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Heidegger und „die schwarzen Hefte“

Michael Seibel • Wann ein Text faschistisch ist und wann eine Person   (Last Update: 13.04.2014)



Thomas Assheuer schreibt in DIE ZEIT online 27. Dezember 2013:
"Er spricht vom Rasseprinzip" Nach seinen jetzt bekannt gewordenen Ausfällen gegen die Juden lasse sich Heidegger nur noch schlecht verteidigen.
Aber muß es, wenn man wie wir Heideggers Rede über den Satz von Grund liest, darum gehen, Heidegger zu verteidigen? Assheuer schreibt – und ich lese mit. Anmerkungen in Doppelklammern von mir:

»Heidegger, den viele für den genialsten Denker seiner Epoche halten, war ein bekennender Nazi. Der Mann, dessen Buch Sein und Zeit "das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels Phänomenologie darstellt" (Jürgen Habermas), war ein ergebener Verehrer Hitlers und bot sich an, den "Führer zu führen". Heidegger bescheinigte dem Nationalsozialismus eine "innere Wahrheit und Größe", er feierte Hitler als charismatischen Retter und Überwinder der "Seinsvergessenheit".

Aber wie weit reichte Heideggers faschistisches "Engagement"? War es bloß eine "Verirrung", oder zieht sich ein brauner Faden auch durch sein philosophisches Werk ((Dazu müsste das Werk im einzelnen behandelt werden, was der Autor natürlich nicht tut.))? War Heidegger, wie der Philosoph Edmund Husserl behauptete, ein überzeugter Antisemit? Und wenn ja – warum hatte er dann so viele berühmte jüdische Schüler?

Immer wieder haben sich an Heideggers Beziehung zum Nationalsozialismus leidenschaftliche Kontroversen entzündet, und nun gibt es wieder eine: Anfang März werden im Frankfurter Verlag Vittorio Klostermann die Schwarzen Hefte erscheinen, Heideggers philosophische Notate, die er 1931 begonnen und für den Abschluss der Werkausgabe vorgesehen hatte. Herausgeber ist der Wuppertaler Philosoph Peter Trawny, der sich für Heideggers Modernekritik interessiert und ein hinreichend aufgeklärtes Verhältnis zu dessen Werk pflegt. Doch die judenfeindlichen Ausfälle in den Heften schockierten ihn so sehr, dass Trawny – auf Diskretion vertrauend – seinen französischen Kollegen einige Auszüge vorab zur Kenntnis brachte ((Bettgeflüster!)).

Trawny konnte nicht ahnen, dass französische Forscher, allesamt treu ergebene Heidegger-Verehrer, einige Zitate kursieren ließen, gleichsam nach dem Motto: Wenn es schon einen Heidegger-Skandal gibt, dann wollen wir ihn wenigstens selbst inszenieren ((aufgeregtes Bettgeflüster!)) (SZ vom 11. 12. und FAZ vom 14. 12. 2013). Seitdem auch in Alain Finkielkrauts Radiosendung auf France Culture einige wenige Zitate aus den Schwarzen Heften verlesen wurden, ist die Aufregung groß, und die alten Fragen liegen wieder auf dem Tisch: Hat der vielfach angefeindete Emmanuel Faye nicht doch recht, wenn er behauptet, es gebe eine intime Verbindung zwischen Heideggers NS-Engagement und seinem Denken (...)?(...)

Es ist fraglich, ob die Behauptung vom rein "geistigen", offensichtlich ungefährlichen Kultur-Antisemitismus noch länger Bestand haben wird ((Will der Autor sagen, es handle sich um politisch gefährliche Verhetzung? Wobei? Beim Gesamtwerk? Bei einzelnen Schriften oder bei den schwarzen Heften?)). In den Schwarzen Heften spricht Heidegger ausdrücklich vom "Rasseprinzip" und fügt an, die Juden hätten eine besondere "Begabung" für das "Rechnerische". ((Aha, er meint also die schwarzen Hefte)) Das Rechnerische ist, das muss man wissen, bei Heidegger prinzipiell abschätzig gemeint, denn wer rechnet, der denkt nicht. Die Herrschaft der Zahl, so heißt es in seinem Werk immer wieder, ist bedeutungsleer, sie erschöpft sich in "bodenlosem Scharfsinn" und abstrakter Rationalität. Das Rechnerische ist das Kainsmal des geistlosen Geistes, das Kennzeichen für das "uferlose Treiben verstandesmäßiger Zergliederung".((Also jetzt überall im Werk?))

