht oft höchst unpräzise mit dürftigen sprachlichen Mitteln. Badewasser ist einfach nur zu heiß und nicht 45° C. warm. Der nächste findet es erst mit 50°C heiß. So lassen sich individuelle Erfahrungen zunächst kaum verallgemeinern.


Wissenschaftliche Empirie folgt, so knapp wie möglich gesagt, der Idee, dass es so etwas geben kann wie intersubjektive Erfahrung. Darin steckt ein gewisser unauflösbarer Widerspruch, denn zu dem, was menschliche Erfahrung ausmacht, gehört gerade ihre Situiertheit, das unlösbare Ineinander von Wahrnehmung, Emotionalität und Bewertung. Aber eben auch Arbeitsteilung, Spezialisierung und die Herausbildung besonderer Kompetenz, ›empeiros‹ zu sein, erfahren, kundig, geübt, und besonders bewandert. Zur Ausrichtung auf das idealisierte Ziel objektiv gültigen Wissens ist es erforderlich, dass sich in welchem entwicklungsfähigen institutionellen Rahmen auch immer ein Erkenntniskollektiv herausbildet, das gewisse, ebenfalls entwicklungsfähige Richtlinien der Gewinnung und Verbalisierung von Erkenntnissen aufstellt, einhält und permanent revidiert. Historisch haben sich u.a. die Forderungen nach logischer Konsistenz, die Verwendung allgemein verbindlicher Maß- und Koordinatensysteme zur Beschreibung raumzeitlich lokalisierbare Phänomene und die Trennung von Beschreibung und Bewertung der Erfahrungsbestände als fixe Minimalanforderungen herausgestellt. Die sprachliche Beschreibung der Erfahrungstatbestände soll so weit wie möglich idiomatisiert und terminologisch gehalten sein. Wo immer dies möglich ist, ist eine semantische Anbindung an normierte apparative Hilfsmittel und standardisierte Messverfahren anzustreben. Außerdem müssen die Hintergrundannahmen, die bei Forschungsarbeiten angelegt werden, bewusst gehalten werden, da Erfahrung und Theorie sich wechselseitig bedingen und ständig zu reflektieren ist, in wieweit sich eine Datenlage aus singulären Beobachtungen verallgemeinern lässt. Ferner ist Wissenschaftshandeln nicht rein beobachtend, sondern auch experimentell intervenierend. Im Experiment werden gezielte, vornehmlich quantitative Variationen bestimmter isolierter Einflussgrößen, der unabhängigen Variablen, unter kontrollierten Bedingungen vorgenommen, um die dadurch hervorgerufenen Effekte auf andere Größen, Variablen, messen zu können. Das Ziel des Experiments liegt in der Ermittlung von Kausalzusammenhängen. Dass die unabhängige auf die abhängige Variable einen kausalen Einfluss ausübt, lässt sich mit größerer Sicherheit behaupten, wenn der Experimentalgruppe eine Kontrollgruppe zur Seite gestellt wird, in der diejenigen Einflussfaktoren konstant gehalten werden, die in der Experimentalgruppe manipuliert werden. Methodologische Norm bei Experimenten ist die Forderung nach ihrer Reproduzierbarkeit, um sich gegen Zufall und Manipulation zu schützen.


Diese kurze Darstellung kann zugleich als Beschreibung dessen dienen, was aus Sicht der Naturwissenschaften heute einen gültigen Wissensbeweis ausmacht. Naturwissenschaftliches Wissen geht auch nach Karl Popper davon aus, dass sich hypothetisch Netze von Kausalbeziehungen in der Natur oder zumindest im jeweils untersuchten Forschungsfeld formulieren lassen. Sie hat sich durchaus nicht erschrecken lassen, dass Verallgemeinerungen so gut wie nicht beweisbar, aber relativ leicht zu falsifizieren sind. Ob behauptete Kausalbeziehungen Bestand haben oder nicht, ist dann auf zwei Ebenen beweisbedürftig, einerseits darf die logisch-mathematische Konsistenz der theoretischen Postulate nicht in Frage stehen und andererseits muss das Netz der behaupteten Kausalbeziehungen von evidenzbasierten Wahrscheinlichkeiten als Ergebnis sauberer wissenschaftlicher Arbeit im obigen Sinn getragen werden. Im Kern ist diese Seite des Wissensbeweises eine zutiefst soziale Angelegenheit, denn sie besteht aus dem Nachweis, dass sich ein Kollektiv bestimmte, die gemeinsame Erfahrung betreffende Arbeitsregeln gegeben und sich daran gehalten hat.



