Jacques Derrida: Denken in und mit der Sprache
Katrin Funke, Frank Hahn, Reinhard Hildebrandt • (Last Update: 02.12.2017)
Die drei Autoren dieses Beitrags haben im
Rahmen ihrer Forschungen zum Thema Sprache gemeinsam einen Text von
Jacques Derrida gelesen, den sie im Folgenden versuchen zu
kommentieren und zu „entschlüsseln“. Es handelt sich
um Derridas Aufsatz „Babylonische Türme“, der selbst
ein Kommentar zu Benjamins berühmten Text „Die Aufgabe des
Übersetzers“ ist. Die folgenden Seiten sind also ein
Kommentar des Kommentars zum Thema Sprachverwirrung, Übersetzung,
Namensgebung, das so alt ist wie die Geschichte vom Turmbau zu Babel
– und so neu wie jeder Tag der Begegnung unterschiedlicher
Menschen in dieser vielfältigen Welt.
1. Mythos vom Turmbau zu Babel
Weder die einzelnen
Menschen noch die gesamte Menschheit sind sich über den Anfang
ihrer Existenz bewusst. Ungefähr bis zum zweiten Lebensjahr hat
der heranwachsende Mensch noch nicht die Fähigkeit erworben,
seine sinnlichen Wahrnehmungen vom Kurzzeitgedächtnis in ein
Langzeitgedächtnis zu überführen und dort zu
speichern. Was er über die ersten zwei Jahre seines Lebens weiß,
haben ihm andere erzählt. Auf welche Weise die Sinneseindrücke
der ersten zwei Jahre jedoch seine Persönlichkeitsentwicklung
mitgeprägt und als solche seine Verhaltensweisen und seinen
Lebensentwurf mitbestimmen haben, ist den Erzählungen nicht zu
entnehmen. Sie bleiben ihm daher unbekannt.
Die gesamte Menschheit
teilt mit dem einzelnen Menschen das gleiche Schicksal. Auch ihr
fehlen das Wissen und die Erfahrung über ihren Anfang, über
das ihr Vorausgehende, sowie über die evolutionsgeschichtlichen
Prozesse am Übergang vom „Animalischen“ zum „zoon
politikon“. Zu welchem Zeitpunkt die Reflexion und das
Bewusstsein über Sprachfähigkeit einsetzte und die
mündliche Überlieferung begann, was darin als bedeutend
angesehen wurde oder auch nicht und welchen Stellenwert die
sprachliche Reflexion in ihrer historischen Erfahrung als Menschheit
eingenommen hat, bleibt ihr ebenso verschlossen. Dieser dunkle Teil
ist allenfalls in den zahlreichen Mythen über den Ursprung der
Menschheit zu erahnen. Noch lange Zeit nach ihrer Entstehung wurden
sie nur mündlich überliefert, ehe sie schließlich
eine schriftliche Niederlegung erfuhren. Dazu zählen die
zahlreichen Mythen über den Anfang des Weltalls, über die
Art der Schöpfung und die Gestalt des Schöpfers,
dessen Allmacht oder Ohnmacht über Mensch und Natur.
Ebenso
zählen Mythen dazu, die sich eine Anzahl von Menschen über
ihren gemeinsamen Ursprung zulegen, sobald sie sich als Teilbereiche
der ganzen Menschheit bzw. als Gemeinschaften oder Gesellschaften von
den übrigen abgesondert haben. Dies kann im Extrem sogar dazu
führen, dass – wie im Beispiel Chinas – die
Absonderung von den übrigen Teilbereichen der Menschheit ganz
verleugnet wird. Der Mythos vom „Anfang ohne Anfang“ hat
zur Folge, dass auch das Ende im „Unendlichen“
verschwindet und stattdessen der ständige Wechsel zwischen
Stärke- und Schwächeperioden in den Vordergrund der
Geschichtsbetrachtung und Philosophie (Ying und Yang) rückt.
Der
Mythos vom Turmbau zu Babel nimmt unter den zahlreichen Mythen
zweifellos eine herausragende Position ein. Die Erzählung über
die Verwirrung der Turmbaumeister und die Verwirrung der Sprachen in
der Hauptstadt Babylons werden von Jacques Derrida in seiner
Abhandlung über „Babylonische Türme – Wege,
Umwege, Abwege“ sogar als „Mythos vom Ursprung des
Mythos, als Metapher der Metapher, Erzählung der Erzählung,
Übersetzung der Übersetzung“ bezeichnet (119). Dieser
Mythos, hebt Jacques Derrida hervor, bringt das „Unangemessene“
und „Unausgeglichene“ im „Selbstverhältnis“
der einzelnen Sprachen und der Sprachen untereinander zum Ausdruck.