Nach der Bemerkung, die "rechnerisch" begabten Juden hätten historisch am längsten nach dem "Rasseprinzip" gelebt, folgt ein Halbsatz, der einem den Atem stocken lässt. ((Jetzt wieder nur die Hefte?)) Heidegger moniert, die Juden hätten alles getan, damit auf sie selbst das "Rasseprinzip" keine "Anwendung" fände, anders gesagt: Sie lebten zwar nach dem "Rasseprinzip", aber sie wollten nicht, dass man sie danach behandelt. Dieser Halbsatz ist auf vollendete Weise heimtückisch, denn Heidegger schreibt den "rechenhaften" Juden erst eine Lebensform zu (sie leben nach dem "Rasseprinzip"), um sie dann im Licht der eigenen Merkmalszuschreibung zu disqualifizieren und intellektuell auszubürgern. ((Das scheint auch mir auf Heideggers Konto zu gehen)) Wenn man legitimerweise das "Rasseprinzip" auf die Juden anwenden würde, dann hätten sie politisch, kulturell und gesellschaftlich nicht jene Macht inne, die ihnen nach Maßgabe ihres eigenen Prinzips nicht zustünde ((Das Argument verstehe ich jetzt nicht, Heidegger spricht doch anderswo ohne jede Zuschreibung auf Juden von der Mächtigkeit rechnender Rationalität und nicht von ihrer Schwäche.)). Auch wenn es abstoßend ist, man muss diese Exklusionsphrase ausbuchstabieren, die Heidegger in voller Kenntnis der nationalsozialistischen Judenhetze zu Papier gebracht hat. Denn es ist mit Händen zu greifen, welche Behauptung er aufruft, wenn er den Juden eine partikulare "Begabung" für das "Rechenhafte" zur Last legt, das Prinzip der "bodenlosen" Rationalität: Heidegger spielt auf die in der faschistischen Intelligenz übliche Infamie an, die Juden hätten den Universalismus erfunden – die Gleichheit aller Menschen –, um selbst als Gleiche rechtlich anerkannt zu werden. Die jüdische Erfindung von Gleichheit und Moral war der Trick, um sich Macht und Einfluss zu sichern; sie begründet die Herrschaft des entwurzelten Daseins über die existenzielle Tiefe der metaphysischen Völker, die Herrschaft des bloß "Seienden" über das "Sein". ((Auch mir scheint plausibel, dass die vom Autor beschriebene Zuschreibung des „Rechenhaften“ allgemein auf Juden faschistisches Gedankengut ist.))

Tatsächlich spricht Heidegger(...), explizit vom "Weltjudentum" und seiner "Entwurzelung". An anderer Stelle kommt er auf den jüdischen Messianismus zu sprechen, aber diesmal weist er das rassistische Argument ausdrücklich zurück, er braucht es auch nicht. Heidegger schreibt: Hinter der Lehre der Propheten – und das klingt zunächst wieder nach Nietzsche – verberge sich der "Wille zur Macht"; sie sei ein "Instrument", ein Mittel jüdischer Selbstbehauptung. Doch das eigentlich "Geheime" der jüdischen Propheten sei noch gar nicht erkannt worden, und Heidegger spricht aus, worin dieses "Geheime" besteht: Es bestehe in der Flucht vor dem "Geschick" und der Geschichte. Prophetie bezeichnet eine jüdische "Technik", um das "Geschick" abzuwehren und sich ihm zu entziehen. "Geschick" ist für Heidegger ein Schlüsselbegriff; er meint, verkürzt gesagt, jenes "übergreifende Geschehen", das den Einzelnen an die "Grunderfahrung der Gemeinschaft" bindet, an das vorgängige "Erbe". Oder wie es nach 1933 heißt: Es geht um die Bindung an die "erd- und bluthaften Kräfte" des Volkes. Und genau das fehlt offensichtlich dem "Weltjudentum".

Aber Heidegger geht noch weiter: Juden verbergen nicht nur ihren "Willen zur Macht" hinter der Maske der Propheten; sie weigern sich nicht nur, das "Geschickliche der Geschichte" anzunehmen; das "Weltjudentum" scheint auch für die deplorable Weltlage verantwortlich zu sein. Diese Ungeheuerlichkeit verbirgt sich in einem rätselhaft harmlosen Satz, aber dieser beinhaltet die Summe aus allen anderen Merkmalszuschreibungen. Heidegger spricht von der "Weltlosigkeit" des Judentums, präzisiert durch die Bemerkung, in der "Geschicklichkeit" für das "Rechnen" und "Schieben" verstecke sich die vielleicht "älteste" Gestalt des "Riesigen".

