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Jacques Derrida: Denken in und mit der Sprache

Katrin Funke, Frank Hahn, Reinhard Hildebrandt •    (Last Update: 02.12.2017)

Die drei Autoren dieses Beitrags haben im Rahmen ihrer Forschungen zum Thema Sprache gemeinsam einen Text von Jacques Derrida gelesen, den sie im Folgenden versuchen zu kommentieren und zu „entschlüsseln“. Es handelt sich um Derridas Aufsatz „Babylonische Türme“, der selbst ein Kommentar zu Benjamins berühmten Text „Die Aufgabe des Übersetzers“ ist. Die folgenden Seiten sind also ein Kommentar des Kommentars zum Thema Sprachverwirrung, Übersetzung, Namensgebung, das so alt ist wie die Geschichte vom Turmbau zu Babel – und so neu wie jeder Tag der Begegnung unterschiedlicher Menschen in dieser vielfältigen Welt.



1. Mythos vom Turmbau zu Babel



Weder die einzelnen Menschen noch die gesamte Menschheit sind sich über den Anfang ihrer Existenz bewusst. Ungefähr bis zum zweiten Lebensjahr hat der heranwachsende Mensch noch nicht die Fähigkeit erworben, seine sinnlichen Wahrnehmungen vom Kurzzeitgedächtnis in ein Langzeitgedächtnis zu überführen und dort zu speichern. Was er über die ersten zwei Jahre seines Lebens weiß, haben ihm andere erzählt. Auf welche Weise die Sinneseindrücke der ersten zwei Jahre jedoch seine Persönlichkeitsentwicklung mitgeprägt und als solche seine Verhaltensweisen und seinen Lebensentwurf mitbestimmen haben, ist den Erzählungen nicht zu entnehmen. Sie bleiben ihm daher unbekannt.
Die gesamte Menschheit teilt mit dem einzelnen Menschen das gleiche Schicksal. Auch ihr fehlen das Wissen und die Erfahrung über ihren Anfang, über das ihr Vorausgehende, sowie über die evolutionsgeschichtlichen Prozesse am Übergang vom „Animalischen“ zum „zoon politikon“. Zu welchem Zeitpunkt die Reflexion und das Bewusstsein über Sprachfähigkeit einsetzte und die mündliche Überlieferung begann, was darin als bedeutend angesehen wurde oder auch nicht und welchen Stellenwert die sprachliche Reflexion in ihrer historischen Erfahrung als Menschheit eingenommen hat, bleibt ihr ebenso verschlossen. Dieser dunkle Teil ist allenfalls in den zahlreichen Mythen über den Ursprung der Menschheit zu erahnen. Noch lange Zeit nach ihrer Entstehung wurden sie nur mündlich überliefert, ehe sie schließlich eine schriftliche Niederlegung erfuhren. Dazu zählen die zahlreichen Mythen über den Anfang des Weltalls, über die Art der Schöpfung und die Gestalt des Schöpfers, dessen Allmacht oder Ohnmacht über Mensch und Natur.
Ebenso zählen Mythen dazu, die sich eine Anzahl von Menschen über ihren gemeinsamen Ursprung zulegen, sobald sie sich als Teilbereiche der ganzen Menschheit bzw. als Gemeinschaften oder Gesellschaften von den übrigen abgesondert haben. Dies kann im Extrem sogar dazu führen, dass – wie im Beispiel Chinas – die Absonderung von den übrigen Teilbereichen der Menschheit ganz verleugnet wird. Der Mythos vom „Anfang ohne Anfang“ hat zur Folge, dass auch das Ende im „Unendlichen“ verschwindet und stattdessen der ständige Wechsel zwischen Stärke- und Schwächeperioden in den Vordergrund der Geschichtsbetrachtung und Philosophie (Ying und Yang) rückt.
Der Mythos vom Turmbau zu Babel nimmt unter den zahlreichen Mythen zweifellos eine herausragende Position ein. Die Erzählung über die Verwirrung der Turmbaumeister und die Verwirrung der Sprachen in der Hauptstadt Babylons werden von Jacques Derrida in seiner Abhandlung über „Babylonische Türme – Wege, Umwege, Abwege“ sogar als „Mythos vom Ursprung des Mythos, als Metapher der Metapher, Erzählung der Erzählung, Übersetzung der Übersetzung“ bezeichnet (119). Dieser Mythos, hebt Jacques Derrida hervor, bringt das „Unangemessene“ und „Unausgeglichene“ im „Selbstverhältnis“ der einzelnen Sprachen und der Sprachen untereinander zum Ausdruck. Z.B. erfassen die verschiedenen Sprachen die einzelne sinnliche Wahrnehmung oftmals nur im Gewande eines allgemeinen sprachlichen Ausdrucks und jede Sprache eröffnet einen spezifischen Zugang zur Vielheit des sinnlich, abstrakt und poetisch zu Bezeichnenden, ohne auch nur annähernd den Anspruch auf Vollständigkeit in der Präsentation der Vielfalt der Bedeutungen erheben zu können. Daraus folgt die „Notwendigkeit des Gestaltens, die Notwendigkeit des Mythos, der Tropen (Austausch des eigentlichen Ausdrucks mit einem anderen: Wein/ Bacchus: d.V.), der Wendungen und der unangemessenen oder ungeeigneten Übersetzung“(119). Dieser Ersatz „für das von der Vielheit Untersagte“ hat wiederum die Notwendigkeit der Dekonstruktion bzw. „Selbstaushöhlung“ der Gebilde, Strukturen und Texte zur Folge, um der Vielheit gerecht zu werden (119).
Der Turmbau zu Babel, notiert Derrida, veranschaulicht nicht nur die nicht reduzierbare Vielfalt der Sprachen, sondern er steht auch für das Unvollendbare, für etwas, „das nicht zu Ende zu bringen“ ist „im Bereich der Konstruktionen, die Architekten besorgen“ und im Bereich des „Systems und der Strukturen“(119). Konstruktionen bestimmen und umgrenzen den Raum, der konstruiert werden soll und können niemals ausschließen, dass der zuvor ausgegrenzte Raum keine Bedeutung mehr für das Konstrukt hat. Konstruktionen sind unabwendbar der Vielheit des Nicht- und Anders-Konstruierten ausgeliefert. Was die Sprache und die Übersetzung von einer in die andere anbelangt, stellt für Derrida die Vielfalt der Idiome nicht nur die Grenze einer „wahren“ Übersetzung (119), einer durchsichtigen und angemessenen Mit-Teilung dar, sondern vielmehr begrenzt sie auch die Ordnung einer Struktur, den Zusammenhang und die Stimmigkeit des Konstruktums: „Wir stoßen auf das Unvollendete und Unvollständige der Konstruktion. Die Übersetzung eines Systems ist dessen Dekonstruktion.“(120). Wenn also nach Derrida die Dekonstruktion des Systems seine Übersetzung ist, dann wird darauf angespielt, dass das gelesen, übersetzt und thematisiert wird, was das System verschweigt, verdrängt, ausschließt und nicht übersetzen will, soll, kann oder darf. Hierbei handelt es sich weniger um eine „reine“ Diskursanalyse als um die weitgehende und komplexe Frage nach der Bedingung eines Systems überhaupt, nach seiner Legitimation und Abgrenzung im Kontext weiterer Systeme.
Schon Voltaire hatte darauf hingewiesen, dass in orientalischen Sprachen der Name (Ba)(Bel) für die jeweilige Hauptstadt reserviert war. Die Worte Ba = Vater, Bel = Gott, Babel = die Stadt Gottes, bezeichneten die heilige Stadt. Der Name Babel hat jedoch abseits vom Eigennamen auch die Bedeutung von Verwirrung angenommen, weil die Baumeister in ihrer Suche, einen Turm bis auf eine Höhe von 81000 Fuß hoch zu treiben, untereinander über die dafür geeignete Konstruktion so sehr in Wirrnis gerieten, dass ihre Verwirrung sogar eine umfassende Sprachverwirrung auslöste (120). 1
Im Mythos trat neben den Eigennamen – als Beziehung eines reinen Zeichenträgers auf ein einmalig Daseiendes – der Gattungsname, der sich auf die Allgemeinheit einer Bedeutung und eines Sinnes bezieht. Dieser Gattungsname, betonte Voltaire, „bedeutet“ (steht für etwas) bzw. er verweist nicht nur auf die zweifache Verwirrung (Verwirrung der Sprachen und Verwirrung der Baumeister), sondern weist auch zurück auf den Namen des Vaters. Babel trägt jetzt nicht mehr nur den Namen Gottvaters, sondern auch den Namen des Vaters, der Verwirrung heißt. Damit ist sie zugleich die Stadt der Verwirrung. Im Mythos hat Gott die Stadt als den „gemeinschaftlichen Raum“, in dem man sich nicht mehr versteht, mit seinem Patronym Gott und dem Namen Verwirrung gekennzeichnet (121). Gäbe es nur Eigennamen und keine Gattungsnamen, hält Derrida fest, könnte man sich nicht verstehen und nicht verständigen. Gleichfalls ist es unmöglich, sich zu verstehen und zu verständigen, wenn es keine Eigennamen gäbe (121).