Z.B. erfassen die verschiedenen Sprachen die einzelne sinnliche
Wahrnehmung oftmals nur im Gewande eines allgemeinen sprachlichen
Ausdrucks und jede Sprache eröffnet einen spezifischen Zugang
zur Vielheit des sinnlich, abstrakt und poetisch zu Bezeichnenden,
ohne auch nur annähernd den Anspruch auf Vollständigkeit in
der Präsentation der Vielfalt der Bedeutungen erheben zu können.
Daraus folgt die „Notwendigkeit des Gestaltens, die
Notwendigkeit des Mythos, der Tropen (Austausch des eigentlichen
Ausdrucks mit einem anderen: Wein/ Bacchus: d.V.), der Wendungen und
der unangemessenen oder ungeeigneten Übersetzung“(119).
Dieser Ersatz „für das von der Vielheit Untersagte“
hat wiederum die Notwendigkeit der Dekonstruktion bzw.
„Selbstaushöhlung“ der Gebilde, Strukturen und Texte
zur Folge, um der Vielheit gerecht zu werden (119).
Der Turmbau zu
Babel, notiert Derrida, veranschaulicht nicht nur die nicht
reduzierbare Vielfalt der Sprachen, sondern er steht auch für
das Unvollendbare, für etwas, „das nicht zu Ende zu
bringen“ ist „im Bereich der Konstruktionen, die
Architekten besorgen“ und im Bereich des „Systems und der
Strukturen“(119). Konstruktionen bestimmen und umgrenzen den
Raum, der konstruiert werden soll und können niemals
ausschließen, dass der zuvor ausgegrenzte Raum keine Bedeutung
mehr für das Konstrukt hat. Konstruktionen sind unabwendbar der
Vielheit des Nicht- und Anders-Konstruierten ausgeliefert. Was die
Sprache und die Übersetzung von einer in die andere anbelangt,
stellt für Derrida die Vielfalt der Idiome nicht nur die Grenze
einer „wahren“ Übersetzung (119), einer
durchsichtigen und angemessenen Mit-Teilung dar, sondern vielmehr
begrenzt sie auch die Ordnung einer Struktur, den Zusammenhang und
die Stimmigkeit des Konstruktums: „Wir stoßen auf das
Unvollendete und Unvollständige der Konstruktion. Die
Übersetzung eines Systems ist dessen Dekonstruktion.“(120).
Wenn also nach Derrida die Dekonstruktion des Systems seine
Übersetzung ist, dann wird darauf angespielt, dass das gelesen,
übersetzt und thematisiert wird, was das System verschweigt,
verdrängt, ausschließt und nicht übersetzen will,
soll, kann oder darf. Hierbei handelt es sich weniger um eine „reine“
Diskursanalyse als um die weitgehende und komplexe Frage nach der
Bedingung eines Systems überhaupt, nach seiner Legitimation und
Abgrenzung im Kontext weiterer Systeme.
Schon Voltaire hatte
darauf hingewiesen, dass in orientalischen Sprachen der Name
(Ba)(Bel) für die jeweilige Hauptstadt reserviert war. Die Worte
Ba = Vater, Bel = Gott,
Babel = die Stadt Gottes,
bezeichneten die heilige Stadt. Der Name Babel hat jedoch abseits vom
Eigennamen auch die Bedeutung von Verwirrung angenommen, weil die
Baumeister in ihrer Suche, einen Turm bis auf eine Höhe von
81000 Fuß hoch zu treiben, untereinander über die dafür
geeignete Konstruktion so sehr in Wirrnis gerieten, dass ihre
Verwirrung sogar eine umfassende Sprachverwirrung auslöste
(120). 1
Im
Mythos trat neben den Eigennamen – als Beziehung eines reinen
Zeichenträgers auf ein einmalig Daseiendes – der
Gattungsname, der sich auf die Allgemeinheit einer Bedeutung und
eines Sinnes bezieht. Dieser Gattungsname, betonte Voltaire,
„bedeutet“ (steht
für etwas) bzw. er verweist nicht nur auf die zweifache
Verwirrung (Verwirrung der Sprachen und Verwirrung der Baumeister),
sondern weist auch zurück auf den Namen des Vaters. Babel trägt
jetzt nicht mehr nur den Namen Gottvaters,
sondern auch den Namen des Vaters, der Verwirrung heißt. Damit
ist sie zugleich die Stadt der Verwirrung. Im Mythos hat Gott
die Stadt als den „gemeinschaftlichen Raum“, in dem man
sich nicht mehr versteht, mit seinem Patronym Gott
und dem Namen Verwirrung gekennzeichnet (121). Gäbe es nur
Eigennamen und keine Gattungsnamen, hält Derrida fest, könnte
man sich nicht verstehen und nicht verständigen. Gleichfalls ist
es unmöglich, sich zu verstehen und zu verständigen, wenn
es keine Eigennamen gäbe (121).
