Die Repräsentation und das Fort-Da-Spiel
Michael Seibel • Die Verdoppelung der Gegenwart (Last Update: 28.03.2014)
Wieder
gleich mitten hinein in Heideggers Text „Der Satz vom
Grund“:
Der
Grund muß dem Menschen „zurückgegeben“
werden, »der in der Weise des urteilenden
Vorstellens die Gegenstände als Gegenstände bestimmt.
Vorstellen aber ist: repraesentare — etwas
auf den Menschen zu präsent, gegenwärtig machen.«
Was
macht eigentlich etwas zu einem Gegenstand? Stellen Sie sich vor, sie
wollen sich nachts noch ein Glas Milch aus der Küche holen und
machen das Licht nicht an, weil Sie ihren Partner nicht stören
möchten. Ihre Wohnung kennen Sie ja. Es müsste auch im
Dunkeln gehen. Auf dem Weg wird es Ihnen schon einmal passiert sein,
dass Sie sich an dem einen oder anderen Gegenstand gestoßen
haben, den Sie nicht an der Stelle erwartet haben, an der er nun
einmal liegt.
Was
macht also diesen Gegenstand zum Gegenstand? Dass Sie laufen und dass
Sie sich daran stoßen. Was sonst?
Nun
stellt aber Heidegger etwas ganz anderes vor: Gegenstände werden
»in der Weise des urteilenden Vorstellens« als
Gegenstände bestimmt.
Sicher
bemerken Sie, wie da etwas verdoppelt wird. Da ist der Gegenstand, an
dem Sie sich soeben im Dunkeln gestoßen haben und nun der
Gegenstand, den Sie sich bloß „vorstellen“.
Können
wir sagen, der Gegenstand, an dem Sie sich gestoßen haben, sei
der wirkliche und der vorgestellte sei bloß ein Phantasie-Ding
oder zumindest etwas, das Ihrem Zeh nicht wehtut?
Auf
den ersten Blick scheint das so zu sein. Und so stellt sich das ein
gewisser Materialismus vor, von dem Heidegger später im Text
spricht. Oder haben Sie sich schon einmal an einer Vorstellung
gestoßen?
Wenn
man Fragen wie diese nicht gleich wegwischt, wird man zugeben müssen:
Selbstverständlich stoßen wir uns ständig an
Vorstellungen.
Ein
Beispiel aus der Kriminologie: Ich finde folgende Statistik: Die
befragte Bevölkerung schätzt, dass in Deutschland in der
Zeit von 1993 bis 2003 die Zahl der vollendeten Sexualmorde um 259%
zugenommen hat. Die Polizeistatistik gibt jedoch an, dass diese Zahl
in Wirklichkeit in der in Frage stehenden Zeit sich nicht
vervielfacht, sondern im Gegenteil um 38 % abgenommen hat. (Pfeiffer
C, Windzio M, Kleimann M (2004) Die Medien, das Böse und wir.
Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 87, S.
415–435)
An
was bitte stoßen sich die Menschen hier eigentlich, wenn nicht
an ihren eigenen Vorstellungen? Übrigens nicht nur da, wo sie
falsch liegen, sondern ebenso da, wo sie ganz richtig liegen. Wir
lassen uns alarmieren, wir leben in Erwartungen.
Heidegger
weist also hin auf die Untrennbarkeit von sinnfälliger
Wirklichkeit und Vorstellung. Sie werden sich nicht eine Sekunde lang
vorstellen können, mit dem Fuß ungewollt gegen etwas zu
stoßen, gegen dieses unerwartete Ding in unbeleuchteter Nacht,
gegen dies schlechthin Reale, ohne es unmittelbar auch vorzustellen.
Es sei denn Sie seien volltrunken an der Grenze zum Koma. Eine
Wirklichkeit, die nicht zugleich vorgestellte ist, hört auf,
wirklich zu sein. Die Wirklichkeit des Wirklichen passiert nicht ohne
den Kopf.
Hier
fällt im Text der Begriff »repraesentare — etwas auf
den Menschen zu präsent, gegenwärtig machen.«
Es
bedarf demnach der Leistung der Vorstellung, um etwas gegenwärtig
zu machen. Das Ding in der Nacht, an dem ich mich stoße, ist es
denn nicht unmittelbar und von ganz alleine gegenwärtig?
Nein.
Die Frage der Repräsentation verweist uns sogleich auf
einen der zentralsten philosophischen Themenkreise des 20ten
Jahrhunderts überhaupt rund um den Begriff der Zeitlichkeit.
Gegenwart,
das ist ebenso die unabweisbare Sinnfälligkeit des realen Hier
und Jetzt, wie dessen unaufhaltsame Vergänglichkeit. Ein
größeres Spannungsverhältnis, als dieses Fort-Da
Spiel der Gegenwart lässt sich nicht denken.