In der Sprache der ursprünglichen Erzählung gibt es ein Übersetzen, eine Art Übertragen, das unmittelbar und aufgrund einer Verwirrung ein semantisches Äquivalent erstattet, und zwar das des Eigennamens, das von sich aus nicht übersetzbar ist.2 Ein Eigenname kann sich in eine Sprache eigentlich nur einfügen, wenn er sich darin übersetzen lässt, wenn man ihn in der Gestalt seines semantischen Äquivalents zu deuten vermag: pierre – Pierre. Während pierre im Französischen den Stein meint, ist Pierre ein französischer Eigenname, der als Eigenname übersetzbar und unübersetzbar zugleich ist. Um Pierre im Deutschen beispielsweise verstehen zu können, müssen wir daraus keinen „Peter“ machen. Er kann durch seine Großschreibung mühelos „übertragen“ werden, ohne dass jedoch automatisch auch sein Homonym pierre übersetzt würde.
Indem Gott im Mythos vom Turmbau zu Babel dem umgrenzten Raum Babylon seinen Namen gegeben hat und alle Eigennamen ihren Ursprung in der Schöpfung haben, d.h. Gottes Namen als Sprache gegeben sind (es gibt Sprache, es gibt Eigennamen), folgert Derrida, ist im Mythos Gottvater auch der Ursprung der Sprache („die Macht oder die Kraft, das Vermögen der Namensgebung scheint rechtens Gottvater zu gehören“). In der Erzählung der Genesis verbleibend fährt Derrida fort: „Gerade dieser Gott ist es aber auch, der, indem er sich von seinem Zorn bewegen lässt (wie der Gott Böhmes und Hegels, der außer sich gerät, sich in seiner Endlichkeit bestimmt und Geschichte erzeugt), die Gabe der Sprachen tilgt oder doch zumindest die Sprachbegabung wirr macht. Gerade dieser Gott ist es, der Verwirrung stiftet im Schoße seiner Kinder und die Gabe vergiftet (Gift-gift).“(121).
Hier ist anzumerken, dass Gott in der Vorstellung der Menschen oftmals mit Allmacht ausgestattet ist und als Allmächtiger auch über die Zeit verfügt, also unendlich ist. Wenn er sich in der Konstruktion Hegels als Weltgeist entäußert, wird er in diesem Entäußerungsakt zu einem endlichen Gott, der bis zu dem Zeitpunkt, an dem er wieder zu sich selbst zurückkehrt ist, in seiner Endlichkeit – seiner Geschichtlichkeit – verharrt und unabänderlich an sie gebunden ist. Indem er im Verlauf der Geschichte als endlich gewordener Weltgeist wieder zu sich selbst zurückkehrt, vereint er erneut Endlich- und Unendlichkeit in sich.
Aber warum sollte sich Gott von seinem Zorn bewegen lassen und sich als endlicher Gott bestimmen, wenn er bereits als unendlicher Gott das Ende kennt. Als zeitlos über der Geschichte schwebend kennt er ja bereits das Ende und jeden Schritt, der dem Ende vorauseilt. Unabhängig davon wie allmächtig Gott vorgestellt wird und ob Gott sich in seinem Zorn seiner Unendlichkeit entäußert und Geschichte kreiert, erweist sich die Hegelsche Vorstellung als willkürliches philosophisches Konstrukt, in der jeder einzelne „Fortschritt“ in der Geschichte und das Ende vorherbestimmt ist. Der an seine Endlichkeit gebundene Hegel, für den die Zukunft ebenso wie für die gesamte Menschheit stets ungewiss blieb, konstruierte in der „Phänomenologie des Geistes“ die Schöpfung des Weltalls als einen im Voraus und bis zu seinem Ende bestimmten Prozess des Werdens. Das dem endlichen „Geist“ Hegels entsprungene Konstrukt tritt an die Stelle der Schöpfung, die trotz des Hegelschen maßlosen Anspruchs, mit seinem Meisterwerk das Ende der Philosophie eingeläutet zu haben, weiterhin in Ursprung und Ende dem Menschen unbekannt bleibt.
Allein angemessen für die an die Endlichkeit gebundene Menschheit ist, im Laufe ihrer Erfahrungen danach zu fragen, was bereits bekannt ist, also als Wiederholung erscheint, was es an Veränderung zu entdecken und zu beachten gilt und in Zukunftsentwürfe zu integrieren ist. Eine mögliche Herangehensweise wäre, bei jeder neuen Erfahrung neue Details der Schöpfung wahrzunehmen, zu analysieren und die Resultate mit dem bisher Bekanntem zu verknüpfen. Die Frage nach der Schöpfung des Weltalls oder ob das Weltall überhaupt von jemandem geschöpft worden ist, beschäftigt die europäische Philosophie weitaus mehr als beispielsweise die chinesische. In China beginnt die Philosophie mit der Analyse der Natur. Die Frage nach der Schöpfung ist demgegenüber zweitrangig. Die Einheit zwischen Natur und Himmel gipfelt nicht in der Frage nach einem allmächtigen Gott bzw. der Schöpfung des Kreatürlichen durch ihn.
Derrida verbleibt mit seinem Text im Rahmen der Genesis-Narration, ohne Glaubensfragen zu erörtern. Er erinnert an die Entfaltung semitischer Abstammungen, Generationen und Genealogien: „Vor dem Abbruch, Abbau oder der Dekonstruktion Babels war die semitische Großfamilie damit beschäftigt, sowohl ihr Reich zu errichten, das die ganze Welt umfassen, universal sein sollte, als auch ihre Sprache festzusetzen, eine Sprache, die sie ebenfalls dem Weltganzen aufzwingen wollte.“(121/122). Indem die Semiten versuchten, „sich einen Namen zu machen“(129), indem sie eine einzige, allumfassende Sprache stifteten und zugleich ein einzige, einzigartige Genealogie“ schaffen wollten, ging es den Semiten darum, die Welt zur Vernunft zu bringen: negativ betrachtet „koloniale Gewalt“ über andere Völker auszuüben, positiv gesehen, durch Verallgemeinerung ihres Idioms die menschliche Gemeinschaft in das Licht der „friedlichen Transparenz“ zu tauchen (129).
„Der (geschichtliche) Augenblick dieses Entwurfs geht dem Abbruch oder der Dekonstruktion des Turms unmittelbar voraus.“(122). Der Hybris folgte die Verwirrung auf dem Fuße. Denn indem die semitische Großfamilie die ganze Welt beherrschen und ihr die eigene Sprache als universale Sprache aufzwingen wollte, unternahm sie zugleich den Versuch, das Ende der Geschichte zu verkünden und sich selbst als unendlich zu setzen bzw. gottgleich zu werden. (In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder Versuche gegeben, Imperien zu bilden und die Sprache des herrschenden Volkes allen anderen Völkern entweder gewaltsam aufzuzwingen oder mit sanften Druck aufzunötigen. Das hieß zugleich, den von der herrschenden Sprache erfassten Ausschnitt der Sprachvielfalt und der an diese Teilansicht des Ganzen gebundenen Vorstellung von Vernunft für sakrosankt zu erklären.)
Menschen, die in das Handwerk des Schöpfers einzugreifen versuchen, erleiden Verwirrung, lehrt der Mythos von Babylon. Die Dekonstruktion des Turms war zugleich die Dekonstruktion der universellen Sprache, die Zerstreuung der genealogischen Abstammung, die Unterbrechung der (gradlinigen) Abfolge der Geschlechter. Es folgten die Notwendigkeit, die Unumgänglichkeit zur Übersetzung.
Indem Gott seinen Namen vorgab, zerbrach er die rationale Transparenz, den Versuch kolonialer Gewaltausübung, den sprachlichen Imperialismus. Mit dem „Ausrufen seines übersetzbaren und unübersetzbaren Namens“ befreite er die „allumfassende, universale Vernunft (sie unterstand nicht länger dem Herrschaftsbereich einer einzelnen Nation)“. Zugleich beschränkte er die Vernunft in ihrer „Universalität“. Ihr stand fortan keine Sprache mehr zur Verfügung, in der sie sich vollkommen transparent und eindeutig artikulieren konnte und der Rückgriff auf die „reine Sprache“ blieb ihr verwehrt (129).