In der Sprache der
ursprünglichen Erzählung gibt es ein Übersetzen, eine
Art Übertragen, das unmittelbar und aufgrund einer Verwirrung
ein semantisches Äquivalent erstattet, und zwar das des
Eigennamens, das von sich aus nicht übersetzbar ist.2
Ein Eigenname kann sich in eine Sprache eigentlich nur einfügen,
wenn er sich darin übersetzen lässt, wenn man ihn in der
Gestalt seines semantischen Äquivalents zu deuten vermag: pierre
– Pierre. Während pierre
im Französischen den Stein meint, ist Pierre
ein französischer Eigenname,
der als Eigenname übersetzbar und unübersetzbar zugleich
ist. Um Pierre im Deutschen beispielsweise verstehen zu können,
müssen wir daraus keinen „Peter“ machen. Er kann
durch seine Großschreibung mühelos „übertragen“
werden, ohne dass jedoch automatisch auch sein Homonym pierre
übersetzt würde.
Indem
Gott im
Mythos vom Turmbau zu Babel dem umgrenzten Raum Babylon seinen Namen
gegeben hat und alle Eigennamen ihren Ursprung in der Schöpfung
haben, d.h. Gottes
Namen als Sprache gegeben sind (es gibt Sprache, es gibt Eigennamen),
folgert Derrida, ist im Mythos Gottvater
auch der Ursprung der Sprache („die Macht oder die Kraft, das
Vermögen der Namensgebung scheint rechtens Gottvater zu
gehören“). In der Erzählung der Genesis verbleibend
fährt Derrida fort: „Gerade dieser Gott ist es aber auch,
der, indem er sich von seinem Zorn bewegen lässt (wie der Gott
Böhmes und Hegels, der außer sich gerät, sich in
seiner Endlichkeit bestimmt und Geschichte erzeugt), die Gabe der
Sprachen tilgt oder doch zumindest die Sprachbegabung wirr macht.
Gerade dieser Gott ist es, der Verwirrung stiftet im Schoße
seiner Kinder und die Gabe vergiftet (Gift-gift).“(121).
Hier
ist anzumerken, dass Gott
in der Vorstellung der Menschen oftmals mit Allmacht ausgestattet ist
und als Allmächtiger auch über die Zeit verfügt, also
unendlich ist. Wenn er sich in der Konstruktion Hegels als Weltgeist
entäußert, wird er in diesem Entäußerungsakt zu
einem endlichen Gott,
der bis zu dem Zeitpunkt, an dem er wieder zu sich selbst zurückkehrt
ist, in seiner Endlichkeit – seiner Geschichtlichkeit –
verharrt und unabänderlich an sie gebunden ist. Indem er im
Verlauf der Geschichte als endlich gewordener Weltgeist wieder zu
sich selbst zurückkehrt, vereint er erneut Endlich- und
Unendlichkeit in sich.
Aber warum sollte sich Gott
von seinem Zorn bewegen lassen und sich als endlicher Gott
bestimmen, wenn er bereits als
unendlicher Gott das
Ende kennt. Als zeitlos über der Geschichte schwebend kennt er
ja bereits das Ende und jeden Schritt, der dem Ende vorauseilt.
Unabhängig davon wie allmächtig Gott
vorgestellt wird und ob Gott
sich in seinem Zorn seiner Unendlichkeit entäußert und
Geschichte kreiert, erweist sich die Hegelsche Vorstellung als
willkürliches philosophisches Konstrukt, in der jeder einzelne
„Fortschritt“ in der Geschichte und das Ende
vorherbestimmt ist. Der an seine Endlichkeit gebundene Hegel, für
den die Zukunft ebenso wie für die gesamte Menschheit stets
ungewiss blieb, konstruierte in der „Phänomenologie des
Geistes“ die Schöpfung des Weltalls als einen im Voraus
und bis zu seinem Ende bestimmten Prozess des Werdens. Das dem
endlichen „Geist“ Hegels entsprungene Konstrukt tritt an
die Stelle der Schöpfung, die trotz des Hegelschen maßlosen
Anspruchs, mit seinem Meisterwerk das Ende der Philosophie
eingeläutet zu haben, weiterhin in Ursprung und Ende dem
Menschen unbekannt bleibt.
