Dem Nichts auf der Spur
Michael Seibel • Die Anfänge (Last Update: 21.11.2017)
Setzen wir uns also auf die Spur des Nichts.
Hier zunächst in der philosophischen Tradition, dann im 2. Teil in der Moderne bei Kant, dann 3. bei Hegel, im 4. Teil bei Sartre. Zu Schluß bei Derrida.
Sich auf die Spur des Nichts zu begeben ist nicht ganz so leicht, denn ›ex nihilo nihil fit‹. Aus nichts folgt auch nichts. Parmenides soll das als erster gesagt haben und später Lukrez in De rerum natura. Heute sagt es der Energieerhaltungssatz, ob in seiner Version der Newtonschen Mechanik oder in der Relativitätstheorie. Beeindruckend, wer alles darüber geschrieben hat. Max Planck, Helmholtz, Feynman. Wie also sollte das Nichts Spuren hinterlassen haben? Es ist ausgemacht. Von nichts kommt nichts. Nicht einmal Spuren. Oder doch?
Das Nichts muß allerdings bereits früher aufgetaucht sein. Es taucht ständig auf, mitten in der Affektivität, im Lieben und Toben der mythischen Helden und zwar dann, wenn Götter, Helden oder selbst Menschen nein sagen, wenn sie widersprechen, sich weigern, etwas ablehnen, an etwas nicht teilnehmen, wenn sie fehlen. Sartre wird sagen,daß das Nichts auf dem Hintergrund des Seins auftaucht. Und so manches Nein dürfte immer schon handfeste Spuren hinterlassen haben. Die Mythen jedenfalls sind voll davon.
Zu unterscheiden davon sind die betont affektfreien Negationen in Aussagen und Urteilen, über die sehr bald Philosophen wie Platon ausführlich nachdenken.
Frühe unübersehbare Spuren des Nichts im europäischen Denken finden sich bei dem Sophisten Gorgias. Gorgias pöbelt, daß weder das Seiende noch das Nichtseiende existiert, daß das Seiende, falls es doch existieren sollte, nicht erkennbar wäre, und daß, falls es wider Erwarten doch erkennbar wäre, das Wissen darum anderen Menschen nicht mitteilbar wäre. Ouk estin, es ist nichts (in Wahrheit)!
Platon reagiert darauf in den Sophistes. Gibt es das Falsche oder gibt es das Falsche nicht?
Aus
Platons Sophistes (237 ff) : „Fremder: Diese Rede untersteht
sich ja vorauszusetzen, das Nichtseiende sei. Denn sonst gäbe es
auf keine Weise Falsches wirklich. Parmenides der Große aber, o
Sohn, hat uns als Kindern von Anfang an und bis zu Ende dieses
eingeschärft, indem er immer in Prosa sowohl als in seinen
Gedichten so sprach: Nimmer vermochtest du ja zu verstehn, sagt er,
Nichtseiendes seie, sondern von solcherlei Weg halt fern die
erforschende Seele. So wird es von ihm bezeugt, vor allem aber muß
es gewiß die Rede selbst zeigen bei gehöriger Prüfung.
(…) Sage mir also: Das auf keine Weise Seiende, das
unterstehen wir uns ja doch irgend auszusprechen? (…) Nicht
meine ich Streitens wegen oder zum Scherz, [237c] sondern wenn einer
von den Zuhörern ernsthaft überlegend zeigen sollte, wo man
dieses Wort »das Nichtseiende« anzubringen hat, glauben
wir, dass er selbst wissen würde, wozu und wobei er es zu
gebrauchen habe, und es dem Fragenden würde zeigen können?
(…) So viel also ist doch gewiß, dass irgend einem
Seienden das Nichtseiende nicht kann beigelegt werden. (…)
Wenn also nicht dem Seienden, würde es auch, wer es dem Etwas
beilegte, nicht richtig beilegen.
Theaitetos: Wie das?
Fremder:
Das ist uns doch auch deutlich, dass wir dieses Wort »Etwas«
jedesmal von einem Seienden sagen. Denn allein es zu sagen, gleichsam
nackt und von allem Seienden entblößt, ist unmöglich.
Nicht wahr? (…) Und gibst du wohl mit Hinsicht hierauf zu,
daß, wer »Etwas« sagt, wenigstens ein Eins
sagt?
