Loading...

Dem Nichts auf der Spur

Michael Seibel • Die Anfänge   (Last Update: 21.11.2017)

Setzen wir uns also auf die Spur des Nichts.
Hier zunächst in der philosophischen Tradition, dann im 2. Teil in der Moderne bei Kant, dann 3. bei Hegel, im 4. Teil bei Sartre. Zu Schluß bei Derrida.

Sich auf die Spur des Nichts zu begeben ist nicht ganz so leicht, denn ›ex nihilo nihil fit‹. Aus nichts folgt auch nichts. Parmenides soll das als erster gesagt haben und später Lukrez in De rerum natura. Heute sagt es der Energieerhaltungssatz, ob in seiner Version der Newtonschen Mechanik oder in der Relativitätstheorie. Beeindruckend, wer alles darüber geschrieben hat. Max Planck, Helmholtz, Feynman. Wie also sollte das Nichts Spuren hinterlassen haben? Es ist ausgemacht. Von nichts kommt nichts. Nicht einmal Spuren. Oder doch?


Das Nichts muß allerdings bereits früher aufgetaucht sein. Es taucht ständig auf, mitten in der Affektivität, im Lieben und Toben der mythischen Helden und zwar dann, wenn Götter, Helden oder selbst Menschen nein sagen, wenn sie widersprechen, sich weigern, etwas ablehnen, an etwas nicht teilnehmen, wenn sie fehlen. Sartre wird sagen,daß das Nichts auf dem Hintergrund des Seins auftaucht. Und so manches Nein dürfte immer schon handfeste Spuren hinterlassen haben. Die Mythen jedenfalls sind voll davon.


Zu unterscheiden davon sind die betont affektfreien Negationen in Aussagen und Urteilen, über die sehr bald Philosophen wie Platon ausführlich nachdenken.


Frühe unübersehbare Spuren des Nichts im europäischen Denken finden sich bei dem Sophisten Gorgias. Gorgias pöbelt, daß weder das Seiende noch das Nichtseiende existiert, daß das Seiende, falls es doch existieren sollte, nicht erkennbar wäre, und daß, falls es wider Erwarten doch erkennbar wäre, das Wissen darum anderen Menschen nicht mitteilbar wäre. Ouk estin, es ist nichts (in Wahrheit)!


Platon reagiert darauf in den Sophistes. Gibt es das Falsche oder gibt es das Falsche nicht?