2. Die reine Sprache ist nicht die universelle Sprache



Den Begriff der „reinen Sprache“ zitiert Derrida von Benjamin, auch verwendet er dessen Bezeichnung „Sprache der Wahrheit“, ohne jedoch diese Benennungen zu übernehmen oder ihnen sinngemäß zuzustimmen. Für Derrida haben wir es hier vielmehr mit einer Sprache zu tun, von der sich kein Sinn ablösen lässt, „um ihn als solchen – als Sinn in eine andere Sprache zu übertragen“, zu befördern, „zu übersetzen“. Sie (die Sprache) ist „übersetzbar“ (als sprachimmanente Übertragung: d.V.) und zugleich „unübersetzbar“ (in andere Sprachen: D.V.). Es gibt einzig den Buchstaben, das Wörtliche – das ist die Wahrheit der reinen Sprache“(162). Derrida scheint zunächst den Eindruck zu erwecken, die „reine Sprache“ Benjamins an die Stelle des Kantschen „Dings an sich“ zu setzen, aber dieser Schein trügt. Die Mehrdeutigkeit, die allen Sprachen eigen ist, erlaubt keinen eindeutigen Schluss von der Oberfläche zum Wesen und zurück zur Oberfläche (zur Erscheinungsweise des Wesens).
Derrida äußert sich dazu im folgenden Zitat: „…Diese zentrale Präsenz ist aber niemals sie selbst gewesen, sie ist immer schon in ihrem Substitut über sich selbst hinausgetrieben worden. Das Substitut ersetzt nichts, das ihm irgendwie präexistiert hätte. Infolgedessen musste man sich wohl eingestehen, dass es kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort besitzt, dass es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird … Die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“ (Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1972, S.424).
Wenn also aufgrund des unendlichen Austausches von Zeichen der Weg von der Erscheinungs-ebene (Oberfläche) zum vorgestellten Wesen nicht exakt bestimmt werden kann und umgekehrt auch der Weg von diesem gedachten Wesen zur seiner Erscheinung (an der Oberfläche) – aufgrund der mit der unendlichen Zeichenvielfalt verknüpften Vielzahl von Bedeutungen – nicht eindeutig ist, wird es sinnlos, weiterhin auf der überkommenen Denkfigur von Wesen und Erscheinung zu beharren. Daraus folgt, dass auch die „reine Sprache“ – wenn es sie denn gäbe – an einem anderen Ort als dem der Denkfigur des Wesens zugeordneten Platz angesiedelt werden muss.
Für Derrida erscheint die „reine Sprache“ Benjamins nicht als solche, sondern ist verborgen in den Idiomen der vielfältigen Sprachen. Jede „Sache“, jedes „Ding“, stellt Derrida fest, „das mit sich selbst identisch ist, (zum Beispiel das Brot selber), wird in jeder Sprache“ auf „verschiedene Weise und in jedem Text einer jeden Sprache auf verschiedene Weise gemeint“ (160). Während das Brot im Französischen le pain ist, müssen wir gleichzeitig wahrnehmen, d.h. übersetzen, dass pain im Englischen der Schmerz bedeutet. Es ist also nicht möglich, den Signifikanten, also die Bezeichnung von etwas ein für alle Mal festzulegen oder gar zu kontrollieren. Genauso wenig wie es möglich ist, ein vermeintliches Signifikat, also ein zu Bezeichnendes eindeutig zu fixieren. Damit durchbricht Derrida die Dichotomien von:

  • Signifikat = Signifikant

  • Wesen = Erscheinung

  • Inhalt = Form

  • Innen / primär = Außen / sekundär

  • Original = Übersetzung / Kopie

Dies hat zur Folge, dass eine Übersetzung nicht von einem Festgelegten, Eindeutigem ausgeht, sondern dass das zu Übersetzende selbst schon der Übersetzung bedarf und seiner Sprache, d.h. seiner „Bezeichnung“ nicht vorausgeht. Wir werden im Folgenden sehen, was dies für Konsequenzen im Hinblick auf die Exegese des heiligen, bzw. poetischen Textes hat.
Die „reine Sprache“ ist in der Vorstellung Derridas also nicht das Kantsche „Ding an sich“, das auf vielfältige Weise an der Oberfläche erscheint, sondern sie ist die in der (Viel) Stimmigkeit verdeckt enthaltene (Gleich)Stimmigkeit, die so lange „im nächtlich Innigen des Kerns“ verbleibt, wie die „Einheit der Stimmung“ nicht zustande gekommen ist.
Deshalb betont Derrida, dass in jeder Sprache etwas gemeint ist, „was dasselbe ist, ohne dass eine Sprache in ihrer Absonderung von den anderen Sprachen daran zu reichen vermag. Die Sprachen können nur dann beanspruchen, es zu erreichen und es sich selbst als Versprochenes zu geben, wenn sie ihre Meinungen, wenn sie laut Derrida die „Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen gemeinsam entfalten“(159).
Alle einzelnen Sprachen und alle gemeinsam zielen mit ihren Meinungen „auf eine Sprache, die weder eine Universalsprache im Leibnizschen Sinne ist noch gar die natürliche Sprache einer einzelnen, abgesonderten, für sich genommenen Sprache; sie zielen auf die Sprach-lichkeit der Sprache, auf die Sprachlichkeit als solche, sie zielen auf jene Einheit ohne Selbst-Identität, die bewirkt oder bedingt, dass es Sprachen gibt und dass jenes, was es gibt, eine Vielfalt von Sprachen ist“. „Worauf sie in der Übersetzung zielen, jede einzelne Sprache und alle Sprachen gemeinsam mit ihren Meinungen“, schlussfolgert Derrida, „ist die Sprache selber als babylonisches Ereignis“(159). Dies würde also bedeuten, dass das babylonische Ereignis Sprache als Ereignis meint, in dem Sinne, dass sie sich ereignet, gegeben wird. Damit ist eine Umkehrung des Verhältnisses zur Sprache implizit: die Sprache begegnet dem Menschen, er ist es, der angesprochen wird, der vom Text gelesen wird und zur Antwort, d.h. Übersetzung „genötigt“ wird. Die Vorstellung von einem autonomen Subjekt, welches sich der Sprache bloß aktiv „bedient“, wird umgekehrt auf eine passive Perspektive, aus welcher heraus, das Subjekt in erster Linie an die Sprache gebunden ist und diese ihm in jeder Hinsicht vorausgeht.



3. Übersetzung und Original



Bevor wir uns der Frage widmen, was es mit der Sprache als „babylonisches Ereignis“ auf sich haben könnte, folgen wir zunächst Derridas Überlegungen, die explizit um das Thema der Übersetzung kreisen. Auch hier geht es um eine „Umkehrung des Verhältnisses“ oder wie schon gesagt einer Aufhebung der Dichotomie – und zwar zwischen Übersetzung und Original. „Der gängige Begriff der Übersetzung erweist sich als problematisch“, hält Derrida fest, „beinhaltet er doch die zielgerichtete Bewegung der Wiedergabe, Rückerstattung und Wiederherstellung: richtet man sich an diesem Begriff aus, besteht die Aufgabe darin, ein zunächst Gegebenes zurück- oder wiederzugeben, ein Gegebenes, das man für den Sinn hält. Alles verfinstert sich aber, versucht man, die Motive des Wiedergebens und des Reifens aufeinander abzustimmen, miteinander zu vereinen. Auf welchem Grund, in welchem Boden wird das Wachsen und Reifen stattfinden, wenn man nicht länger davon ausgehen kann, dass die Wiedergabe des gegebenen Sinns die Regel ist?“(133). Wir müssen diese Aussage Derridas in all ihren Konsequenzen lesen, wenn er sagt, dass die Wiedergabe des gegebenen Sinns nicht die Regel ist. Was ist hiermit konkret gemeint? Etwa dass der Sinn nicht von vorhinein gegeben ist? Dass die Übersetzung nicht einfach nur eine Restitution, eine bloße Übertragung ist? Oder aber, unabhängig vom Wesen des Sinns, dass die Bewegung der Übersetzung keine Struktur von Bild = Abbild meint? Und mit welcher Art von Übersetzung haben wir es dann zu tun, wenn weder der vermeintliche „Sinn“ unumstößlich ist noch die Übersetzung an sich eine zweifelsfreie, eindeutige Aufgabe wäre?
Geht man wie Derrida von einem Reifungsprozess des Originals aus, fügt die Übersetzung dem Original nicht nur einen Zugewinn aus dem Erfahrungsschatz hinzu, der in der Zeit zwischen der Abfassung des Originals und der Übersetzung entstanden ist, sondern die Übersetzung in eine andere Sprache greift auch auf den spezifischen Anteil aus der Vielheit von Bedeutungen zurück, der in der zu übersetzenden Sprache in ganz besonderer Weise enthalten ist und in der Sprache des Originals fehlt oder unterrepräsentiert ist.
Derrida geht sogar noch weiter und formuliert auf verwirrende Weise: „Als solche kann die Übersetzung nicht übersetzt werden“(149). Nur ein Kern könne sich dem Eingriff einer neuen Übersetzung aussetzen, ohne in ihr aufzugehen: denn ein Kern widersteht der Übersetzung, „die er liebend anzieht“. „Man erkennt das Original daran, dass es sich als solches immer wieder übersetzen lässt.“ Wenn ein Original sich immer wieder übersetzen lässt, bedeutet dies nicht dann auch, dass jeder Text ein Original ist? Dass jeder Text seiner Auslegung bedarf und niemals nur für „sich allein“ stehen kann? Dass von keinem(!) Text das letzte Wort gesprochen werden darf?
Derrida bedient sich zur Erklärung des Beispiels einer Frucht. „So eng wie Frucht und Fruchthaut, Kern und Schale aneinander haften, so eng, gedrängt, zusammengezogen, an sich haftend ist die Einheit von Gehalt und Sprache im Original“(149). „Der wesentliche Kern ist nicht der Gehalt, sondern das Haften, das Gehalt und Sprache, Frucht und Schale zusammenhält“(150). Das Verhältnis von Gehalt und Sprache ist laut Derrida in der Übersetzung ein anderes. In der Übersetzung umgibt die Sprache den Gehalt wie ein Königsmantel, d.h. als „höhere Sprache als sie ist“. „Die Übersetzung verspricht ein Königreich (im Augenblick) der Versöhnung der Sprachen. Dieses Versprechen, dieses symbolische Ereignis, das zwei Sprachen so zusammenfügt, paart, vermählt, als wären sie die beiden Teile eines größeren Ganzen, bezieht sich auf eine „Sprache der Wahrheit“, es ruft nach ihr und bedarf ihrer. Die Sprache der Wahrheit ist freilich keine wahre Sprache, einem äußeren Inhalt angemessen; sie ist wahrhaft Sprache, deren Wahrheit sich nur auf sich selbst bezieht.“( 157/158). Derrida spricht hier in Anlehnung an Benjamin von der Versöhnung der Sprachen, vom Versprechen. Was meinen diese „messianischen“ Metaphern? Stützen sie sich auf die Annahme, dass gar ein messianisches Ereignis im Sinne einer Erlösung, eines „endgültigen“ Verstehens, eines befreienden letzten Wortes möglich wäre? Was aber wäre das? Wäre es wie nicht sprechen? Wäre alles gesagt / gedacht / verstanden? Wäre alles vernommen worden sein? Und wenn ja, in wessen Namen, in welcher Übersetzung? Oder aber impliziert die messianische Rede von der Versöhnung ihre eigene Möglichkeit? Die Unmöglichkeit der Dialektik, der letzten „Aufhebung“? Und wenn es die eine Übersetzung geben würde, so hätten wir dann nicht schon längst mit dem Übersetzen brechen können? Wäre dann nicht schon längst „Sinn“ und Übersetzung eins, selbstredend sozusagen?
Derrida fährt an dieser Stelle fort, die Vorstellung von der Autonomie des Originals, seine Originalität, zu dekonstruieren. Der Text (Original) ist schon in seiner Entstehung (und d.h. in seiner Sprachlichkeit) nicht eigen, nicht allein, nicht autonom, sondern bedürftig (der Übersetzung), verwoben, verschuldet. Ein jeder Text steht im double bind, d.h. er steht im Kontext aller vorherigen und ihm folgenden Texte und Sprachen. Mehr noch, er verdankt seine Textur einer größeren, ihn umgebenden Textur (Sprachlichkeit), in die er eingewoben ist und von welcher er sich niemals lösen lassen wird. Das Gewebe eines jeden Textes ist markiert von Dissemination, von Kontamination mit dem anderen Text (der anderen Sprache). Von daher wird die Bezeichnung „Original“ hinfällig, verweist sie doch auf eine (ideengeschichtliche) Vorstellung von reinem Ursprung, Essenz, Individualität, also Unteilbarkeit mit sich selbst. Daher Derridas Satz: Il n’y pas de hors-texte (es gibt kein Außerhalb des Textes).