zurück auf Anfang -
und ans vorläufige Ende


Abschließend noch einmal ganz weit zurückgeschaut an den Anfang aller Fragen wie an den der Geistesgeschichte: Eine bestimmte Frage darf man den meisten Wissenschaftstheoretikern gar nicht erst stellen, ohne sich anhören zu müssen, das sei doch nun wirklich völlig trivial und selbstverständlich. Sie lautet: Warum muss jemand, der etwas von der Welt verstehen will, in der er lebt, - also gerade auch der Wissenschaftler -, überhaupt logisch argumentieren, warum reichen nicht die ästhetische Schau und die Auswahl nach Belieben? Diese Frage macht so manchen instantan aggressiv. Man muss sich sogleich Beschimpfungen anhören, dass die Welt nun einmal kein Schlaraffenland ist und dass damit wohl alles gesagt sei.


Vom fundamentalem zwischenmenschlichen Geschehen zu erzählen, wie auch solchem Erzählen zuzuhören, setzt entsprechende Daseinserfahrung des Gewaltsamen, Widersprüchlichen, Abhängigen, aber auch des Geschützten voraus, wie sie Menschen in ihrer Umgebung zu allen Zeiten machen konnten. Der Satz vom Widerspruch, wie radikal er sich auch später über jede Erfahrung zum logischen Prinzip erhebt, dürfte Erfahrung artikulieren, und zwar in maximaler Distanz zu der Art, wie der Mythos sie artikuliert.. Irgendwann nicht nur in Mythen davon erzählen zu können, sondern gesellschaftliche Ordnung denken zu können, dürfte voraussetzen, überhaupt erst einmal einen Vorbegriff von Ordnung entwickelt zu haben. Die Vorstellung einer göttlichen Ordnung ist dabei historisch älter und damit Vorgänger sowohl jedes entwickelten Begriffs gesellschaftlicher Ordnung wie eines logisch-mathematischen Begriffs von Ordnung. Ordnungsvorstellungen entwickelten sich in der griechischen Philosophie seit den Vorsokratikern entlang der Entwicklung des anfänglich ausgesprochen vieldeutigen Gedankens des Grundes, der Kausalität, der arché. Dabei fällt auf, dass die großen Entwicklungsschübe beider Begriffe, des Begriffs gesellschaftlicher Ordnung, wie des logisch-mathematischen Ordnungsbegriffs sich mehr oder weniger zeitgleich ereignen, nämlich einmal bereits im klassischen Griechenland und dann erst wieder in der Moderne. Gesellschaftliche Synthesis zu denken ist heute mehr denn je untrennbar vom Entwicklungsstand der mathematischen Instrumente, sowie heute der logischen Mittel der Informatik und der Verfügbarkeit der Computertechnik. Ein Ökonom ist heute ohne die Stochastik ebenso aufgeschmissen wie ohne Computer. Gerechnet wird heute grundsätzlich, sobald es ein bisschen mehr sein darf, außerhalb des menschlichen Hirns. Und auch sowohl viele universelle wie problemspezifische Beweisverfahren werden heute von Computerprogrammen durchgeführt.


Was würde aus der Logik ohne ihren zwingenden Charakter, wenn es in Diskursen frei stünde, sich an logische Regeln zu halten oder nicht? Was bliebe vom logischen Denken gleich welchen Typs von Kalkül, wenn es einen kompletten sozialen Geltungsverlust erleiden würde? Logisches Denken wäre dann lediglich ein anderer Modus von Ästhetik. Man würde es erlernen oder nicht wie das Geigenspiel. Logik würde wieder zur freien Kunst, was sie bekanntlich im Mittelalter schon einmal war, als sie vom religiösen Denken dominiert wurde, das vorgab, wie weit genau man sich mit logischen Argumentationen vorwagen durfte. Warum ist es schwer vorzustellen, dass Logik auf einen solchen Status regrediert? Ist sie für viele Menschen nicht längst da angekommen? Zu meinen, dass das dem logischen Denken unter keinen Umständen passieren kann, weil sich die Richtigkeit von Beweisen nun einmal auf einer rein formalen Ebene herausstellt, halte ich für falsch. Wahrheit und Geltung sind letztlich nicht zu trennen. Geltung ist kein Zweites, das zu unbestreitbarer Wahrheit hinzukommt oder nicht. Der Gedanke, dass das Wahre selbst dann wahr bleibt, wenn es von jedermann bestritten wird, ist selbst ein Geltungsgedanken.