Aus Platons Sophistes (237 ff) : „Fremder: Diese Rede untersteht sich ja vorauszusetzen, das Nichtseiende sei. Denn sonst gäbe es auf keine Weise Falsches wirklich. Parmenides der Große aber, o Sohn, hat uns als Kindern von Anfang an und bis zu Ende dieses eingeschärft, indem er immer in Prosa sowohl als in seinen Gedichten so sprach: Nimmer vermochtest du ja zu verstehn, sagt er, Nichtseiendes seie, sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele. So wird es von ihm bezeugt, vor allem aber muß es gewiß die Rede selbst zeigen bei gehöriger Prüfung. (…) Sage mir also: Das auf keine Weise Seiende, das unterstehen wir uns ja doch irgend auszusprechen? (…) Nicht meine ich Streitens wegen oder zum Scherz, [237c] sondern wenn einer von den Zuhörern ernsthaft überlegend zeigen sollte, wo man dieses Wort »das Nichtseiende« anzubringen hat, glauben wir, dass er selbst wissen würde, wozu und wobei er es zu gebrauchen habe, und es dem Fragenden würde zeigen können? (…) So viel also ist doch gewiß, dass irgend einem Seienden das Nichtseiende nicht kann beigelegt werden. (…) Wenn also nicht dem Seienden, würde es auch, wer es dem Etwas beilegte, nicht richtig beilegen.
Theaitetos: Wie das?
Fremder: Das ist uns doch auch deutlich, dass wir dieses Wort »Etwas« jedesmal von einem Seienden sagen. Denn allein es zu sagen, gleichsam nackt und von allem Seienden entblößt, ist unmöglich. Nicht wahr? (…) Und gibst du wohl mit Hinsicht hierauf zu, daß, wer »Etwas« sagt, wenigstens ein Eins sagt?
(…) Denn das »Etwas«, wirst du sagen, ist das Zeichen für Eines, das »ein Paar« für die Zweiheit, das »Einige« dagegen für viele. (…) Wer daher nicht einmal Etwas sagt, muß ganz notwendig, wie es scheint, ganz und gar nichts sagen. (…) Dürfen wir nun etwa auch das nicht einmal zugeben, dass ein solcher zwar rede, er sage aber eben nichts, sondern müßten sogar leugnen, dass der überhaupt rede, der sich unterfängt, das Nichtseiende auszusprechen?
Theaitetos: Dann hätte doch alle Not mit dieser Sache ein Ende.
Fremder: Noch tue nicht groß. [238a] Denn es ist noch eine Not hierin zurück, und zwar leicht die erste und größte: denn sie betrifft den ersten Anfang der Sache selbst. (...) Einem Seienden könnte wohl ein anderes Seiendes zukommen.
Theaitetos: Unbedenklich.
Fremder: Wollen wir aber auch zugeben, es sei möglich, dass dem Nichtseienden irgend Seiendes zukäme?
Theaitetos: Wie sollten wir?
Fremder: Alle Zahl insgesamt setzen wir doch als seiend?
Theaitetos: Wenn anders irgend etwas als seiend zu setzen ist.
Fremder: So dürfen wir denn nicht wagen, weder eine Mehrheit von Zahl noch auch die Einheit dem Nichtseienden beizulegen. (...) Wie könnte nun wohl jemand ohne Zahl das Nichtseiende nur mit dem Munde aussprechen oder auch nur in seinen Gedanken auffassen?
Theaitetos: Woher das?
Fremder: Wenn wir »Nichtseiende« sagen, legen wir da nicht eine Mehrheit der Zahl hinein?
Theaitetos: Allerdings.
Fremder: Und wenn wir »Nichtseiendes« sagen, dann wiederum die Einheit?
Theaitetos: Ganz gewiß.
Fremder: Und wir sagen doch, es sei weder recht noch billig, dass man suche. Seiendes mit dem Nichtseienden zusammenzufügen. (...) Siehst du also, wie ganz unmöglich es ist, richtig das Nichtseiende auszusprechen oder etwas davon zu sagen oder es auch nur an und für sich zu denken; sondern wie es etwas Undenkbares ist und Unbeschreibliches und Unaussprechliches und Unerklärliches?
Theaitetos: Auf alle Weise freilich.
Fremder: Habe ich mich aber etwa eben geirrt, als ich sagte, ich wolle nur die größte Schwierigkeit in dieser Sache vortragen?
Theaitetos: Wieso? Ist noch eine andere, größere anzuführen?
Fremder: Wie doch, du Wunderbarer? Merkst du denn nicht eben an dem Gesagten, dass auch den Gegner das Nichtseiende in Not bringt, so daß, wie auch jemand versuche, es zu widerlegen, er gezwungen wird, ihm selbst Widersprechendes davon zu sagen? (...) Es braucht gar nicht, dass man es noch deutlicher an mir sehe! Denn ich, der ich festsetzte, das Nichtseiende dürfe weder an der Einheit noch Vielheit teilhaben, habe es doch vorher und jetzt geradezu eins genannt. Denn ich sage: das Nichtseiende. Merkst du was?
Theaitetos: Ja.
Fremder: Ja noch ganz vor kurzem wiederum sagte ich, es sei ein Unaussprechliches und Unbeschreibliches und Unerklärliches. (...) Indem ich ihm also das Sein zu verknüpfen suchte, sagte ich dem Vorigen Widersprechendes. [239a] (...) Und zugleich, indem ich ihm dieses zuschrieb, sprach ich davon als von einem? (...) Und auch, indem ich es ein Unerklärliches nannte und Unbeschreibliches und Unaussprechliches, richtete ich doch meine Rede so ein, als ob es Eins wäre? (...) Und wir behaupteten doch, wer richtig reden solle, dürfe es weder als eins noch als vieles bestimmen, noch es überhaupt auch nur es nennen; denn schon durch die bloße Angabe würde er es als eins angeben. (...) [239b] Was soll man nun schon von mir sagen? Denn schon von lange her und auch jetzt fände man mich überwunden in der Widerlegung des Nichtseienden.