Allein angemessen für die an die
Endlichkeit gebundene Menschheit ist, im Laufe ihrer Erfahrungen
danach zu fragen, was bereits bekannt ist, also als Wiederholung
erscheint, was es an Veränderung zu entdecken und zu beachten
gilt und in Zukunftsentwürfe zu integrieren ist. Eine mögliche
Herangehensweise wäre, bei jeder neuen Erfahrung neue Details
der Schöpfung wahrzunehmen, zu analysieren und die Resultate mit
dem bisher Bekanntem zu verknüpfen. Die Frage nach der Schöpfung
des Weltalls oder ob das Weltall überhaupt von jemandem
geschöpft worden ist, beschäftigt die europäische
Philosophie weitaus mehr als beispielsweise die chinesische. In China
beginnt die Philosophie mit der Analyse der Natur. Die Frage nach der
Schöpfung ist demgegenüber zweitrangig. Die Einheit
zwischen Natur und Himmel gipfelt nicht in der Frage nach einem
allmächtigen Gott bzw.
der Schöpfung des Kreatürlichen durch ihn.
Derrida
verbleibt mit seinem Text im Rahmen der Genesis-Narration, ohne
Glaubensfragen zu erörtern. Er erinnert an die Entfaltung
semitischer Abstammungen, Generationen und Genealogien: „Vor
dem Abbruch, Abbau oder der Dekonstruktion Babels war die semitische
Großfamilie damit beschäftigt, sowohl ihr Reich zu
errichten, das die ganze Welt umfassen, universal sein sollte, als
auch ihre Sprache festzusetzen, eine Sprache, die sie ebenfalls dem
Weltganzen aufzwingen wollte.“(121/122). Indem die Semiten
versuchten, „sich einen Namen zu machen“(129), indem sie
eine einzige, allumfassende Sprache stifteten und zugleich ein
einzige, einzigartige Genealogie“ schaffen wollten, ging es den
Semiten darum, die Welt zur Vernunft zu bringen: negativ betrachtet
„koloniale Gewalt“ über andere Völker
auszuüben, positiv gesehen, durch Verallgemeinerung ihres Idioms
die menschliche Gemeinschaft in das Licht der „friedlichen
Transparenz“ zu tauchen (129).
„Der (geschichtliche)
Augenblick dieses Entwurfs geht dem Abbruch oder der Dekonstruktion
des Turms unmittelbar voraus.“(122). Der Hybris folgte die
Verwirrung auf dem Fuße. Denn indem die semitische Großfamilie
die ganze Welt beherrschen und ihr die eigene Sprache als universale
Sprache aufzwingen wollte, unternahm sie zugleich den Versuch, das
Ende der Geschichte zu verkünden und sich selbst als unendlich
zu setzen bzw. gottgleich zu werden. (In der Geschichte der
Menschheit hat es immer wieder Versuche gegeben, Imperien zu bilden
und die Sprache des herrschenden Volkes allen anderen Völkern
entweder gewaltsam aufzuzwingen oder mit sanften Druck aufzunötigen.
Das hieß zugleich, den von der herrschenden Sprache erfassten
Ausschnitt der Sprachvielfalt und der an diese Teilansicht des Ganzen
gebundenen Vorstellung von Vernunft für sakrosankt zu
erklären.)
Menschen, die in das Handwerk des Schöpfers
einzugreifen versuchen, erleiden Verwirrung, lehrt der Mythos von
Babylon. Die Dekonstruktion des Turms war zugleich die Dekonstruktion
der universellen Sprache, die Zerstreuung der genealogischen
Abstammung, die Unterbrechung der (gradlinigen) Abfolge der
Geschlechter. Es folgten die Notwendigkeit, die Unumgänglichkeit
zur Übersetzung.
Indem Gott
seinen Namen vorgab, zerbrach er die rationale Transparenz, den
Versuch kolonialer Gewaltausübung, den sprachlichen
Imperialismus. Mit dem „Ausrufen seines übersetzbaren und
unübersetzbaren Namens“ befreite er die „allumfassende,
universale Vernunft (sie unterstand nicht länger dem
Herrschaftsbereich einer einzelnen Nation)“. Zugleich
beschränkte er die Vernunft in ihrer „Universalität“.