Logik, so wie wir sie kennen, ist nichts, was im Denken schlichtweg passieren muss. Was wäre, wen die Orientierung an Logiken gänzlich zur Sache von Maschinen würde und weniger Spezialisten, die mit ihnen auf dieser Ebene umgehen? Was wäre, wenn z.B. neuronale Netzwerke oder Technologien, die ihnen folgen werden, auf die Dauer Logiken ausprägen, die ohne Kausalitätsparadigmen und ohne den ständigen Rekurs auf den Satz des Widerspruchs auskommen und die selbst ihre Bediener nicht mehr wirklich durchschauen? Heute ist der Programmierer ein ebenso selbstverständlicher Beruf wie früher der Schuster. Die meisten Schuster sind inzwischen verschwunden, weil die Schuhreparaturen in aller Regel teurer sind als der Kauf eines neuen, fabrikgefertigten Schuhs. Das Schusterhandwerk hat sich in die Maschienn zurückgezogen. Nun gut, einige Snobs lassen sich ihre Schuhe noch maßschneidern. Selbst damit werden sie aufhören, sobald es nicht mehr Luxus und sozialen Vorrang symbolisiert, sondern nur noch Antiquiertheit. Dann werden auch die letzten Schuster verschwunden sein. Wie lange müssen wir wohl noch warten, bis das dem Programmiererhandwerk ähnlich ergeht. Was wäre, wenn Logiken im Wesentlichen nur mehr sozusagen in Maschinen flexibel verdrahtet vorkämen, so wie die Gene in der menschlichen Zelle, bevor auch nur ein Mensch sich darüber Gedanken gemacht hat? Es hat das Leben nicht weiter gestört. Ganz im Gegenteil. Warum sollte es sich vom Verschwinden der Logik in Maschinen stören lassen? Was wäre mit all den Menschen, die im Wesentlichen nur mehr im Konsum als einem leiblich-ästhetischen Geschehen Kontakt mit einer solchen maschinellen Welt hätte? Welchen Bezug hätten sie dann zu spezifisch logischem Denken? Welche Formen des Beweisens würden ihnen dann noch etwas sagen? Selbst wenn wir heute noch nicht wissen, welche Formen das genau wären, ist doch soviel absehbar: es wären vermutlich wiederum Formen der sozialen Identifikation, nur eben andere.

Es geht mir bei diesem Gedanken gerade nicht um science-fiction, sondern immer noch um Aufklärung, denn meiner Meinung nach betreiben diejenigen eine Art negative science-fiction, die solche Fragen als Unmöglichkeiten ausschließen und sind nicht besser als die, die meinen irgendetwas davon heute schon abschliessend beantworten zu können. Sie sind es, die meiner Meinung nach ihrer Phantasie einen all zu freien Lauf lassen. Was wäre also, wenn es gelänge, den Menschen wirklich komplett aus der Logik herauszuhalten, wie es sich Logiker, der Strenge wegen, seit Jahrhunderten wünschen?

Ordnungen verstehen, Spaßgesellschaft, fake und fact, aber auch große Freiheit und Cantors Schritt auf das Unendliche zu: die Sache mit dem Beweis hat viele nicht nur formale, sondern auch soziale Gesichter. Die meisten davon sind hinter seinem formalen Charakter maskiert.




Anmerkungen:

1 Genaugenommen ist das synthetische Urteil, dass alle dünnen Tonkrüge zerbrechlich sind, weder beweisbar noch widerlegbar. Es gilt natürlich nur solange, wie niemand unzerbrechlichen Ton gebrannt hat, und ob solch ein Krug wirklich unzerbrechlich ist, gilt nur solange, wie niemand eine wirksamere Methode gefunden hat, ihn zu zerstören.

2 Georg Cantors, Gesammelte Abhandlungen, Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten, Berlin Heidelberg 1932, S.182

3 Stegmüller nennt das System, auf das sich Gödel bezieht, das System ZL, Zahlentheorie plus Logik. (vgl. Wolfgang Stegmüller, Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit, Die metamathematischen Resultate von Gödel, Church, Kleene, Rosser und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung)

4 Gödel, über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I

5 Dirk W. Hoffmann, Grenzen der Mathematik, Eine Reise durch die Kerngebiete der mathematischen Logik, Heidelberg 2011, S. 201 f.

6 Wer es nachvollziehen möchte, sei verwiesen auf: Wolfgang Stegmüller, Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit Die metamathematischen Resultate von Gödel, Church, Kleene, Rosser und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Wien 1959 oder auf die sehr gut lesbare Darstellung von Dirk W. Hoffmann, Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze, Berlin Heidelberg 2013

7 Gottlob Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, Hildesheim, Zürich, New York , 1993, S.11

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