(…)


Fremder: [257a] Muß man nicht auch von dem Seienden selbst sagen, dass es verschieden ist von dem übrigen? (...) Auch das Seiende also ist, wiefern das übrige ist, sofern selbst nicht. Denn indem es jenes nicht ist, ist es selbst Eins; das unzählig viele übrige aber ist es nicht. (...) Auch darüber also ist keine Schwierigkeit zu machen, wenn doch die Begriffe ihrer Natur nach Gemeinschaft mit einander haben. (...) Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes. (...) Wenn wir z.B. etwas »nicht groß« nennen, meinst du, dass wir durch dies Wort mehr das Kleine als das Gleiche andeuten?
Theaitetos: Keineswegs.
Fremder: Wir wollen also nicht zugeben, wenn eine Verneinung gebraucht wird, dass dann Entgegengesetztes angedeutet werde, sondern nur so viel, [c] dass das vorgesetzte »Nicht« etwas von den darauffolgenden Wörtern oder vielmehr von den Dingen, deren Namen das nach der Verneinung Ausgesprochene ist, Verschiedenes andeute. (...) Das Wesen des Verschiedenen scheint mir ebenso ins Kleine zerteilt zu sein wie die Erkenntnis. (...) Auch jene ist zwar nur eine; aber jeder auf einen andern Gegenstand sich beziehende Teil wird abgesondert und mit einem eigenen Namen benannt, [257d] weswegen es so viele Künste und Wissenschaften gibt. (...) Geht es nun nicht auch den Teilen des Verschiedenen, obgleich dies auch eines ist, ebenso?
Theaitetos: Vielleicht; aber sage doch, inwiefern?
Fremder: Ein Teil des Verschiedenen ist doch dem Schönen entgegengesetzt? (...) Ist dieser nun ohne Beinamen, oder hat er einen?
Theaitetos: Er hat einen. Denn was wir jedesmal das Nichtschöne nennen, das ist von nichts anderem das Verschiedene als von der Natur des Schönen.
Fremder: Wohlan, so sage mir denn dies. (...) Kam nicht dadurch, dass es von einer bestimmten Gattung des Seienden erst abgesondert und dann wieder zu etwas von dem Seienden entgegenstellt wurde, das Nichtschöne zum Sein? (...) Also eines Seienden Gegensatz gegen ein anderes, wie es scheint, ist das Nichtschöne. (...) Wie nun? Gehört nun wohl nach dieser Erklärung das Schöne mehr unter das Seiende und das Nichtschöne weniger? (...) [258a] Ebensogut also, muß man sagen, ist das Nichtgroße wie das Große selbst? (...) So ist auch das Nichtgerechte dem Gerechten gleichzusetzen darin, dass das eine nicht weniger ist als das andere? (...) Und von den übrigen ist dasselbe zu sagen, wenn doch die Natur des Verschiedenen oder die Verschiedenheit sich unter dem Seienden gezeigt hat. Denn ist sie, so sind notwendig auch ihre Teile nicht minder als seiend zu setzen. (...) Also ist auch der Gegensatz der Natur eines Teils des Verschiedenen und der des Seienden, wenn diese einander gegenübergestellt werden, nicht minder Sein, wenn man es sagen darf, als das Seiende selbst, und keineswegs das Gegenteil von jenem bedeutend, sondern nur so viel: ein Verschiedenes von ihm. (...) Wie sollen wir nun diesen nennen?
Theaitetos: Offenbar ja ist das Nichtseiende, was wir des Sophisten wegen suchten, eben dieses.
Fremder: Steht es also, wie du sagtest, keinem von den andern nach in Hinsicht auf das Sein? Und darf man schon herzhaft sagen, dass das Nichtseiende unbestritten seine eigene Natur hat, und dass, gerade wie das Große groß und das Schöne schön war und das Nichtgroße und Nichtschöne nicht groß und nicht schön, ebenso auch das Nichtseiende war und ist nichtseiend und mit zu zählen als ein Begriff unter das viele Seiende? Oder haben wir hiergegen noch irgend einen Zweifel, o Theaitetos?
Theaitetos: Gar keinen.“1


Das Nichts wird zur negativen Bestimmung und als das zum Scheidewasser der Erkenntnis.Das Nichtsein mê einai, mê on bedeutet das Anderssein als ein Sein.