Dieser
Doppelcharakter von massiver, unabweisbarer Gegenwärtigkeit und
unwiederholbarer Vergänglichkeit des Augenblicks ist nichts, was
es an sich und ohne den Menschen gibt. Ohne den Menschen wäre
das Universum schlichtweg zeitlos. Zeitlichkeit ist in all ihren
Dimensionen bezogen auf die „Sorge“, auf die Existenz des
Menschen, wie Heidegger ausführlich in „Sein und Zeit“
entwickelt hat.
Denken
Sie an einjährige Babies, die Dinge wegwerfen, um sie sich im
nächsten Augenblick geben zu lassen. Es ist einer der vielleicht
kreativsten und beeindruckendsten Erkenntnisakte unseres gesamten
Lebens, dieses Spiel zu lernen, versetzt es uns doch in ein
ursprünglich aktives Tauschverhältnis zum Anderen und
gleichzeitig in die Lage, mit den Zeitdimensionen umzugehen, mit der
Präsenz, dem Verschwundensein und der Erwartung.
Wer
weiß, ob wir uns als Babies auf das Fort-Da-Spiel einlassen
würden, wenn wir schon wüssten, was wir uns damit
einhandeln, nämlich den Tod, von dem die Tiere bekanntlich
nichts wissen.
Zu
schade, dass wir uns als Erwachsene an Freude und Erstaunen, die wir
als Babies dabei empfunden haben und die man jedem Baby ansieht, mit
dem man das Fort-Da-Spiel spielt, nicht mehr erinnern. (Oder
vielleicht erinnern wir uns ja doch, sofern wir mit etwas Glück
über ein Reservoir positiver Erwartungen verfügen, das ein
Leben lang reichen muss, sodass Glück, wie Sigmund Freud im
einem Brief an Fließ sagt, die späte Erfüllung
unserer Kinderwünsche bleibt.)
Was
tun wir, wenn wir etwas repräsentieren, etwas
wörtlich genommen zurück in die Gegenwart versetzen?
Es ist nicht gemeint, dass wir still dasitzen und uns gleichsam
meditierend einen Gegenstand vorstellen, von dem wir zugleich wissen,
dass der Gegenstand in Wirklichkeit außerhalb unserer
Vorstellung existiert. Mir fällt ein Kurs aus dem Grundstudium
für Mediziner ein, in dem es darum ging, unterm Mikroskop
Drosophila Fliegen mit einer bestimmten Mutation zu erkennen und
nachzuzählen, bevor deren Betäubung nachließ. Die
Wirklichkeit wartet nicht. Sie neigt zum Davonfliegen. Am Ende des
Seminars war der Saal voll von Fliegen.
Wenn
die Repräsentation ein ruhiges Geschäft wäre, wären
Heideggers Formulierungen unverständlich, in denen er etwa sagt:
»Erst durch auf das Ich zurück- und ihm eigens zugestellten
Grund der Vorstellungsverknüpfung kommt das Vorgestellte so zum
Stehen, daß es als Gegenstand, d. h. als Objekt für das
vorstellende Subjekt sichergestellt ist.«
Zu
stehen und sichergestellt zu sein, das ist also gerade
nicht ein selbstverständliches Merkmal der Vorstellungen,
sondern Vergänglichkeit, Schwinden, Entropie. Erst wenn
Vorstellungsverknüpfungen begründet werden können,
wird das Vorgestellte sichergestellt.
Das
geschieht, so Heidegger, neuzeitlich in der Weise »des
sicherstellenden Rechnens« der
modernen Naturwissenschaften.
In
diesem Zusammenhang nennt Heidegger Leibniz den Erfinder einer
konkurrenzlosen, ubiquitären Lebensversicherung.
»Die Arbeit an der Sicherstellung des Lebens muß
jedoch selber ständig sich neu sichern.«
Teilen
wir Heideggers Diagnose: »Der heutige Mensch hört
ständig auf den Grundsatz des Grundes, indem er dem Satz
zunehmend höriger wird«?
Dagegen
nun, gegen den Satz
vom Grund stellt Heidegger den Zuspruch,
das Wort
des Seins gegen ein bloß rechnendes Denken hält
er ein besinnliches Denken.
Finden wir das nachvollziehbar oder ist das Schwarzwaldkitsch?
Darüber und die Dichterworte Goethes in diesem Zusammenhang
wollen wir beim nächsten mal abschließend reden.
Hinzuweisen ist auf die herrlich Schipftirade von Thomas
Bernhard gegen Heidegger.
Hier ist der Link ...
Thomas
Bernhard macht Heidegger darin nach allen Regeln der polemischen
Kunst nieder. Abgesehen davon, dass ich an ein paar Stellen vor
Lachen geradezu prusten musste, finde ich, so etwas sollte man mit
jedem machen, der in irgendeiner Kulturgattung Rang und Namen hat. Es
hilft ausgesprochen, Verklärungen zu verscheuchen und sich zu
überlegen, was an den Texten der Stars des Denkens im einzelnen
dran ist und was nicht. Es hilft beim Reinemachen im Kopf.
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