(…) Denn das »Etwas«, wirst du sagen, ist
das Zeichen für Eines, das »ein Paar« für die
Zweiheit, das »Einige« dagegen für viele. (…)
Wer daher nicht einmal Etwas sagt, muß ganz notwendig, wie es
scheint, ganz und gar nichts sagen. (…) Dürfen wir nun
etwa auch das nicht einmal zugeben, dass ein solcher zwar rede, er
sage aber eben nichts, sondern müßten sogar leugnen, dass
der überhaupt rede, der sich unterfängt, das Nichtseiende
auszusprechen?
Theaitetos: Dann hätte doch alle Not mit
dieser Sache ein Ende.
Fremder: Noch tue nicht groß. [238a]
Denn es ist noch eine Not hierin zurück, und zwar leicht die
erste und größte: denn sie betrifft den ersten Anfang der
Sache selbst. (...) Einem Seienden könnte wohl ein anderes
Seiendes zukommen.
Theaitetos: Unbedenklich.
Fremder: Wollen
wir aber auch zugeben, es sei möglich, dass dem Nichtseienden
irgend Seiendes zukäme?
Theaitetos: Wie sollten wir?
Fremder:
Alle Zahl insgesamt setzen wir doch als seiend?
Theaitetos: Wenn
anders irgend etwas als seiend zu setzen ist.
Fremder: So dürfen
wir denn nicht wagen, weder eine Mehrheit von Zahl noch auch die
Einheit dem Nichtseienden beizulegen. (...) Wie könnte nun wohl
jemand ohne Zahl das Nichtseiende nur mit dem Munde aussprechen oder
auch nur in seinen Gedanken auffassen?
Theaitetos: Woher
das?
Fremder: Wenn wir »Nichtseiende« sagen, legen wir
da nicht eine Mehrheit der Zahl hinein?
Theaitetos:
Allerdings.
Fremder: Und wenn wir »Nichtseiendes«
sagen, dann wiederum die Einheit?
Theaitetos: Ganz gewiß.
Fremder:
Und wir sagen doch, es sei weder recht noch billig, dass man suche.
Seiendes mit dem Nichtseienden zusammenzufügen. (...) Siehst du
also, wie ganz unmöglich es ist, richtig das Nichtseiende
auszusprechen oder etwas davon zu sagen oder es auch nur an und für
sich zu denken; sondern wie es etwas Undenkbares ist und
Unbeschreibliches und Unaussprechliches und
Unerklärliches?
Theaitetos: Auf alle Weise freilich.
Fremder:
Habe ich mich aber etwa eben geirrt, als ich sagte, ich wolle nur die
größte Schwierigkeit in dieser Sache
vortragen?
Theaitetos: Wieso? Ist noch eine andere, größere
anzuführen?
Fremder: Wie doch, du Wunderbarer? Merkst du denn
nicht eben an dem Gesagten, dass auch den Gegner das Nichtseiende in
Not bringt, so daß, wie auch jemand versuche, es zu widerlegen,
er gezwungen wird, ihm selbst Widersprechendes davon zu sagen? (...)
Es braucht gar nicht, dass man es noch deutlicher an mir sehe! Denn
ich, der ich festsetzte, das Nichtseiende dürfe weder an der
Einheit noch Vielheit teilhaben, habe es doch vorher und jetzt
geradezu eins genannt. Denn ich sage: das Nichtseiende. Merkst du
was?
Theaitetos: Ja.
Fremder: Ja noch ganz vor kurzem wiederum
sagte ich, es sei ein Unaussprechliches und Unbeschreibliches und
Unerklärliches. (...) Indem ich ihm also das Sein zu verknüpfen
suchte, sagte ich dem Vorigen Widersprechendes. [239a] (...) Und
zugleich, indem ich ihm dieses zuschrieb, sprach ich davon als von
einem? (...) Und auch, indem ich es ein Unerklärliches nannte
und Unbeschreibliches und Unaussprechliches, richtete ich doch meine
Rede so ein, als ob es Eins wäre? (...) Und wir behaupteten
doch, wer richtig reden solle, dürfe es weder als eins noch als
vieles bestimmen, noch es überhaupt auch nur es nennen; denn
schon durch die bloße Angabe würde er es als eins angeben.
(...) [239b] Was soll man nun schon von mir sagen? Denn schon von
lange her und auch jetzt fände man mich überwunden in der
Widerlegung des Nichtseienden.