Ihr stand fortan keine Sprache mehr zur Verfügung, in der sie
sich vollkommen transparent und eindeutig artikulieren konnte und der
Rückgriff auf die „reine Sprache“ blieb ihr verwehrt
(129).
2. Die reine Sprache ist nicht die universelle Sprache
Den Begriff der „reinen
Sprache“ zitiert Derrida von Benjamin, auch verwendet er dessen
Bezeichnung „Sprache der Wahrheit“, ohne jedoch diese
Benennungen zu übernehmen oder ihnen sinngemäß
zuzustimmen. Für Derrida haben wir es hier vielmehr mit einer
Sprache zu tun, von der sich kein
Sinn ablösen lässt, „um
ihn als solchen – als Sinn in eine andere Sprache zu
übertragen“, zu befördern, „zu übersetzen“.
Sie (die Sprache) ist „übersetzbar“ (als
sprachimmanente Übertragung: d.V.) und zugleich „unübersetzbar“
(in andere Sprachen: D.V.). Es gibt einzig den Buchstaben, das
Wörtliche – das ist die Wahrheit der reinen Sprache“(162).
Derrida scheint zunächst den Eindruck zu erwecken, die „reine
Sprache“ Benjamins an die Stelle des Kantschen „Dings an
sich“ zu setzen, aber dieser Schein trügt. Die
Mehrdeutigkeit, die allen Sprachen eigen ist, erlaubt keinen
eindeutigen Schluss von der Oberfläche zum Wesen und zurück
zur Oberfläche (zur Erscheinungsweise des Wesens).
Derrida
äußert sich dazu im folgenden Zitat: „…Diese
zentrale Präsenz ist aber niemals sie selbst gewesen, sie ist
immer schon in ihrem Substitut über sich selbst hinausgetrieben
worden. Das Substitut ersetzt nichts, das ihm irgendwie präexistiert
hätte. Infolgedessen musste man sich wohl eingestehen, dass es
kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in der Gestalt eines
Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort
besitzt, dass es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art
von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen
abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des
universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da
infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum
Diskurs wird … Die Abwesenheit des transzendentalen
Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins
Unendliche.“ (Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz,
Frankfurt/Main 1972, S.424).
Wenn also aufgrund des unendlichen
Austausches von Zeichen der Weg von der Erscheinungs-ebene
(Oberfläche) zum vorgestellten Wesen nicht exakt bestimmt werden
kann und umgekehrt auch der Weg von diesem gedachten Wesen zur seiner
Erscheinung (an der Oberfläche) – aufgrund der mit der
unendlichen Zeichenvielfalt verknüpften Vielzahl von Bedeutungen
– nicht eindeutig ist, wird es sinnlos, weiterhin auf der
überkommenen Denkfigur von Wesen und Erscheinung zu beharren.
Daraus folgt, dass auch die „reine Sprache“ – wenn
es sie denn gäbe – an einem anderen Ort als dem der
Denkfigur des Wesens zugeordneten Platz angesiedelt werden muss.
Für
Derrida erscheint die „reine Sprache“ Benjamins nicht als
solche, sondern ist verborgen in den Idiomen der vielfältigen
Sprachen. Jede „Sache“, jedes „Ding“, stellt
Derrida fest, „das mit sich selbst identisch ist, (zum Beispiel
das Brot selber), wird in jeder Sprache“ auf „verschiedene
Weise und in jedem Text einer jeden Sprache auf verschiedene Weise
gemeint“ (160). Während das Brot im Französischen le
pain ist, müssen wir
gleichzeitig wahrnehmen, d.h. übersetzen, dass pain
im Englischen der Schmerz bedeutet. Es ist also nicht möglich,
den Signifikanten, also die Bezeichnung von etwas ein für alle
Mal festzulegen oder gar zu kontrollieren. Genauso wenig wie es
möglich ist, ein vermeintliches Signifikat, also ein zu
Bezeichnendes eindeutig zu fixieren. Damit durchbricht Derrida die
Dichotomien von:
Signifikat = Signifikant
Wesen = Erscheinung
Inhalt = Form
Innen / primär = Außen / sekundär
Original = Übersetzung / Kopie
Dies hat zur Folge, dass eine
Übersetzung nicht von einem Festgelegten, Eindeutigem ausgeht,
sondern dass das zu Übersetzende selbst schon der Übersetzung
bedarf und seiner Sprache, d.h. seiner „Bezeichnung“
nicht vorausgeht. Wir werden im Folgenden sehen, was dies für
Konsequenzen im Hinblick auf die Exegese des heiligen, bzw.
poetischen Textes hat.