Das Christentum kennt keine Theogonie wie bei Hesiod, bei der die Götter zu allererst einmal aus dem Chaos entstehen müssen und Materie noch zugleich Zufall und Möglichkeit sein kann. Was könnte klassisch griechischer sein als die göttliche Gelassenheit, in seinem Sein vom Zufall abhängig zu sein und ebensogut auch nicht zu existieren! Was kratzt es die Götter Griechenlands, wenn sie nicht gezeugt worden wären? Und was stört sie andererseits daran, gezeugt worden zu sein? Nichts. Diese Gelassenheit ist eine Bedeutung des Nichts, auf die die Philosophie des Westens nicht oft hinweist, die sie allerdings unablässig bemüht, ist philosophisches Denken doch an sich selbst bereits das schlechthin Unaufgeregte, gemessen am ihrem Gegenstand, der Bewegung, dem Werden und Vergehen. Die Aufgeregten, das sind die Elterngottheiten, falls ihnen Aufschub droht, wenn ihnen etwas beim Zeugungsakt oder der Vernichtung in die Quere käme. Solchen Eventualitäten setzt sich der Einzige, der Christengott, die ungeschaffene Fülle, von vorn herein nicht aus.

Der Gott des hellenistischen Judentums und des Christentums ist ewig und schafft die Welt aus dem Nichts, eine creatio ex nihilo.2 Die Scholastik wird sich ausführlich damit befassen, nicht nur das Werden in der Welt, sondern gerade auch das Werden der Welt selbst zu denken. Der göttliche Schöpfungsakt vollbringt also das Unmögliche. Anders gesagt: Der göttliche Schöpfungsakt ist nicht einmal von seiner eigenen Möglichkeit abhängig. Das Nichts scheint seinem ontologischen Status nach das einzig Ungeschaffene gewesen zu sein, denn nachdem die Schöpfung einmal geschehen ist und es mithin etwas ist, gibt es das Nichts nicht mehr. Nach vollzogener Schöpfung, wenn alles voll von Sein ist, kann das Nichts nur mehr gedacht werden, wird zum ens rationalis, zum nur noch gedachten und erscheint als ens potentialis immer schon eingepaßt in den göttlichen Weltenbau. Daran ließen sich jahrhundertelang zwei Traditionslinien anknüpfen, eine, die aristotelische Gedanken aufnimmt3 und entlang der Vorstellung vom Unbewegten Beweger einen Horror Vacui4 ausprägt, sowie eine andere, die die Vorstellungen Platons, die wir eben kennengelernt haben, weiter verarbeitet und mittels des Nichts die Dimension der Verschiedenheit, des heteron im Sein zu denken versucht.


Der deutsche Philosoph Hermann Ulrici bekommt es noch Mitte des 19. Jahrhunderts hin, in den beiden Sätzen, aus nichts entsteht nichts und Gott erschafft Sein aus dem Nichts keinerlei Widerspruch zu sehen: »Der Schöpfungsbegriff involviert... keineswegs«, so sagt er, » daß aus nichts etwas hervorgehe oder daß nichts von selbst in etwas übergehe, sondern daß durch etwas, Gott, ein anderes Etwas gesetzt sei«5 ; keine Spur also vom Nichts.


Nichts ist eben ohne Grund - „Im Sinne des zureichenden Grundes finden wir, dass keine Tatsache [fait] als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage [Enonciation] als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund [raison suffisante] dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“6

„[...] nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache [cause] oder wenigstens einen bestimmenden Grund [raison déterminante] gibt, d. h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert.“7


Dafür um so mehr Spuren vom Nichts in Denken: omnis determinatio est negatio. Jede Bestimmung ist eine Negation, wie Spinoza beiläufig in der Erörterung eines geometrischen Zusammenhangs anmerkt. Hegel wird in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie genau darin den entscheidenden Beitrag Spinozas sehen. Er wird ihm allerdings bei der Gelegenheit auch vorwerfen, er habe damit zwar das Prinzip der Negation entdeckt, jedoch die doppelte Negation verkannt, die letztlich entscheidend sei, aus der Bestimmung Wissen werden zu lassen, das Negierte aufzuheben.8 Dazu später mehr.


Und der berühmteste von allen? Goethes Geist, der stets verneint.

Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.

Der Todestrieb als Himmelselement.