4. Leben, Fortleben und Verschuldung


Aus diesen Überlegungen erhellt, warum Derrida eine Übersetzung nicht auf die Wiedergabe des Sinns reduziert. Die „Wahrheit“ jenseits möglicher Übertragung und Übersetzung besteht für ihn „nicht in einer darstellenden Entsprechung zwischen Original und Übersetzung, ebenso wenig wie in einer ursprünglichen Angemessenheit des Originals, das sich auf einen äußeren Gegenstand oder eine Bedeutung außerhalb seiner selbst bezieht“(153). „Anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, schreibt Derrida, muss sich die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Weise des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen“. Die Liebe „gibt nicht wieder, erstattet nicht, stellt nicht dar“. „Sie dehnt den Körper der Sprachen, legt und streckt ihn, sie bringt die Sprache zu einer symbolischen Ausdehnung.“ (146). Eine Übersetzung vermählt sich dem Original, wenn die beiden zusammengefügten Bruchstücke, die so verschieden sind wie möglich, sich ergänzen, um eine größere Sprache zu bilden. Dies geschieht im Zuge eines Überlebens, das beide verändert und verwandelt.
Was Derrida darunter versteht und durchaus zu Missverständnissen führen kann, wird im folgenden Zitat deutlich. „Statt anzunehmen, dass wir immer wissen, was die Begriffe des ‚Lebens’ oder der ‚Familie’ bedeuten, wenn wir auf diese vertrauten, auf familiäre Begriffe zurückgreifen, um von Sprache und Übersetzung zu reden, müssen wir erwägen, dass uns erst ein Denken der Sprache und ihres ‚Überlebens’ im Übersetzen Zugang verschafft zu einem Denken, dass es uns erlaubt, die Bedeutung von ‚Leben’ und ‚Familie’ zu begreifen.“(133).
Hat demnach also die Sprache den denkenden Menschen erst hervorgebracht, indem sie sich – ohne das Dazutun des Menschen – ereignet? Ist die Sprachfähigkeit des Menschen als Gabe (es gibt Sprache und wir haben an ihr teil) die Bedingung des Denkens? Oder hat sich vielmehr die Fähigkeit zur Sprache in der Evolutionsgeschichte der Menschheit erst allmählich verfeinert, ist Bedingung ihrer Erfahrung und befähigt den Menschen zu komplexen Denkleistungen?
Offenbar gehören Sprachlichkeit und Menschheit unzertrennlich zusammen. Derrida verweist z.B. darauf, dass die Bedeutungen der Begriffe „Leben“ und „Familie“ sich nur dann dem Menschen erschließen, wenn er sie nicht als reine Denkleistung betrachtet, sondern das mit diesen Begriffen Gemeinte der Sprache und dem Überleben des Gemeinten in der Sprache entnimmt. Am Bespiel „Trauer“ können wir dies verdeutlichen: nicht das Wort (der Name) „Trauer“ kann das Gefühl der Trauer in einer andere Sprache übersetzen, während zugleich ein Gedicht oder eine poetische Wendung „Trauer“ fühlbar machen können, sie gleichsam „inszenieren“. Trauer ist gewissermaßen in der Sprache und ereignet sich auch hier. Und hierin liegt wohl ein ungeheures Potential der Sprache, nicht nur in poetischer Hinsicht. Sprache ist zwar nicht automatisch Handlung, aber es gibt keine Handlung, kein Gefühl, keine Reflexion, die von ihr wirklich zu trennen wären.
Die höhere Sprache der Übersetzung teilt mit jeder anderen Sprache den Nachteil, nur ein Idiom zu sein. Wenn sie aber in dem Bestreben ausgeführt wurde, der „Sprache der Wahrheit“ näher zu kommen, ergänzt sie den Gehalt, postuliert Derrida. Die Übersetzung ist „zweck-mäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander“. Aus solcher Sicht versucht die Übersetzung nicht, dieses oder jenes auszudrücken, diesen oder jenen Inhalt zu vermitteln, diese oder jene Sinnlast mitteilend abzuladen, sie versucht vielmehr, die „Affinität zwischen den Sprachen bemerkbar zu machen, auszuzeichnen, ihre Markierung zu markieren;“ „sie versucht ihre eigene Möglichkeit auszustellen“ (143).

  1. „Die Theorie der Übersetzung hängt also im wesentlichen nicht von einer Rezeptionstheorie (verstehenden Aufnahme) ab“(135).

  2. „Übersetzen hat ein Mitteilen nicht zur wesentlichen Bestimmung“. Laut Benjamin besteht zwischen Original und Version „eine strenge Dualität“(135).

  3. Die Übersetzung ist weder Bild noch Abbild („beim Übersetzen geht es weder um Rezeption noch um Kommunikation, noch um Repräsentation“) (136).

Im Weiteren folgt Derrida dem Text Benjamins, der das „Werk“ (Original, Übersetzung?) als „unvergesslich“ bezeichnet (137). „Es wird unvergesslich gewesen sein.“ „Die Struktur des Fortlebens“ ist „ein A priori – der Tod ändert nichts daran“(138). Mit der Bezeichnung „Werk“ deutet Benjamin an, dass es sich nicht um einen belanglosen Text handelt. Ein wirkliches „Werk“ überlebt nicht nur seinen Urheber, sondern auch seine Übersetzer. „So wie die Äußerungen des Lebens inniglichst zusammenhängen mit dem Lebendigen, ohne ihm etwas zu bedeuten, sagt Benjamin, so geht die Übersetzung aus dem Original hervor.“ Diesen Satz können wir auch folgendermaßen übersetzen: So wie die Sprache (die Idiome) inniglichst zusammenhängen mit der Sprachlichkeit (es gibt Sprache), ohne ihr etwas zu bedeuten, so geht die Übersetzung (in allen Sprachen) aus dem Original (der Sprachlichkeit, bzw. Wahrheit der Sprache / reinen Sprache) hervor. Dies bedeutet, dass alle Sprachen in einem gleichen Verhältnis zur Sprachlichkeit an sich stehen, d.h. in gleicher Weise durch sie bedingt sind und sich von ihr her bewegen, sie begründen sich in der Möglichkeit von Sprache überhaupt.
Dieses Verhältnis ist formal und in diesem Sinne spricht Benjamin von einem formalen Gesetz, einer Struktur die bindend ist, die einem in der Schuld-Stehen gleichkommt. Hierbei handelt es sich um eine Art von Schuld, die nicht in dem Sinne von Strafe im Zuge eines Schuldigwerdens zu verstehen ist, sondern um eine Verstrickung, genau genommen um eine textuelle Verwebung, deren Anfang, deren Ursprung sich der Exegese entzieht. Alles, was über diese textuelle Verwebung gesagt werden kann, ist, dass sie einen aporetischen Charakter aufweist, da sie zum einen die Möglichkeit von Sprachlichkeit überhaupt erst gibt (verstanden als Gabe), zum anderen jedoch damit nicht schon die Sprache(n) an sich vorgibt oder bestimmt. Denn wir können zu jeder Zeit dem Lebendigen, d.h. der Sprachlichkeit, keine Bedeutung zumessen, sie ignorieren oder sogar negieren. Oder aber, so wie es im Mythos von Babel der Fall ist, an die Stelle der Sprachlichkeit, des Lebendigen, die Verwirrung, bzw. Gott setzen. Doch wir sehen, dass auch die Setzung von Gott dem double bind der Sprache nicht entgehen kann, sondern anders gesagt Gott selbst der Sprachlichkeit bedarf, indem er verwirrt, macht er sich selbst unlesbar. Wir werden hierauf im Folgenden zurückkommen.
Das Werk entfaltet eine vom Autor unabhängige Existenz, ähnlich wie die Sprache der Sprachlichkeit an sich nichts bedeutet, also gewissermaßen unabhängig von ihr ist. In Anlehnung an Hegel gibt es Leben dann, „wenn das ‚Überleben’ (der Geist, die Geschichte, das Werk) über das biologische Leben und den biologischen Tod hinausgeht“. Dem Philosophen entsteht „die Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem der umfassenden Geschichte zu verstehen“(134). Aufgabe des Übersetzers ist es, das Überleben der Werke sicher zu stellen. Das ist mehr als Fortleben. Das Werk lebt nicht nur länger, sondern „mehr noch und besser, über die Verhältnisse seines Autors hinaus“(135). Damit besteht das Band der Schuld nicht zwischen dem, der gibt, und jenem, dem etwas gegeben wird, vielmehr zwischen den Texten (zwischen zwei Erzeugnissen oder zwei Schöpfungen). „Wenn die Struktur des Werkes in einem ‚Überleben’ besteht, ist man nicht einem vermeintlichen Subjekt etwas schuldig, das angeblich der Autor des Originals ist“ – „Im Schulden verstrickt ist vielmehr, was in der Immanenz des Originals das formale Gesetz darstellt“(138). Derrida sagt dazu: „Wenn nämlich die Struktur des Originals von der Forderung nach Übersetzung markiert wird, so heißt dies, dass es, indem es das Gesetz diktiert, auch gegenüber dem Übersetzer in ein Schuldverhältnis gerät. Das Original ist der erste Schuldner, der erste Bittsteller, es ist das, was zuerst fordert und verlangt, es fängt an mit einem Verfehlen eines Ermangelns, es beginnt damit, sich nach Übersetzung zu sehnen, um das Vermisste zu trauern und zu flehen. Dieses Verlangen, Ersuchen, Erfordern lässt sich folglich nicht allein dort ausmachen, wo die Baumeister oder Konstrukteure des Turms sich einen Namen machen und eine allumfassende, universale Sprache schaffen wollen, die sich selber übersetzt; das Erfordern, Ersuchen, Verlangen übt seinen Zwang ebenfalls auf jenen aus, der den Turm abbaut: auf den Dekonstrukteur“(140).
Das Original unterliegt selbst dem in ihm enthaltenen formalen Gesetz des Wandels. „Gegeben ist es in der Veränderung; es gibt sich hin, indem es sich verändert, so dass die Gabe nicht die eines vorgegebenen Gegenstandes ist. Das Original lebt und überlebt in der Wandlung: Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte“ (138/139). Es ist die Nachreife eines lebendigen Organismus oder eines Samens (139, AÜ.S.12).