Die „reine Sprache“ ist in der
Vorstellung Derridas also nicht das Kantsche „Ding an sich“,
das auf vielfältige Weise an der Oberfläche erscheint,
sondern sie ist die in der (Viel) Stimmigkeit verdeckt enthaltene
(Gleich)Stimmigkeit, die so lange „im nächtlich Innigen
des Kerns“ verbleibt, wie die „Einheit der Stimmung“
nicht zustande gekommen ist.
Deshalb betont Derrida, dass in jeder
Sprache etwas gemeint ist, „was dasselbe ist, ohne dass eine
Sprache in ihrer Absonderung von den anderen Sprachen daran zu
reichen vermag. Die Sprachen können nur dann beanspruchen, es zu
erreichen und es sich selbst als Versprochenes zu geben, wenn sie
ihre Meinungen, wenn sie laut Derrida die „Allheit ihrer
einander ergänzenden Intentionen gemeinsam entfalten“(159).
Alle
einzelnen Sprachen und alle gemeinsam zielen mit ihren Meinungen „auf
eine Sprache, die weder eine Universalsprache im Leibnizschen Sinne
ist noch gar die natürliche Sprache einer einzelnen,
abgesonderten, für sich genommenen Sprache; sie zielen auf die
Sprach-lichkeit der Sprache, auf die Sprachlichkeit als
solche, sie zielen auf jene Einheit
ohne Selbst-Identität, die bewirkt oder bedingt, dass es
Sprachen
gibt und dass jenes, was es gibt, eine Vielfalt von Sprachen
ist“. „Worauf sie in der Übersetzung zielen, jede
einzelne Sprache und alle Sprachen gemeinsam mit ihren Meinungen“,
schlussfolgert Derrida, „ist die Sprache selber als
babylonisches Ereignis“(159). Dies würde also bedeuten,
dass das babylonische Ereignis Sprache als Ereignis meint, in dem
Sinne, dass sie sich ereignet, gegeben wird. Damit ist eine Umkehrung
des Verhältnisses zur Sprache implizit: die Sprache begegnet dem
Menschen, er ist es, der angesprochen wird, der vom Text gelesen wird
und zur Antwort, d.h. Übersetzung „genötigt“
wird. Die Vorstellung von einem autonomen Subjekt, welches sich der
Sprache bloß aktiv „bedient“, wird umgekehrt auf
eine passive Perspektive, aus welcher heraus, das Subjekt in erster
Linie an die Sprache gebunden ist und diese ihm in jeder Hinsicht
vorausgeht.
3. Übersetzung und Original
Bevor wir uns der Frage
widmen, was es mit der Sprache als „babylonisches Ereignis“
auf sich haben könnte, folgen wir zunächst Derridas
Überlegungen, die explizit um das Thema der Übersetzung
kreisen. Auch hier geht es um eine „Umkehrung des
Verhältnisses“ oder wie schon gesagt einer Aufhebung der
Dichotomie – und zwar zwischen Übersetzung und Original.
„Der gängige Begriff der Übersetzung erweist sich als
problematisch“, hält Derrida fest, „beinhaltet er
doch die zielgerichtete Bewegung der Wiedergabe, Rückerstattung
und Wiederherstellung: richtet man sich an diesem Begriff aus,
besteht die Aufgabe darin, ein zunächst Gegebenes zurück-
oder wiederzugeben, ein Gegebenes, das man für den Sinn hält.
Alles verfinstert sich aber, versucht man, die Motive des
Wiedergebens und des Reifens aufeinander abzustimmen, miteinander zu
vereinen. Auf welchem Grund, in welchem Boden wird das Wachsen und
Reifen stattfinden, wenn man nicht länger davon ausgehen kann,
dass die Wiedergabe des gegebenen Sinns die Regel ist?“(133).
Wir müssen diese Aussage Derridas in all ihren Konsequenzen
lesen, wenn er sagt, dass die Wiedergabe des gegebenen Sinns nicht
die Regel ist. Was ist hiermit konkret gemeint? Etwa dass der Sinn
nicht von vorhinein gegeben ist? Dass die Übersetzung nicht
einfach nur eine Restitution, eine bloße Übertragung ist?