(…)
Fremder:
[257a] Muß man nicht auch von dem Seienden selbst sagen, dass
es verschieden ist von dem übrigen? (...) Auch das Seiende
also ist, wiefern das übrige ist, sofern selbst nicht. Denn
indem es jenes nicht ist, ist es selbst Eins; das unzählig viele
übrige aber ist es nicht. (...) Auch darüber also ist
keine Schwierigkeit zu machen, wenn doch die Begriffe ihrer Natur
nach Gemeinschaft mit einander haben. (...) Wenn wir Nichtseiendes
sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des
Seienden, sondern nur ein Verschiedenes. (...) Wenn wir z.B. etwas
»nicht groß« nennen, meinst du, dass wir durch dies
Wort mehr das Kleine als das Gleiche andeuten?
Theaitetos:
Keineswegs.
Fremder: Wir wollen also nicht zugeben, wenn eine
Verneinung gebraucht wird, dass dann Entgegengesetztes angedeutet
werde, sondern nur so viel, [c] dass das vorgesetzte »Nicht«
etwas von den darauffolgenden Wörtern oder vielmehr von den
Dingen, deren Namen das nach der Verneinung Ausgesprochene ist,
Verschiedenes andeute. (...) Das Wesen des Verschiedenen scheint
mir ebenso ins Kleine zerteilt zu sein wie die Erkenntnis. (...)
Auch jene ist zwar nur eine; aber jeder auf einen andern Gegenstand
sich beziehende Teil wird abgesondert und mit einem eigenen Namen
benannt, [257d] weswegen es so viele Künste und Wissenschaften
gibt. (...) Geht es nun nicht auch den Teilen des Verschiedenen,
obgleich dies auch eines ist, ebenso?
Theaitetos: Vielleicht; aber
sage doch, inwiefern?
Fremder: Ein Teil des Verschiedenen ist doch
dem Schönen entgegengesetzt? (...) Ist dieser nun ohne
Beinamen, oder hat er einen?
Theaitetos: Er hat einen. Denn was
wir jedesmal das Nichtschöne nennen, das ist von nichts anderem
das Verschiedene als von der Natur des Schönen.
Fremder:
Wohlan, so sage mir denn dies. (...) Kam nicht dadurch, dass es von
einer bestimmten Gattung des Seienden erst abgesondert und dann
wieder zu etwas von dem Seienden entgegenstellt wurde, das
Nichtschöne zum Sein? (...) Also eines Seienden Gegensatz
gegen ein anderes, wie es scheint, ist das Nichtschöne. (...)
Wie nun? Gehört nun wohl nach dieser Erklärung das Schöne
mehr unter das Seiende und das Nichtschöne weniger? (...)
[258a] Ebensogut also, muß man sagen, ist das Nichtgroße
wie das Große selbst? (...) So ist auch das Nichtgerechte dem
Gerechten gleichzusetzen darin, dass das eine nicht weniger ist als
das andere? (...) Und von den übrigen ist dasselbe zu sagen,
wenn doch die Natur des Verschiedenen oder die Verschiedenheit sich
unter dem Seienden gezeigt hat. Denn ist sie, so sind notwendig auch
ihre Teile nicht minder als seiend zu setzen. (...) Also ist auch
der Gegensatz der Natur eines Teils des Verschiedenen und der des
Seienden, wenn diese einander gegenübergestellt werden, nicht
minder Sein, wenn man es sagen darf, als das Seiende selbst, und
keineswegs das Gegenteil von jenem bedeutend, sondern nur so viel:
ein Verschiedenes von ihm. (...) Wie sollen wir nun diesen
nennen?
Theaitetos: Offenbar ja ist das Nichtseiende, was wir des
Sophisten wegen suchten, eben dieses.
Fremder: Steht es also, wie
du sagtest, keinem von den andern nach in Hinsicht auf das Sein? Und
darf man schon herzhaft sagen, dass das Nichtseiende unbestritten
seine eigene Natur hat, und dass, gerade wie das Große groß
und das Schöne schön war und das Nichtgroße und
Nichtschöne nicht groß und nicht schön, ebenso auch
das Nichtseiende war und ist nichtseiend und mit zu zählen als
ein Begriff unter das viele Seiende? Oder haben wir hiergegen noch
irgend einen Zweifel, o Theaitetos?
Theaitetos: Gar keinen.“1
Das Nichts wird zur negativen Bestimmung und als das zum Scheidewasser der Erkenntnis.Das Nichtsein mê einai, mê on bedeutet das Anderssein als ein Sein.