5. Der Eigenname


Die Thematik von Leben, Überleben und Fortleben führt Derrida schließlich auf die Bedeutung des Eigennamens – denn „wo die Handlung des Lebendigen, der sterblich ist, weniger ins Gewicht zu fallen scheint als das Überleben des in Übersetzung begriffenen Textes (des übersetzten und des übersetzenden Textes), muss die Signatur des Eigennamens sich davon unterscheiden und darf sich nicht so leicht vom Vertrag oder von der Schuld zurückziehen“(139). Und weiter: „Die Frage der Eigennamen erweist sich hier als entscheidend und wesentlich“(139). Zunächst fragt Derrida nach dem sterblichen Autor des Textes und dem ebenfalls sterblichen Übersetzer. Der Eigenname überlebt beide, deswegen ist er wesentlich. Die Signatur des Eigennamens, so Derrida weiter, muss sich von der Handlung des Lebenden, der sterblich ist, unterscheiden, sie (die Signatur) dürfe sich nicht vom Vertrag und von der Schuld zurückziehen. Und dann erinnert Derrida noch, dass es seit und in und mit Babel um den Überlebenskampf des Namens geht.
Was ist damit gemeint? Der Eigenname „ist mehr“ als der Autor; wenn wir nämlich nach einem Menschen fragen, wer er sei, was sein Merkmal sei, seine „Persönlichkeit“, dann mögen wir dieses und jenes aufzählen, aber „vollständig“ werden wir diesen Menschen nie beschreiben. Die ständigen Veränderungen seiner „Persönlichkeit“, die geheimen Winkel seiner Seele, und wer er hätte werden können, dies alles gehört zu ihm, wird aber von den Anderen selten oder nie erwähnt oder auch nur wahrgenommen. Im Eigennamen aber ist all dies „aufgehoben“. Der Name wurde dem Namensträger gegeben, es sind also schon Erwartungen Anderer in ihm an ihn geknüpft; und auch die Verpflichtung, dem gegebenen Namen gerecht zu werden. Der Name lebt aber auch nach dem Tode weiter, und so verbindet sich im Namen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Namen wird man angesprochen und in die Mitte des Lebens gerufen, so fällt niemand der Namenlosigkeit zum Opfer, zugleich aber kann man sich seinem Namen bis ans Lebensende nicht entziehen, im Namen laufen alle Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, verpassten Möglichkeiten, Stolz und Freude an Erlebtes, aber auch alle Schuld und alles Verfehlen wie in einem einzigen Wort zusammen. Und genau deswegen steht der Eigenname für die Einzigkeit der Person, er ist nicht reduzierbar auf einige wenige Merkmale und also nicht übersetzbar. Der Eigenname trägt nicht nur ein ganzes individuelles Leben, sondern trägt dieses Leben über die Zeiten und Räume hinaus, er lebt noch nach dem Tod seines Trägers in den Erinnerungen der Überlebenden. Sie aber gehen schon mit dem Erinnern eine Verpflichtung ein, und zwar die des Übersetzens – denn wie anders können sie der Gefahr entgehen, sich des Namens der Anderen nur in ihrem Namen zu erinnern? Dies hieße, Gewalt anzuwenden gegenüber denen, die sich nicht mehr wehren können – die Schuld gegenüber dem Namen muss das Erinnern prägen, sei es das individuelle oder kollektive.
Besonders deutlich zeigt sich die Problematik / Struktur des Eigennamens an den Namen jener Menschen, die durch die Shoah um ihr Leben gebracht wurden. Ihre Namen leben weiter oder präziser ausgedrückt, sie sind alles, was außer der Asche zurückgeblieben ist. Sie sind Eigennamen, die nun für eine Leerstelle stehen, sie überleben ihren Träger ewig, sie können auf ewig vernommen werden, da, wo die Sprache an sie erinnert, auf sie verweist, sie abstrakt „benennt“, ohne je konkret etwas über ihre „Wahrheit“, ihr „nächtlich Inneres“ (Benjamin) sagen oder übersetzen zu können. Und dennoch trägt jeder „Stolperstein“ einen bestimmten Eigennamen, erinnern die „Murs des noms“ (Die Mauern der Namen) in der ganzen Welt an diese unübersetzbaren Leerstellen, an diese Abwesenheit und damit an Leben und Über-Leben. Die Sprache stirbt nicht. Der erinnerte Eigenname kann die Inkommensurabilität seiner eigenen Geschichte nicht gerecht werden, sie nicht ausdrücken, sie nicht ansatzweise übersetzen. Und dennoch ist er mehr als eine bloße Abfolge oder Kombination von Buchstaben.
In diesem Sinne ist der Übersetzer dem Eigennamen gegenüber verschuldet. Was bedeutet das? Der zu übersetzende Text ist mit einem Eigennamen signiert, der in jeder Übersetzung eine neue Nuance bekommt, ohne sich dagegen wehren zu können. Zum einen also gehört mir mein Name nicht, denn ich erlebe zuweilen, wie mein Name von Anderen geschändet oder fehl gedeutet wird. Zum anderen verfehle ich selbst oft die Verpflichtung, die mir im und mit meinem Namen gegeben ist. Mein Name gehört mir, und er gehört mir auch nicht, so wie die Sprache. Gerade deswegen verlangt er nach Übersetzung, d.h. hier Überleben und Fortleben. Wir werden zu unseren Lebzeiten bestenfalls nur zu einem Teil die Verpflichtung erfüllen, die uns mit dem Namen gegeben wurde. Deswegen bedarf der Name des Fortlebens, damit sich manches an ihm erfüllen mag, was zu Lebzeiten seines Trägers nicht gelingen mochte. In jedem Eigennamen spiegelt sich so die Tragik des Namens Gott wider – die Verwirrung, die Schwierigkeit und zugleich Aufgabe des Übersetzens. Dass selbst Gott diesem double bind nicht entkommt, kann nur darin münden, dass wir alle gegenseitig gegenüber den Namen verschuldet sind, d.h. verschuldet sind über den Lebtag hinaus.
Derrida sagt: „Zahlungsunfähig nach beiden Seiten hin, findet die doppelte Verschuldung in einem Verhältnis zwischen Namen statt. Sie übersteigt a priori die Namensträger, begreift man diese als sterbliche Körper, die mit dem Überleben des Namens verschwinden. […] die Schuld verpflichtet oder (ver)bindet nicht lebendige Subjekte, sondern Namen am Rand der Sprache; streng genommen geht es bei dieser Schuld um den Zug, der ein zusammenbringendes und vertraglich verpflichtendes Verhältnis stiftet, zwischen dem besagten lebendigen Subjekt und seinem Namen, der sich am Rande der Sprache hält.“ Halten wir mit Derrida noch einmal fest: die Schuld verbindet nicht lebendige Subjekte, sondern Namen am Rand der Sprache. Das sprachliche Subjekt ist also nicht direkt von der Schuld „betroffen“, wohl aber ist es Träger eines Namens, d.h. es ist in der Sprache und somit schon immer antwortend, in der Schuld, antworten zu müssen, ohne gefragt worden zu sein. Für das Verhältnis der Übersetzung bedeutet dies, dass nicht nur die Signatur des Eigennamens des Anderen übersetzt werden muss, sondern zunächst auch der Eigenname an sich für einen jeden selbst zu übersetzen ist. Wer also bin ich, wenn ich in meinem Namen spreche? Kann ich in meinem Namen für oder über den Anderen sprechen, d.h. ihn übersetzen? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?
Bedeutet dies in Bezug auf die Übersetzung von Texten nicht, dass der Übersetzer einen Teil dieser vertraglichen Verpflichtung zwischen dem lebendigen Subjekt und seinem Namen übernimmt? Wenn so alle untereinander in ihrem und gegenüber ihrem Namen verschuldet sind, dann entsteht damit ein Geflecht der Verpflichtung allen schon gestorbenen und noch kommenden Geschlechtern gegenüber. Wie anders können wir es einlösen als in der über-setzenden Arbeit am Text, durch die er fortlebt, überlebt, wächst und nachreift – wodurch schließlich das Fortleben, Überleben und Nachreifen der in ihn eingeschriebenen Namen möglich wird.