Oder aber, unabhängig vom Wesen des Sinns, dass die Bewegung der
Übersetzung keine Struktur von Bild = Abbild meint? Und mit
welcher Art von Übersetzung haben wir es dann zu tun, wenn weder
der vermeintliche „Sinn“ unumstößlich ist noch
die Übersetzung an sich eine zweifelsfreie, eindeutige Aufgabe
wäre?
Geht man wie Derrida von einem Reifungsprozess des
Originals aus, fügt die Übersetzung dem Original nicht nur
einen Zugewinn aus dem Erfahrungsschatz hinzu, der in der Zeit
zwischen der Abfassung des Originals und der Übersetzung
entstanden ist, sondern die Übersetzung in eine andere Sprache
greift auch auf den spezifischen Anteil aus der Vielheit von
Bedeutungen zurück, der in der zu übersetzenden Sprache in
ganz besonderer Weise enthalten ist und in der Sprache des Originals
fehlt oder unterrepräsentiert ist.
Derrida geht sogar noch
weiter und formuliert auf verwirrende Weise: „Als solche
kann die Übersetzung nicht übersetzt werden“(149).
Nur ein Kern könne sich dem Eingriff einer neuen Übersetzung
aussetzen, ohne in ihr aufzugehen: denn ein Kern widersteht der
Übersetzung, „die er liebend anzieht“. „Man
erkennt das Original daran, dass es sich als solches immer wieder
übersetzen lässt.“ Wenn ein Original sich immer
wieder übersetzen lässt, bedeutet dies nicht dann auch,
dass jeder
Text ein Original ist? Dass jeder Text seiner Auslegung bedarf und
niemals nur für „sich allein“ stehen kann? Dass von
keinem(!)
Text das letzte Wort gesprochen werden darf?
Derrida bedient sich
zur Erklärung des Beispiels einer Frucht. „So eng wie
Frucht und Fruchthaut, Kern und Schale aneinander haften, so eng,
gedrängt, zusammengezogen, an sich haftend ist die Einheit von
Gehalt und Sprache im Original“(149). „Der wesentliche
Kern ist nicht der Gehalt, sondern das Haften, das Gehalt und
Sprache, Frucht und Schale zusammenhält“(150). Das
Verhältnis von Gehalt und Sprache ist laut Derrida in der
Übersetzung ein anderes. In der Übersetzung umgibt die
Sprache den Gehalt wie ein Königsmantel, d.h. als „höhere
Sprache als sie ist“. „Die Übersetzung verspricht
ein Königreich (im Augenblick) der Versöhnung der Sprachen.
Dieses Versprechen, dieses symbolische Ereignis, das zwei Sprachen so
zusammenfügt, paart, vermählt, als wären sie die
beiden Teile eines größeren Ganzen, bezieht sich auf eine
„Sprache der Wahrheit“, es ruft nach ihr und bedarf
ihrer. Die Sprache der Wahrheit ist freilich keine wahre Sprache,
einem äußeren Inhalt angemessen; sie ist wahrhaft Sprache,
deren Wahrheit sich nur auf sich selbst bezieht.“( 157/158).
Derrida spricht hier in Anlehnung an Benjamin von der Versöhnung
der Sprachen, vom Versprechen. Was meinen diese „messianischen“
Metaphern? Stützen sie sich auf die Annahme, dass gar ein
messianisches Ereignis im Sinne einer Erlösung, eines
„endgültigen“ Verstehens, eines befreienden letzten
Wortes möglich wäre? Was aber wäre das? Wäre es
wie nicht sprechen? Wäre alles gesagt / gedacht / verstanden?
Wäre alles vernommen worden sein? Und wenn ja, in wessen Namen,
in welcher Übersetzung? Oder aber impliziert die messianische
Rede von der Versöhnung ihre eigene Möglichkeit? Die
Unmöglichkeit der Dialektik, der letzten „Aufhebung“?
Und wenn es die
eine Übersetzung geben würde, so hätten wir dann nicht
schon längst mit dem Übersetzen brechen können? Wäre
dann nicht schon längst „Sinn“ und Übersetzung
eins, selbstredend sozusagen?