Das Christentum kennt keine Theogonie wie bei Hesiod, bei der die Götter zu allererst einmal aus dem Chaos entstehen müssen und Materie noch zugleich Zufall und Möglichkeit sein kann. Was könnte klassisch griechischer sein als die göttliche Gelassenheit, in seinem Sein vom Zufall abhängig zu sein und ebensogut auch nicht zu existieren! Was kratzt es die Götter Griechenlands, wenn sie nicht gezeugt worden wären? Und was stört sie andererseits daran, gezeugt worden zu sein? Nichts. Diese Gelassenheit ist eine Bedeutung des Nichts, auf die die Philosophie des Westens nicht oft hinweist, die sie allerdings unablässig bemüht, ist philosophisches Denken doch an sich selbst bereits das schlechthin Unaufgeregte, gemessen am ihrem Gegenstand, der Bewegung, dem Werden und Vergehen. Die Aufgeregten, das sind die Elterngottheiten, falls ihnen Aufschub droht, wenn ihnen etwas beim Zeugungsakt oder der Vernichtung in die Quere käme. Solchen Eventualitäten setzt sich der Einzige, der Christengott, die ungeschaffene Fülle, von vorn herein nicht aus.
Der Gott des hellenistischen Judentums und des Christentums ist ewig und schafft die Welt aus dem Nichts, eine creatio ex nihilo.2 Die Scholastik wird sich ausführlich damit befassen, nicht nur das Werden in der Welt, sondern gerade auch das Werden der Welt selbst zu denken. Der göttliche Schöpfungsakt vollbringt also das Unmögliche. Anders gesagt: Der göttliche Schöpfungsakt ist nicht einmal von seiner eigenen Möglichkeit abhängig. Das Nichts scheint seinem ontologischen Status nach das einzig Ungeschaffene gewesen zu sein, denn nachdem die Schöpfung einmal geschehen ist und es mithin etwas ist, gibt es das Nichts nicht mehr. Nach vollzogener Schöpfung, wenn alles voll von Sein ist, kann das Nichts nur mehr gedacht werden, wird zum ens rationalis, zum nur noch gedachten und erscheint als ens potentialis immer schon eingepaßt in den göttlichen Weltenbau. Daran ließen sich jahrhundertelang zwei Traditionslinien anknüpfen, eine, die aristotelische Gedanken aufnimmt3 und entlang der Vorstellung vom Unbewegten Beweger einen Horror Vacui4 ausprägt, sowie eine andere, die die Vorstellungen Platons, die wir eben kennengelernt haben, weiter verarbeitet und mittels des Nichts die Dimension der Verschiedenheit, des heteron im Sein zu denken versucht.
Der deutsche Philosoph Hermann Ulrici bekommt es noch Mitte des 19. Jahrhunderts hin, in den beiden Sätzen, aus nichts entsteht nichts und Gott erschafft Sein aus dem Nichts keinerlei Widerspruch zu sehen: »Der Schöpfungsbegriff involviert... keineswegs«, so sagt er, » daß aus nichts etwas hervorgehe oder daß nichts von selbst in etwas übergehe, sondern daß durch etwas, Gott, ein anderes Etwas gesetzt sei«5 ; keine Spur also vom Nichts.
Nichts ist eben ohne Grund - „Im Sinne des zureichenden Grundes finden wir, dass keine Tatsache [fait] als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage [Enonciation] als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund [raison suffisante] dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“6
„[...] nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache [cause] oder wenigstens einen bestimmenden Grund [raison déterminante] gibt, d. h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert.“7
Dafür um so mehr Spuren vom Nichts in Denken: omnis determinatio est negatio. Jede Bestimmung ist eine Negation, wie Spinoza beiläufig in der Erörterung eines geometrischen Zusammenhangs anmerkt. Hegel wird in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie genau darin den entscheidenden Beitrag Spinozas sehen. Er wird ihm allerdings bei der Gelegenheit auch vorwerfen, er habe damit zwar das Prinzip der Negation entdeckt, jedoch die doppelte Negation verkannt, die letztlich entscheidend sei, aus der Bestimmung Wissen werden zu lassen, das Negierte aufzuheben.8 Dazu später mehr.
Und der berühmteste von allen? Goethes Geist, der stets verneint.
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
Der Todestrieb als Himmelselement.