Das muss man erklären. Das "Riesige" ist für Heidegger ein Zustand, der entsteht, wenn das Rechnen und Schieben umschlägt, kurz: wenn die Durchrationalisierung der Welt paradoxerweise eine neue Undurchsichtigkeit erzeugt, ein riesiges Unheimliches, das so allgegenwärtig ist, dass es den Menschen unbegreiflich bleibt.

Man könnte diesen originellen Gedanken auch ganz anders formulieren ((Stimmt, aber was hat das mit dem offenbar berechtigten Faschismusvorwurf zu tun? Nichts.)). Man könnte – wie Horkheimer und Adorno – sagen, dass eine totalisierte Vernunft, ein reines ökonomisches Zweckdenken, nicht vernünftige Verhältnisse schafft, sondern eine totale Unvernunft, eine dämonische Intransparenz. Genau diese Erklärung lehnt Heidegger ab. Er projiziert das "Rechenhafte" in das Judentum, er macht es zum Ursprung der Weltverdüsterung, zum frühesten "Versteck" des "Riesigen". Denn als das "Älteste" stand das "Rechnen" am Ursprung des abendländischen Denkens, und nach zweitausend Jahren, so scheint es, ist das verborgene "Riesige" in der Gegenwart zur Macht gekommen und hat sie mit "Weltlosigkeit" infiziert. ((Wenn es so etwas gibt wie eine zwanghaft gewordene, umfassende Durchrationalisierung und Durchquantifizierung der Welt, dann wäre diese »unheimliche Transparenz« mit gutem Recht von den Formen von Intransparenz zu unterscheiden, von denen Adorno und Horkheimer sprechen)) In den nun bekannt gewordenen Notizen verrät Heidegger nicht, wer die amtierenden Mächte der "Weltlosigkeit" sind, aber in der Einführung in die Metaphysik spricht er es aus: Es seien Amerika und Russland. Sie folgten demselben rechenhaften Geist und nähmen Deutschland "in die Zange". Heidegger sieht sich in einer Kampfsituation; er will den Kampf aufnehmen, die Deutschen seien ein "metaphysisches Volk" und dazu berufen, die planetarische Seinsvergessenheit zu überwinden. ((Der Autor überzeugt mich durchaus, dass Heidegger ein Problem mit Zuschreibungen hat. Das ist erstens ein Denkproblem. Der Schritt vom Allgemeinen aufs Besondere geht nicht nur in der Philosophie Heideggers leicht daneben. Vielsagend ist allerdings zweitens, wohin er bei Heidegger zu Zeiten des Faschismus daneben geht. Ersteres und Zweites sind nicht einerlei.))

Gewiss, bislang sind nur kleinste philosophische Partikel aus den Schwarzen Heften ans Licht gekommen, doch wenn nicht alles täuscht, dann wird man die Legende, Heideggers "rein geistige" Judenfeindschaft bleibe seinem philosophischen Denken äußerlich, nicht länger erzählen können ((schwammig! Wird in den Satz „Wer rechnet, der denkt nicht“, der bei Heidegger einen fundierten Kontext hat, die Zuschreibung platziert: es sind die Juden, die rechnen und daher nicht denken, dann ist der ursprüngliche Gedanke dahin. Bleiben wir besser beim ursprünglichen Gedanken, dem nämlich ist die Zuschreibung äußerlich.)). Es war der Philosoph Martin Heidegger, der den Kampf gegen das "Weltjudentum" führte als Urheber der von ihm unterstellten grassierenden "Weltlosigkeit" und als Träger einer Urschuld, die zu tilgen das deutsche Volk aufgerufen sei.« ((Also geht es gegen die Person Martin Heidegger? Das würde ich auch so sehen. Oder gegen die Philosophie? Im Wort „der Philosoph“ vermischt der Autor beides wie ich annehme bewußt.))


Vorweg gesagt, in Assheuers Beitrag wird noch vergleichsweise sauber argumentiert, besser gesagt, es wird überhaupt argumentiert und nicht einfach nur verkürzt kolportiert. Emmanuel Faye hat die Vorwürfe gegen den deutschen Meisterdenker polemisch mächtig zugespitzt. In "Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie" (Berlin 2009) kommt er zu dem Schluss, dass Heideggers Denken völkisch, antisemitisch und totalitär gewesen sei. Er schlägt vor, die Heidegger-Gesamtausgaben in den Bibliotheken nicht mehr in die Abteilung Philosophie, sondern der unter "Geschichte des Nationalsozialismus" einzusortieren ((warum nicht gar!)).