Anmerkungen:

1 Platon, der Sophist, 237 a1 ff., Übersetzung: F.D.E. Schleiermacher, 1807, Quelle: www.textlog.de

2 Augustinus erklärt diesbezüglich:
„2. Kein Wesen als solches ist Gott entgegengesetzt, da offenbar nur das, was nicht ist, der vollendete Gegensatz ist zu dem, der schlechthin und ewig ist.
Das wollte ich vorausschicken, damit man nicht, wenn von abtrünnigen Engeln die Rede ist, auf den Gedanken komme, sie hätten eine andere, aus einem andern Urwesen stammende Natur erhalten und Gott sei nicht der Urheber ihrer Natur, Von solch unseligem Irrtum wird man sich um so sicherer und leichter freihalten, je klarer man sich zu werden vermag über das Selbstzeugnis, das Gott, als er Moses zu den Söhnen Israels sandte, von sich gab durch den Engel mit den Worten: „Ich bin, der ich bin“
1 . Da nämlich Gott das höchste Wesen ist, d. h. auf die höchste Weise ist, und deshalb unwandelbar ist, gab er den Dingen, die er aus nichts erschaffen hat, das Sein, jedoch nicht das Sein auf höchste Weise, wie er es selbst ist; und zwar gab er den einen mehr davon, den andern weniger und ordnete so stufenweise die Naturen der Wesen [wie sich nämlich von weise sein das Wort Weisheit ableitet, so vom Zeitwort sein [esse] das Hauptwort Wesen [essentia], ein neuer Ausdruck allerdings, und bei den alten lateinischen Schriftstellern nicht in Gebrauch
2 . Und demnach ist der Natur, die das Sein schlechthin ist, durch deren Schöpfertätigkeit alles Seiende ist, keine Natur entgegengesetzt außer eine solche, die nicht ist. Dem, was ist, ist entgegengesetzt das Nichtsein. Und deshalb ist der Gottheit, d. i. dem höchsten Wesen und dem Urheber jeglicher Wesen, kein Wesen entgegengesetzt.“
(Augustinus, De Civitate Dei, 12. Buch, 2. Kap.)

3 „Denn auch das Nicht-seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt, weil ja das Seiende mannigfache Bedeutung hat, und Nicht-Mensch bezeichnet, daß etwas nicht dies bestimmte Etwas, nicht-gerade, daß es nicht dieses Qualitative, nicht-dreiklaftrig, daß es nicht dieses Quantitative ist. Aus welcherlei Seiendem und Nicht-seiendem geht also die Vielheit des Seienden (pollà tà ónta) hervor? Nun meint freilich der Urheber dieser Ansicht den Irrtum (pseudos) und versteht diese Wesenheit unter demjenigen Nicht-seienden, aus dem und dem Seienden die Vielheit der Dinge hervorgehe - weshalb es denn auch hieß, man müsse etwas Falsches voraussetzen, wie auch die Geometer von der Linie, welche nicht einen Fuß lang ist, annehmen, sie habe diese Länge-; aber es ist ja unmöglich, daß sich dies so verhalte. Denn weder setzen die Geometer etwas Falsches voraus (denn jene Annahme (prótasis) ist ja gar nicht in dem Schluß (syllogismós) enthalten), noch kann aus dem in diesem Sinne Nicht-seienden das Seiende entstehen oder vergehen. Sondern indem das je nach den einzelnen Ableitungen Nicht-seiende in so vielfachem Sinne ausgesagt wird, wie es Kategorien gibt, und außerdem noch das Falsche und das dem Vermögen nach Seiende als nicht seiend bezeichnet wird: so geht aus dem letzteren das Werden hervor; nämlich aus dem, was nicht wirklich Mensch ist, aber doch dem Vermögen nach Mensch, wird der Mensch, aus dem Nicht-weißen, das aber dem Vermögen nach weiß ist, das Weiße, und so in ähnlicher Weise, mag nun eines werden oder vieles.“
(Aristoteles, Metaphysik. 1089A 15, übersetzt von Hermann Bonitz, München 1966)