Anmerkungen:
1 Platon, der Sophist, 237 a1 ff., Übersetzung: F.D.E. Schleiermacher, 1807, Quelle: www.textlog.de
2 Augustinus
erklärt diesbezüglich:
„2. Kein Wesen als
solches ist Gott entgegengesetzt, da offenbar nur das, was nicht
ist, der vollendete Gegensatz ist zu dem, der schlechthin und ewig
ist.
Das wollte ich vorausschicken, damit man nicht, wenn von
abtrünnigen Engeln die Rede ist, auf den Gedanken komme, sie
hätten eine andere, aus einem andern Urwesen stammende Natur
erhalten und Gott sei nicht der Urheber ihrer Natur, Von solch
unseligem Irrtum wird man sich um so sicherer und leichter
freihalten, je klarer man sich zu werden vermag über das
Selbstzeugnis, das Gott, als er Moses zu den Söhnen Israels
sandte, von sich gab durch den Engel mit den Worten: „Ich bin,
der ich bin“
1 . Da nämlich Gott das höchste
Wesen ist, d. h. auf die höchste Weise ist, und deshalb
unwandelbar ist, gab er den Dingen, die er aus nichts erschaffen
hat, das Sein, jedoch nicht das Sein auf höchste Weise, wie er
es selbst ist; und zwar gab er den einen mehr davon, den andern
weniger und ordnete so stufenweise die Naturen der Wesen [wie sich
nämlich von weise sein das Wort Weisheit ableitet, so vom
Zeitwort sein [esse] das Hauptwort Wesen [essentia], ein neuer
Ausdruck allerdings, und bei den alten lateinischen Schriftstellern
nicht in Gebrauch
2 . Und demnach ist der Natur, die das Sein
schlechthin ist, durch deren Schöpfertätigkeit alles
Seiende ist, keine Natur entgegengesetzt außer eine solche,
die nicht ist. Dem, was ist, ist entgegengesetzt das Nichtsein. Und
deshalb ist der Gottheit, d. i. dem höchsten Wesen und dem
Urheber jeglicher Wesen, kein Wesen entgegengesetzt.“
(Augustinus, De Civitate Dei, 12. Buch, 2. Kap.)
3 „Denn
auch das Nicht-seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt, weil
ja das Seiende mannigfache Bedeutung hat, und Nicht-Mensch
bezeichnet, daß etwas nicht dies bestimmte Etwas,
nicht-gerade, daß es nicht dieses Qualitative,
nicht-dreiklaftrig, daß es nicht dieses Quantitative ist. Aus
welcherlei Seiendem und Nicht-seiendem geht also die Vielheit des
Seienden (pollà tà ónta) hervor? Nun meint
freilich der Urheber dieser Ansicht den Irrtum (pseudos) und
versteht diese Wesenheit unter demjenigen Nicht-seienden, aus dem
und dem Seienden die Vielheit der Dinge hervorgehe - weshalb es denn
auch hieß, man müsse etwas Falsches voraussetzen, wie
auch die Geometer von der Linie, welche nicht einen Fuß lang
ist, annehmen, sie habe diese Länge-; aber es ist ja unmöglich,
daß sich dies so verhalte. Denn weder setzen die Geometer
etwas Falsches voraus (denn jene Annahme (prótasis) ist ja
gar nicht in dem Schluß (syllogismós) enthalten), noch
kann aus dem in diesem Sinne Nicht-seienden das Seiende entstehen
oder vergehen. Sondern indem das je nach den einzelnen Ableitungen
Nicht-seiende in so vielfachem Sinne ausgesagt wird, wie es
Kategorien gibt, und außerdem noch das Falsche und das dem
Vermögen nach Seiende als nicht seiend bezeichnet wird: so geht
aus dem letzteren das Werden hervor; nämlich aus dem, was nicht
wirklich Mensch ist, aber doch dem Vermögen nach Mensch, wird
der Mensch, aus dem Nicht-weißen, das aber dem Vermögen
nach weiß ist, das Weiße, und so in ähnlicher
Weise, mag nun eines werden oder vieles.“
(Aristoteles,
Metaphysik. 1089A 15, übersetzt von Hermann Bonitz, München
1966)
Über das Leere: „Daß
nun der Naturwissenschaft angehört diese Betrachtung, erhellt
hieraus. Mit Grund aber setzen es Alle auch als einen Anfang. Weder
umsonst nämlich darf es dasein, noch eine andere Bedeutung
haben, als nur die[59] des Anfangs. Denn alles ist entweder Anfang
oder hat einen Anfang. Das Unbegrenzte aber hat keinen Anfang, denn
sonst hätte es eine Grenze. Auch ist es unentstanden und
unvergänglich, indem es Anfang ist. Denn was entstanden ist,
muß ein Endziel nehmen, und ein Ende hat aller Untergang.