Zur Erinnerung: Die wichtigsten Bezüge auf Heidegger nach dem Krieg kamen nicht von konservativer Seite, sondern von Linken wie Herbert Marcuse, Jean-Paul Sartre, Merleau-Ponty, Louis Althusser oder Jacques Derrida. Ich habe nicht nachgeprüft, wem von ihnen bekannt war, dass Heidegger die Hand zum Hitler-Gruß hoch bekommen hat.

Seit 1987 (Victor Farias, "Heidegger und der Nationalsozialismus") wird es breit genug bekannt gewesen sein. Hätte das Urteil der Linken zu Heideggers Philosophie in Gänze oder über bestimmte Kerngedanken Heideggers anders zu lauten, weil das Urteil über Heidegger heute anders lautet?
Marcuse starb 1979, Sartre 1980, Merleau-Ponty schon 1961, Althusser 1990, Derrida 2004, Levinas 1995, Richard Rorty 2007. Meiner Meinung nach geht es bei jedem von ihnen jeweils um bestimmte Grundgedanken Heideggers und nicht um den Mann. Ich finde das richtig so.

Wenn Heidegger das Penicillin entdeckt hätte, hätte man dann diese Erfindung unter Faschismusverdacht gestellt. Da wäre es selbst der Presse nicht eingefallen, Person und Sache zu vermischen.

An Heideggers politisch-ideologischen Positionen gibt es offenbar nichts zu beschönigen. Wann wäre das wichtig? Wenn eine demokratische Wahl ansteht, ist es essentiell wichtig zu wissen, wen man da wählt, ob im Beispiel zu reden Heidegger ein Faschist ist oder keiner. Wählen würde ich ihn sicher nicht. Aber lesen. In der Philosophie geht es nicht darum, den Mann zu wählen, sondern den Text zu lesen.

Machen wir einen kleinen Test, ob Lesen allein schon hilft. Reißen wir den Buchdeckel heraus, verschweigen also, um wen es sich handelt und lesen einfach, was da steht:

„(..) Und an dieser Blutschande sterben dann Persönlichkeit, Volk, Rasse, Gesittung. Dieser Rache des Blutes ist niemand entgangen, der die Religion des Blutes mißachtete: weder die Inder noch die Perser noch die Griechen noch die Römer. Dieser Rache wird auch das nordische Europa nicht entgehen, wen es nicht Umkehr hält und sich von geistig leeren Nebengebilden, blutlosen absolutem Ideen abwendet und wieder- wieder vertrauend hinzuhorchen beginnt auf den verschütteten Sprudel seines ureigenen Lebenssaftes und seiner Werte.

Ein neues beziehungsreiches farbiges Bild der Menschen- und Erdengeschichte beginnt sich heute zu enthüllen, wenn wir ehrfürchtig anerkennen, daß die Auseinandersetzung zwischen Blut und Umwelt, zwischen Blut und Blut die letzte uns erreichbare Erscheinung darstellt, h i n t e r der zu suchen und zu forschen uns nicht mehr vergönnt ist. Diese Anerkennung aber zieht sofort die Erkenntnis nach sich, daß das Kämpfen des Blutes und die geahnte Mystik des Lebensgeschehens nicht zwei verschiedene Dinge sind, sondern ein und dasselbe auf verschiedene Weise darstelle. Rasse ist das Gleichnis einer Seele, das gesamte Rassengut ein Wert an sich ohne Bezug auf blutleere Werte, die das Naturvolle übersehen, oder in bezug auf Stoffanbeter, die nur das Geschehen in Zeit und Raum erblicken, ohne dies Geschehen als das größte und letzte aller Geheimnisse zu erfahren.(...)“
usw. usf.

Lesen und Nachdenken sind zur Klärung der Frage, was faschistisches Gedankengut ist, immer noch das Mittel der Wahl und nicht der Blick auf den Namen und Buchdeckel.

Wenn man die Textstelle oben gelesen hat, wird man sich nicht wundern zu erfahren, dass sie von Alfred Rosenberg, dem führenden Nazi-Ideologen stammt, der sich in Nürnberg zu rechtfertigen hatte.

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