Über das Leere: „Daß nun der Naturwissenschaft angehört diese Betrachtung, erhellt hieraus. Mit Grund aber setzen es Alle auch als einen Anfang. Weder umsonst nämlich darf es dasein, noch eine andere Bedeutung haben, als nur die[59] des Anfangs. Denn alles ist entweder Anfang oder hat einen Anfang. Das Unbegrenzte aber hat keinen Anfang, denn sonst hätte es eine Grenze. Auch ist es unentstanden und unvergänglich, indem es Anfang ist. Denn was entstanden ist, muß ein Endziel nehmen, und ein Ende hat aller Untergang. Darum scheint, wie wir sagen, nicht dieses einen Anfang, sondern das Uebrige diese zum Anfang zu haben, und Alles von ihm umgeben und geleitet zu werden, wie diejenigen sagen, die nicht außer dem Unbegrenzten noch andere Anfänge annehmen, wie den Gedanken oder die Freundschaft; ja dieses gilt für das Göttliche, weil unsterblich und unvergänglich, wie Anaximander sagt und die Meisten der Naturforscher. – Von dem Sein aber des Unbegrenzten möchte die Ueberzeugung vornehmlich aus fünf Umständen für den Betrachter hervorgehen. Erstens aus der Zeit, denn diese ist unbegrenzt; dann aus der Theilung der Größen, denn es bedienen sich auch die Mathematiker des Unbegrenzten. Ferner daß nur so nie ausgeht Entstehung und Untergang, wenn es ein Unbegrenztes giebt, woher genommen wird das Werdende. Ferner, daß das Begrenzte stets an etwas grenzt; so daß es nothwendig keine äußerste Grenze giebt, wenn stets grenzen muß Eines an das Andere. Am meisten aber und hauptsächlich, was die gemeinschaftliche Verlegenheit erregt in Allen. Weil nämlich das Denken kein Ende findet, darum gilt die Zahl für unbegrenzt, und die mathematischen Größen, und was außerhalb des Himmels. Ist aber unbegrenzt dieses Außerhalb, so meint man einen unbegrenzten Körper zu haben, und unbegrenzte Welten. Denn warum mehr Leeres da als dort? Ist irgendwo ein Erfülltes, so muß es ja doch allenthalben sein. Und ist einmal ein Leeres und ein Raum unbegrenzt, so muß es auch einen unbegrenzten Körper geben. Denn das Können ist von dem Sein nicht unterschieden in dem Einigen. – Es hat aber ihre Bedenklichkeiten die Betrachtung des Unbegrenzten. Denn[60] sowohl wenn man setzt, es sei nicht, folgt Vieles als unmöglich, als auch wenn man setzt, es sei. Ferner fragt sich, auf welche Weise es ist, ob als Wesen, oder als an und für sich Umhängendes irgend einer Wesenheit, oder auf keine von beiden Weisen, aber so, daß es nichts desto weniger ein Unbegrenztes gebe, oder Unbegrenzte an Menge.“
(Aristoteles: Physik, 59. f, Leipzig 1829, Übersetzung: C. H. Weiße, Quelle: www.zeno.org)


4 Vgl. Aristoteles, Physik IV, 6-9

5 Hermann Ulrici , Gott und die Natur, 638

6 G.W. Leibniz: Monadologie, § 32; zit. nach der dt.-frz. Suhrkamp-Ausgabe 1998, S. 27

7 G.W. Leibniz: Theodizee, §44; zit. nach der dt.-frz. Suhrkamp-Ausgabe 1999, S.273

8 Hegel jubelt: „Spinoza ist Hauptpunkt der modernen Philosophie: entweder Spinozismus oder keine Philosophie. Spinoza hat den großen Satz: Alle Bestimmung ist eine Negation. Das Bestimmte ist das Endliche; nun kann von allem, auch vom Denken (im Gegensatz zur Ausdehnung) gezeigt werden, daß es ein Bestimmtes ist, also Negation in sich schließt; sein Wesentliches beruht auf Negation. Weil Gott nur das Positive, Affirmative ist, so ist alles andere nur Modifikation, nicht an und für sich Seiendes; so ist nur Gott die Substanz. So hat Jacobi recht. Die einfache Determination, Bestimmung (Negation gehört zur Form) ist ein Anderes gegen die absolute Bestimmtheit, Negativität, Form. Die wahrhafte Affirmation ist die Negation der Form; das ist die absolute Form. Der Gang Spinozas ist richtig; doch ist der einzelne Satz falsch, indem er nur eine Seite der Negation ausdrückt.“
(Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosopie, Bd. 3)



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de





weiter ...






Ihr Kommentar


Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.