6. Die Sprachlichkeit der Sprache


Es folgt wiederum eine längere Passage der Kommentierung des Benjamin-Textes, in dem es um die „Art des Meinens“, die „Intention“ und schließlich die Affinität der Sprachen in dieser Intention und dieser Art des Meinens geht. Damit tastet sich Derrida an die „Sprachlichkeit“ heran, die vor jeder – einzelnen – Sprache und damit vor den Sprachen existiert. Die Rede ist von einer „Sprache“, die sich nicht auf einen Inhalt bezieht, die also nichts abbildet, nichts bezeichnet, also nicht Zeichen ist. Aber folgen wir ihm schrittweise, beginnend mit der Affinität der Sprachen:
„Wo wäre indes die ursprüngliche Affinität zu suchen…In jeder Sprache wird etwas gemeint, was dasselbe ist, ohne dass eine Sprache in ihrer Absonderung von den anderen Sprachen daran zu reichen vermag. Die Sprachen können nur dann beanspruchen, es zu erreichen und es sich selber als Versprochenes zu geben, wenn sie ihre Meinungen, wenn sie die „Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen“ gemeinsam entfalten.“
Derrida behauptet also, dass jede Sprache „dasselbe meint“, wenngleich sie dieses als eine von den anderen abgesonderte Sprache niemals wirklich sagen kann. Nur dann werde dieses „Es“ tatsächlich „erreicht“ (d.h. benennbar), wenn alle Sprachen sich gemeinsam – einander ergänzend – dahin entfalten, dieses „Es“ auszusagen. Die spannende Frage, die sich hier erhebt, lautet natürlich: was meint Derrida mit diesem „Es“? Allzu leicht könnte man dazu verführt werden, dieses „Es“ zu mystifizieren oder zu verdinglichen – in jedem Fall hier einen Mythos, eine ursprüngliche Wahrheit, eine Transzendenz oder Ähnliches unterzuschieben, das sich nur aussagen ließe, wenn all die unterschiedlichen „Arten des Meinens“ aus allen Sprachen zusammengeführt werden. Wie soll dieses zusammenführen aber aussehen? Sollen wir uns dies als Addition vorstellen oder als Vermischung? Schon in dieser Frage erhellt die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens, die Art des Meinens aus allen Sprachen soz. „auf einmal“, in einem Akt zu denken oder auszusprechen.
Derrida korrigiert deshalb seinen Begriff des gemeinsamen Entfaltens (der einander ergänzenden Intentionen) auch sogleich, indem er von Rückfaltung spricht. Und zwar fordert er diese Rückfaltung für alle Sprachen, wenn sie sich in ihren Intentionen ergänzen sollen. Rückfaltung aber worauf-hin? Auf die „reine Sprache“, wie Benjamin es sagen würde. Wie gesagt vermeidet Derrida diesen Ausdruck, für ihn gibt es keine „reine Sprache“, aber eine „Sprache der Wahrheit“. Er berührt Benjamins Diktum womöglich insofern, als dass er an dieser entscheidenden Stelle hervor-hebt, was wir oben bereits sagten: die gemeinsame Intention aller Sprachen geht nicht auf ein „über die Sprache Hinausgehendes, ein Transzendentes..“ sondern auf die Sprache als babylonisches Ereignis, auf die Sprachlichkeit der Sprache. Diese Sprachlichkeit nennt Derrida jene „Einheit ohne Selbst-Identität, die bedingt oder bewirkt, dass es Sprachen gibt…“(ebd.).
Nochmals unterstrichen: gesucht wird keine „Universalsprache im Leibnizschen Sinn“, die gewissermaßen durch eine bestimmte Formalisierung und strukturelle Reduzierung die „Verständigung“ vereinfachte, sondern jenes Ereignis und jene Verfasstheit der Welt, welche überhaupt Sprache möglich – und nötig – macht. Das „babylonische Ereignis“ besagt somit weitaus mehr als den Mythos des Turmbaus zu Babel. Vielmehr meint es das ständig sich wiederholende Ereignis der Verwirrung, Übersetzung und Namensgebung. Dieser fort-laufende, nie sich erschöpfende Prozess des Sprechens und Hörens, Fragens und Antwortens – ohne je die eine Antwort zu erhalten (!) – müsste die Menschen schier in den Wahnsinn treiben, wenn dieser Prozess nicht lediglich die hörbare und sprechbare Seite der reinen Sprachlichkeit wäre, die immer schon in der Welt anwesend ist und in der die Welt überhaupt erst verfasst ist. Dies also war mit dem „Es“ gemeint, mit dem „Selben“, das alle Sprachen meinen, wenn sie sprechen. Sie wollen nicht etwas aussagen, sondern die Sprachlichkeit – anders gesagt: die verschiedenen Sprachen suchen danach, jenseits der Bedeutungen ihrer Worte die Sprachlichkeit als solche auszusagen. Wir stehen damit vor einem neuerlichen Fragezeichen: was besagt das Wort „Sprachlichkeit“?
Zur Beantwortung dieser Frage führt Derrida den Leser nochmals über einige Klippen, indem er scheinbar sich mehrfach wiederholt und von der „Harmonie“, der „Einstimmigkeit“ oder dem „Akkord“ der Sprachen schreibt – immer wieder an das Motiv der Ergänzung aller Sprachen zu einem Ganzen anknüpfend, das nur in der Übersetzung der einen in die andere ermöglicht werde. Dann aber tauchen plötzlich Begriffe wie „Offenbarung“ und „religiöse Schlüsselsprache“ auf. Das „unendliche Aufleben“ der Sprachen, das sich in der Übersetzung ereigne, sei keine Offenbarung, sondern eine Ankündigung und Verkündigung, ein Verbünden und Versprechen. Tatsächlich ist nach jüdischem Verständnis bei der Offenbarung nichts „gesagt“ worden, sondern etwas ist undeutlich als Donnern oder Grollen vernommen worden. In diesem Donnern hat sich „etwas“ angekündigt, ist „etwas“ versprochen worden – z.B. die Sprachlichkeit und die Möglichkeit des Übersetzens. Aber: zugleich die Grenze der Übersetzbarkeit, wie sie in der religiösen Schlüsselsprache, im heiligen Text gezeichnet wird. Derrida sagt dazu: „Als heiliges Wachstum der Sprachen kündigt die Übersetzung das messianische Ziel, das messianische Ende an; das Zeichen dieses Endes ist allerdings darin gegenwärtig allein als Wissen um die Entfernung, um die Entfernung, die den Bezug zum Ende stiftet.“ Dies bedeutet gleichzeitig, dass das Wissen um Entfernung sich nicht auflöst, dass keine Dialektik (Aufhebung), kein System die Entfernung beheben kann. Die Entfernung zum Ursprung, zum letzten Wort, bleibt trotz aller möglichen Übersetzungen. Dass diese Grenze, diese Entfernung nicht als Verlust, sondern gerade als Chance und Bedingung der Möglichkeit von Freiheit gelesen und übersetzt werden kann, wird im Folgenden noch deutlich werden.
Diese Entfernung könne man erahnen, und nur sie lasse uns in ein Verhältnis zur „Sprache der Wahrheit“ treten. Anders gesagt: die Ankündigung einer „Sprache der Wahrheit“, die Erfahrung der Grenze von Übersetzbarkeit, die wir im Übersetzen der heiligen Texte machen und die sich in jeder Übersetzung auch literarischer Texte widerspiegelt, geben uns mehr als „nur eine Übersetzung“. Sie geben uns die Erfahrung der Entfernung zwischen der „Sprache der Wahrheit“ (oder der Sprachlichkeit) und dem tatsächlich gesprochenen, geschriebenen und übersetzten Wort. Sie geben uns – wenn wir mit Rosenzweig, Cohen oder Adorno sprechen – die Erfahrung des unaufhebbaren Restes, des Übersinnlichen, des zusätzlichen Hauchs oder des unbestimmten Hofs, von denen jedes Wort umschwebt wird. Hier wird nichts mystifiziert – im Gegenteil: Derrida nennt es das Vorgefühl oder die Gestalt einer Ahnung des Abwesenden. Eine Mystifizierung dieses Abwesenden geschieht dann, wenn wir es benennen – mit Worten wie Gott, Transzendenz oder Jenseitigkeit. Mit diesen Worten glauben wir „es“ aufzuspießen und wie eine Trophäe mit nach Hause zu tragen. Derrida aber vermeidet jede Jagd nach Trophäen, indem er uns jenseits der Grenze der Übersetzbarkeit „nur“ die Sprachlichkeit erfahren lässt. Schlimm genug für Ontologen, Metaphysiker, Logiker, Idealisten und andere „Denker“, die ständig auf Trophäen-Jagd sind und dabei Ideen, Logos, Nous, Vernunft etc. mit zur Strecke bringen möchten. Vergesst diese Jagd nach den Gespenstern der griechischen Welt, so könnte man Derrida lesen! Wenn ihr nach der Sprachlichkeit fragt, türmen sich genug Fragen auf. Und so versucht Derrida selbst, die Frage, was denn Sprachlichkeit an sich sei, zu beantworten: im heiligen Text ließen sich Sinn und Wörtlichkeit nicht mehr auseinander halten. In diesem heiligen Text fehle jeder Sinn außerhalb der Wörtlichkeit – d.h. das Wort bezeichnet nicht etwas anderes, es ist kein Zeichen für, es bedeutet nicht. Vielmehr sei der heilige Text der absolute Text, „weil er in seinem Sich-Ereignen nichts mitteilt, nichts sagt, was außerhalb des Ereignisses sinnvoll wäre oder Sinn machte. Das Ereignis vermischt und deckt sich vollkommen mit einer Sprachhandlung – etwa mit der Prophezeiung.“(ebd.). Das Ereignis ist Sprachhandlung, ist Prophezeiung, unmittelbar.
Hier also findet jede „Übersetzung“ ihre Grenze, da es nichts zu übersetzen gibt, nichts, das ein Sinn wäre, der sich vom Wort ablösen ließe. Buchstabe und Wort werden „frei gelassen“, sie werden nicht mehr in das Korsett eines Sinns oder einer Bedeutung gepresst. „Der Buchstabe übersetzt sich nun aus sich – in sich selbst…“ Und dennoch werden wir gerade diese „Worte ohne Sinn“, diese Ankündigungen und Prophezeiungen weiterhin zu übersetzen versuchen – zwar nicht im Sinne einer Übertragung des Sinns von einer Sprache in die andere, aber als Frage, die uns immer „am Rande des Abgrunds, des Wahns und des Schweigens“ (wie Derrida sagt) balancieren lässt.
Noch etwas anderes lässt sich jedoch aus Derridas „Babylonischen Türmen“ lernen, auf das bereits Sprachdenker wie Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy aufmerksam gemacht haben: im und durch das Sprechen setzt sich der Mensch in Beziehung zu Mitmensch, Gott und Welt. Die Wirklichkeit wird bewirkt im Aufeinanderwirken und Zusammenwirken des Sprechenden und Hörenden, des Fragenden und Antwortenden. Dieses in Beziehung-Setzen, dieses Be-wirken dessen, was wir dann Wirklichkeit nennen, ereignet sich sprachlich. Die Worte, die dabei gesprochen werden, mögen zwar auch etwas bedeuten, in erster Linie aber liegt ihr Sinn im Ereignis des Sprechens, das zugleich ein Offenbaren, ein Sich-Ereignen und ein Bewirken des Wirklichen zu nennen wäre. Wenngleich auch dieses „Ereignis“ in entsprechender Entfernung vom heiligen oder absoluten Text stattfindet, so spiegelt sich die Sprachlichkeit oder Sprache der Wahrheit dennoch in diesem Ereignis des Sprechens wider. Alles „Nicht-Verstehen“, alle Relativität, Vorläufigkeit und Unentscheidbarkeit des Gesagten und des Sagens spielt sich vor dem Horizont dieser Sprache der Wahrheit ab, von der uns dennoch ein Abgrund trennt, der sich am ehesten im Schweigen sagen lässt.