Darum scheint, wie wir sagen, nicht dieses einen Anfang, sondern das
Uebrige diese zum Anfang zu haben, und Alles von ihm umgeben und
geleitet zu werden, wie diejenigen sagen, die nicht außer dem
Unbegrenzten noch andere Anfänge annehmen, wie den Gedanken
oder die Freundschaft; ja dieses gilt für das Göttliche,
weil unsterblich und unvergänglich, wie Anaximander sagt und
die Meisten der Naturforscher. – Von dem Sein aber des
Unbegrenzten möchte die Ueberzeugung vornehmlich aus fünf
Umständen für den Betrachter hervorgehen. Erstens aus der
Zeit, denn diese ist unbegrenzt; dann aus der Theilung der Größen,
denn es bedienen sich auch die Mathematiker des Unbegrenzten. Ferner
daß nur so nie ausgeht Entstehung und Untergang, wenn es ein
Unbegrenztes giebt, woher genommen wird das Werdende. Ferner, daß
das Begrenzte stets an etwas grenzt; so daß es nothwendig
keine äußerste Grenze giebt, wenn stets grenzen muß
Eines an das Andere. Am meisten aber und hauptsächlich, was die
gemeinschaftliche Verlegenheit erregt in Allen. Weil nämlich
das Denken kein Ende findet, darum gilt die Zahl für
unbegrenzt, und die mathematischen Größen, und was
außerhalb des Himmels. Ist aber unbegrenzt dieses Außerhalb,
so meint man einen unbegrenzten Körper zu haben, und
unbegrenzte Welten. Denn warum mehr Leeres da als dort? Ist irgendwo
ein Erfülltes, so muß es ja doch allenthalben sein. Und
ist einmal ein Leeres und ein Raum unbegrenzt, so muß es auch
einen unbegrenzten Körper geben. Denn das Können ist von
dem Sein nicht unterschieden in dem Einigen. – Es hat aber
ihre Bedenklichkeiten die Betrachtung des Unbegrenzten. Denn[60]
sowohl wenn man setzt, es sei nicht, folgt Vieles als unmöglich,
als auch wenn man setzt, es sei. Ferner fragt sich, auf welche Weise
es ist, ob als Wesen, oder als an und für sich Umhängendes
irgend einer Wesenheit, oder auf keine von beiden Weisen, aber so,
daß es nichts desto weniger ein Unbegrenztes gebe, oder
Unbegrenzte an Menge.“
(Aristoteles: Physik, 59. f, Leipzig 1829, Übersetzung: C.
H. Weiße, Quelle: www.zeno.org)
4 Vgl. Aristoteles, Physik IV, 6-9
5 Hermann Ulrici , Gott und die Natur, 638
6 G.W. Leibniz: Monadologie, § 32; zit. nach der dt.-frz. Suhrkamp-Ausgabe 1998, S. 27
7 G.W. Leibniz: Theodizee, §44; zit. nach der dt.-frz. Suhrkamp-Ausgabe 1999, S.273
8 Hegel
jubelt: „Spinoza ist Hauptpunkt der modernen Philosophie:
entweder Spinozismus oder keine Philosophie. Spinoza hat den großen
Satz: Alle Bestimmung ist eine Negation. Das Bestimmte ist das
Endliche; nun kann von allem, auch vom Denken (im Gegensatz zur
Ausdehnung) gezeigt werden, daß es ein Bestimmtes ist, also
Negation in sich schließt; sein Wesentliches beruht auf
Negation. Weil Gott nur das Positive, Affirmative ist, so ist alles
andere nur Modifikation, nicht an und für sich Seiendes; so ist
nur Gott die Substanz. So hat Jacobi recht. Die einfache
Determination, Bestimmung (Negation gehört zur Form) ist ein
Anderes gegen die absolute Bestimmtheit, Negativität, Form. Die
wahrhafte Affirmation ist die Negation der Form; das ist die
absolute Form. Der Gang Spinozas ist richtig; doch ist der einzelne
Satz falsch, indem er nur eine Seite der Negation ausdrückt.“
(Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosopie, Bd.
3)
weiter ...
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