7. Statt einer Zusammenfassung: Sprache ist Offenbarung – Offenbarung ist Sprache


Versuchen wir, Derridas Kommentar von Benjamins Text, wenn nicht zusammenzufassen, so doch von den berührten Fragestellungen aus noch einmal der Bedeutung der Sprachlichkeit auf anderem Wege näher zu kommen.
Wie wir gesehen haben ist das sogenannte Original nicht autonom seiner Übersetzung gegenüber, vielmehr bedarf es ihrer, erfüllt es sich erst mit ihr. Demnach ist die Übersetzung Teil des Originals, unmittelbar mit ihm verbunden. Fassen wir also zusammen, dann ist zunächst jeder Text ein Original, da kein Original irgendeinem Ursprung näher wäre, d.h. mit sich selbst identisch ist und für sich allein sprechen oder stehen könnte. Damit wird es obsolet, von Original zu sprechen. Weiterhin bedarf ein jeder Text, ein jedes Original seiner Übersetzung, gerade weil er/es nicht für sich selbst sprechen, bzw. stehen kann. Wäre das Zusammenfallen von Text und Übersetzung möglich, dann wäre es in einer Unmittelbarkeit, die sich nicht vernehmen ließe, in einer absoluten Stille, die keiner Vermittlung, keiner Zeichen bedarf. Die Übersetzung ist also dem Original, dem text inhärent. Beide implizieren sich gegenseitig, sind im double bind gebunden. Gebunden in einem formalen Gesetz, wie Benjamin sagt, d.h. in der „Ankündigung“, der „Verkündung“, dem „Versprechen“, der „Wahrheit der Sprache“ näher zu kommen. Sie ist das Gesetz, die Pflicht, das Soll, die Schuld, „von der man nicht mehr loskommt, die man nicht mehr begleichen kann“, wie Derrida sagt. Daraus folgt schließlich, dass Text und Exegese zusammengehören, wie zwei Seiten einer Medaille, dass sie nur scheinbar oder künstlich (in der Kunst) getrennt von einander sind. Die Struktur dieser Verschränkung lässt sich dann auch so deuten, dass ein Stillstand, in Form einer Dialektik oder Aufhebung, immer nur scheinbar, bzw. vorübergehend eintreten kann. Denn aus der Notwendigkeit der Übersetzung, der Exegese, der Erklärung heraus, müssen verhandelbare, fixierbare und verpflichtende Aussagen gemacht werden können, da ansonsten eine Verständigung, und sei sie noch so minimal, gar nicht möglich wäre.
Der double bind der Sprache beschränkt und öffnet also zugleich. Er „verhindert“, dass das eine letzte Wort fällt, das in einer Sache gesprochen werden kann, ebenso wie er die unabschließbare Auslegung, Interpretation, Analyse befördert. Mit anderen Worten: die Konstruktion von Sinn und seine Dekonstruktion fallen zusammen. Dekonstruktion passiert nicht aktiv von außen an einem intakten Korpus (der Sprache), sondern aus dem Inneren der Sprache selbst – Faltung und Rückfaltung. So dass letztlich die Frage aufkommt, ob nicht den Bewegungen an sich, den Aporien von „Sinnentfaltung“ und Übersetzung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte als der Vorstellung eines letzten und wahren Sinns, der „Restitution des Sinns“.
„Der Übersetzer ist verschuldet, er wird seiner selbst als Übersetzer bewusst, er erscheint sich selber als ein Übersetzer unter den Umständen einer Verschuldung; seine Aufgabe besteht in einem Wieder- oder Zurückgeben“, „der Restitution des Sinns. Er muss erstatten, was erst gegeben werden musste“ sagt Derrida. Wie können wir aber etwas erstatten, was erst gegeben werden musste? Wie können wir den zweiten vor dem ersten Schritt gehen? Wie können wir glauben, etwas zu übersetzen, was sich letztlich der Übersetzung entzieht? Sicherlich nicht, indem wir die „Aufgabe des Übersetzens“ (Benjamin) „aufgeben“ – sinnigerweise kann das Wort „Aufgabe“ genau in diesen beiden diametralen Bedeutungen gelesen werden. Denn dieser Aufgabe können wir uns gar nicht entziehen, wir sind ohne Unterlass gezwungen, Sinn/Bedeutung zu finden und zu stiften, gerade weil es keine Unmittelbarkeit von Sinn und Übersetzung gibt, die zusammenfielen und die Sprache aus ihrer Aporie erlösen würden. So schreibt Derrida dann auch: „Der Übersetzer muss erlösen und auflösen, indem er versucht, sich selber loszukaufen von seiner Schuld, die im Grunde die gleiche Schuld ist wie die des Originals – eine Schuld ohne Grund. Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.“(145,AÜ,S.19).
Die Übersetzung ist die Umdichtung. Und wir können ergänzen, sie kann nur Umdichtung sein und zwar in einem positiven Sinne, dass die Übersetzung eines unmittelbaren, einzigen Sinns weder möglich noch zulässig ist. Daraus folgt jedoch nicht zugleich, dass eine jede Übersetzung „beliebig“ erfolgen könnte oder sollte. Vielmehr ist gemeint, der Sprache Rechnung zu tragen, d.h. zu erkennen, wie die Sprache mit der Sprachlichkeit, Benjamin würde sagen das Leben mit dem Lebendigen auf das Innerste zusammenhängen. Und demnach ist auch eine (literarische) Übersetzung an ihren zu übersetzenden Text formal und inhaltlich gebunden.
Die Umdichtung findet daher in einem gewissen Rahmen statt, der durch das jeweilige sprachliche Feld, die jeweiligen Sprachen gebunden und auch erweiterbar ist. Genauso verhält es sich auch mit der Übersetzung des heiligen Textes, mit der wir es hier zu tun haben. Denn die Erzählung vom Mythos zu Babel ist ein Text aus dem Buch Genesis. Hören wir Derrida: „Die reine und schlichte Übersetzung ist die des heiligen Textes, in der sich Sinn und Wörtlichkeit nicht mehr auseinander halten lassen und so ein einzigartiges, unübersetzbares, unübertragbares Ereignis verkörpern. […]. Doch aufgrund der Ununterscheidbarkeit zwischen Sinn und Wörtlichkeit kann sich das rein Übersetzbare als Unübersetzbares ankündigen, hingeben, darstellen, übersetzen lassen. Von dieser Grenze aus, die eine innere und zugleich äußere Grenze ist, nach innen und nach außen begrenzend, erhält der Übersetzer alle Zeichen der Entfernung, die ihn auf seinem unendlichen Weg leiten, am Rande des Abgrunds, des Wahns und des Schweigens“(161).
Was wir also bisher über den (literarischen / poetischen) Text an sich gesagt haben, gilt insbesondere für den heiligen Text. Genauer gesagt, setzt der heilige Text die ganze aporetische Struktur von Sprache und Übersetzung in Szene. Indem Sinn und Wörtlichkeit zusammenfallen, also auf nichts außerhalb ihrer selbst verweisen und demnach gerade nicht transzendental zu lesen sind, sondern als das sprachliche Ereignis an sich, stellen sie eine Parabel der Unübersetzbarkeit dar. In der Offenbarung ihrer Erzählung, d.h. in der Narration (im Text) selbst sind sie unteilbar: Original und Übersetzung fallen zusammen. Der Text ist Ereignis oder wie Derrida sagt: „Es geht an dieser Stelle um genau das, was Babel heißt: um das von Gottes Namen auferlegte Gesetz. Indem es die Grenze anzeigt und entzieht, schreibt es das Übersetzen vor und verbietet oder untersagt es zugleich. Doch geht es hier nicht nur um das babylonische Verhältnis, es geht nicht nur um eine Szene oder Struktur. Es geht auch um Status und Ereignis des Babelschen Textes, um den Text der Genesis, heilig und in dieser Hinsicht einmalig. Dieser Text untersteht dem Gesetz, von dem er beispielhaft berichtet und den er beispielhaft übersetzt.“ (S.162).
Mit anderen Worten: der heilige Text reflektiert sich selbst, er spricht von seiner eigenen Möglichkeit, setzt sich selbst in Szene. Babel handelt von dem „von Gottes Namen auferlegte(n) Gesetz“, nicht Gott hat das Gesetz gegeben, sondern von seinem Namen aus wurde es gegeben. Gott ist hier als der potenzierte Eigenname zu verstehen, als von der Sprache Gegebenes. Es gibt Gott in der Sprache, Sinn und Wörtlichkeit fallen auch in ihm, in seinem Eigennamen zusammen. Er geht nicht über seine Buchstäblichkeit hinaus, er ist innere und äußere Grenze zugleich und gerade durch diese Grenzziehung ist er unübersetzbar übersetzbar.
Der Eigenname Gott bedarf der Übersetzung, einer Übersetzung, die doch niemals die Schuld zu tilgen vermag. Der Eigenname macht die Übersetzung erforderlich, d.h. der Mensch „muss“ Gott verstehen, ihn deuten, ihn übersetzen. Und damit ist Gott selbst in Gefahr, selbst im double bind gefangen. Er hat sich durch Babel, durch die Verwirrung, die er gestiftet hat, selbst in Gefahr gebracht, denn nun muss er übersetzt werden, kann nicht für sich allein stehen. Ziehen wir an dieser Stelle Sholems Betrachtungen mit ein, sehen wir, dass das babylonische Ereignis als Offenbarung gelesen werden kann:
„Was eigentlich kann Gott offenbaren und worin besteht das sogenannte Wort Gottes, das den Empfängern der Offenbarung zukommt? Ihre Antwort (die der Kabbalisten K.F.) lautet: nichts anderes als sich selbst, wo er Sprache und Stimme wird. Dieser Punkt aber, an dem die göttliche Kraft sich in einem Ausdruck, sei er auch noch so innerlich und verborgen, niederschlägt, ist der Name Gottes. Er ist das, was in Schrift und Offenbarung, unter welchen Hieroglyphen immer, zum Ausdruck gelangt, zur Sprache kommt. […] Jene geheimen Signaturen [Rischumim], die Gott in die Dinge gelegt hat, sind freilich im selben Maße Verhüllungen seiner Offenbarung wie Offenbarung seiner Verhüllung. […] So ist also die Offenbarung eine solche des Namens oder der Namen Gottes, die etwa die verschiedenen Modi seines tätigen Seins sind. Die Sprache Gottes nämlich hat keine Grammatik. Sie besteht nur aus Namen.“3
Wenn also „die Offenbarung eine solche des Namens“ ist, dann können wir von einer sprachlichen Offenbarung ausgehen, von einer Offenbarung, die eigentlich Gabe, bzw. Ereignis ist. Am Anfang war das Wort, nicht weniger und nicht mehr. Sinn und Wörtlichkeit fallen zusammen. Das Wort ist das Ereignis. Sprache und Offenbarung fallen zusammen, sie sind nur scheinbar in Sinn und Übersetzung zu „teilen“.
Derrida schließt seine Betrachtungen mit einem Zitat von Maurice de Gandillac: „Denn in irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung“(S. 163). De Gandillac spricht von einer virtuellen Übersetzung, die sich interlinear, also zwischen den Zeilen finden ließe. Damit wäre demnach weniger Sinn und Wörtlichkeit an sich gemeint als vielmehr das, was sich im Text ereignet, was noch mal auf einer anderen Weise nicht zu übersetzen ist. Und hierbei handelt es sich wohl nicht um die Restitution eines Sinns sondern um das Verhältnis zur Sprache an sich, um das in der Sprache Sein. Bleiben wir einen Moment bei dieser Idee der „Interlinearversion“ des heiligen Textes, dann können wir nochmals Sholem heranziehen:
„Es wurde sogar ein altes Wort des Midrasch, wonach die präexistente Tora vor Gott mit schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben gewesen sei, esoterisch dahin gedeutet, das weiße Feuer sei die schriftliche Tora, in der die Form der Buchstaben noch gar nicht hervortritt, vielmehr solche Form erst durch die Kraft des schwarzen Feuers erhielte, welches die mündliche Tora ist. Das schwarze Feuer sei wie die Tinte auf dem Pergament der Tora-Rolle. Damit wäre also impliziert, dass, was wir auf Erden schriftliche Tora nennen, selber schon durch das Medium der mündlichen Tora gegangen ist und darin eine sinnliche Form angenommen hat. Nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift, die selbst schon eine Spezifikation ist, sondern die mystische Weiße der Buchstaben auf dem Pergament der Rolle, auf dem wir überhaupt nichts sehen, ist die eigentliche schriftliche Tora.“4
Diese Anschauung würde also einer kompletten Umkehrung gleichen und die Frage aufwerfen, was und wie außerhalb der Wörtlichkeit an sich, des Buchstabens an sich zu lesen wäre. Würde uns die Weiße des Papiers weniger erzählen können als ihre Schwärze, in Anbetracht dessen, dass die Schwärze unübersetzbar übersetzbar bleibt?


Anmerkungen:

1 Der etymologische Ursprung des Wortes Babel ist indes nicht eindeutig herzuleiten. Die Bezeichnung Babel tritt im Genesis Text zwei Mal auf: ha ir we ha migdal babel (die Stadt und der Turm zu Babel) und in der verbalen Form von balal (verwirren und verwirrt). Mit der Stadtbezeichnung „Babel“ wird im hebräischen Text an zwei Stellen ein Wortspiel veranstaltet, das auf den ähnlichen Klang der Wurzeln bbl, also bet bet lamed, (im Namen „Babel“) und bll (im Verb „verwirren“) aufbaut:
Gen 11,7: הָבָה נֵרְדָה וְנָבְלָה שָׁם שְׂפָתָם אֲשֶׁר לֹא יִשְׁמְעוּ איִשׁ שְׂפַת רֵעֵהוּ׃
Gen 11,7: hāvāh nērdāh wənāvlāh šām śəfātām ăšer lo yišməū īš śəfat rēēhū
Gen 11,7: Wohlan, lasset uns hinabsteigen, und dort verwirren (wə-nāvlāh) ihre Sprache, daß sie nicht verstehen Einer die Sprache des Andern. (Verbalform: Kohortativ pl. < bll)
Gen 11,9: עַל־כֵּן קָרָא שְׁמָהּ בָּבֶל כּיִ־שָׁם בָּלַל יְהֹוָה שְׂפַת כָּל־הָאָרֶץ
Gen 11,9: al-kēn qārā šmāhh bāvel kī-šām bālal YHWH śəfat kāl-hā-ārez […]
Gen 11,9: Darum nannte man ihren Namen Babel (bāvel), weil dort der Ewige verwirrte (bālal) die Sprache aller Erdbewohner, […] (Verbalform: Perfekt 3.Sg.masc. < bll)
(Deutsch nach L.Zunz)
Man muss dazu wissen, dass im Hebräischen das punktierte Bet wie B und das unpunktierte Bet wir V ausgesprochen werden. Der Name Babel lässt sich jedoch nicht nur auf die hebräische Verwendung zurückführen, sondern auf das Akkadische bāb-ilim, was „Tor der Götter“ bedeutet. Jedoch muss auch hier eingewendet werden, dass die Ur-Etymologie des akkadischen Namens nicht unstrittig ist, da die akkadische Bezeichnung auf einen älteren nichtsemitischen Namen zurückgehen könnte.

2 Jakobson zur innersprachlichen Übersetzung: Die intersprachliche Übersetzung deutet sprachliche Zeichen mittels einer anderen Sprache. Die intersemiotische Übersetzung ist eine Paraphrase, ein rewording, eine definierende Deutung (128).

3 Vgl. Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Suhrkamp, Frankfurt, 1970, S. 106.

4 Ebd. S. 108.



Foto: wikipedia (gemeinfrei) (Der Turmbau zu Babel nach Lucas van Valckenborch)


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