Derrida fährt an dieser Stelle
fort, die Vorstellung von der Autonomie des Originals, seine
Originalität, zu dekonstruieren. Der Text (Original) ist schon
in seiner Entstehung (und d.h. in seiner Sprachlichkeit) nicht eigen,
nicht allein, nicht autonom, sondern bedürftig (der
Übersetzung), verwoben, verschuldet. Ein
jeder Text steht im double bind,
d.h. er steht im Kontext
aller vorherigen und ihm folgenden Texte und Sprachen. Mehr noch, er
verdankt seine Textur einer
größeren, ihn umgebenden Textur
(Sprachlichkeit), in die er eingewoben ist und von welcher er sich
niemals lösen lassen wird. Das Gewebe eines jeden Textes ist
markiert von Dissemination, von Kontamination mit dem anderen
Text (der anderen Sprache). Von daher wird die Bezeichnung „Original“
hinfällig, verweist sie doch auf eine (ideengeschichtliche)
Vorstellung von reinem Ursprung, Essenz, Individualität, also
Unteilbarkeit mit sich selbst. Daher Derridas Satz: Il n’y pas
de hors-texte (es gibt kein Außerhalb des Textes).
4. Leben, Fortleben und Verschuldung
Aus diesen Überlegungen
erhellt, warum Derrida eine Übersetzung nicht auf die Wiedergabe
des Sinns reduziert. Die „Wahrheit“ jenseits möglicher
Übertragung und Übersetzung besteht für ihn „nicht
in einer darstellenden Entsprechung zwischen Original und
Übersetzung, ebenso wenig wie in einer ursprünglichen
Angemessenheit des Originals, das sich auf einen äußeren
Gegenstand oder eine Bedeutung außerhalb seiner selbst
bezieht“(153). „Anstatt dem Sinn des Originals sich
ähnlich zu machen, schreibt Derrida, muss sich die Übersetzung
liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Weise des Meinens
in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als
Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer
größeren Sprache erkennbar zu machen“. Die Liebe
„gibt nicht wieder, erstattet nicht, stellt nicht dar“.
„Sie dehnt den Körper der Sprachen, legt und streckt ihn,
sie bringt die Sprache zu einer symbolischen Ausdehnung.“
(146). Eine Übersetzung vermählt sich dem Original, wenn
die beiden zusammengefügten Bruchstücke, die so verschieden
sind wie möglich, sich ergänzen, um eine größere
Sprache zu bilden. Dies geschieht im Zuge eines Überlebens, das
beide verändert und verwandelt.
Was Derrida darunter versteht
und durchaus zu Missverständnissen führen kann, wird im
folgenden Zitat deutlich. „Statt anzunehmen, dass wir immer
wissen, was die Begriffe des ‚Lebens’ oder der ‚Familie’
bedeuten, wenn wir auf diese vertrauten, auf familiäre Begriffe
zurückgreifen, um von Sprache und Übersetzung zu reden,
müssen wir erwägen, dass uns erst ein Denken der Sprache
und ihres ‚Überlebens’ im Übersetzen Zugang
verschafft zu einem Denken, dass es uns erlaubt, die Bedeutung von
‚Leben’ und ‚Familie’ zu
begreifen.“(133).
Hat demnach also die Sprache den denkenden
Menschen erst hervorgebracht, indem sie sich – ohne das Dazutun
des Menschen – ereignet? Ist die Sprachfähigkeit des
Menschen als Gabe (es gibt Sprache und wir haben an ihr teil) die
Bedingung des Denkens? Oder hat sich vielmehr die Fähigkeit zur
Sprache in der Evolutionsgeschichte der Menschheit erst allmählich
verfeinert, ist Bedingung ihrer Erfahrung und befähigt den
Menschen zu komplexen Denkleistungen?
Offenbar gehören
Sprachlichkeit und Menschheit unzertrennlich zusammen. Derrida
verweist z.B. darauf, dass die Bedeutungen der Begriffe „Leben“
und „Familie“ sich nur dann dem Menschen erschließen,
wenn er sie nicht als reine Denkleistung betrachtet, sondern das mit
diesen Begriffen Gemeinte der Sprache und dem Überleben des
Gemeinten in der Sprache entnimmt. Am Bespiel „Trauer“
können wir dies verdeutlichen: nicht das Wort (der Name)
„Trauer“ kann das Gefühl der Trauer in einer andere
Sprache übersetzen, während zugleich ein Gedicht oder eine
poetische Wendung „Trauer“ fühlbar machen können,
sie gleichsam „inszenieren“. Trauer ist gewissermaßen
in der Sprache und ereignet sich auch hier. Und hierin liegt wohl ein
ungeheures Potential der Sprache, nicht nur in poetischer Hinsicht.
Sprache ist zwar nicht automatisch Handlung, aber es gibt keine
Handlung, kein Gefühl, keine Reflexion, die von ihr wirklich zu
trennen wären.
Die höhere Sprache der Übersetzung
teilt mit jeder anderen Sprache den Nachteil, nur ein Idiom zu sein.
Wenn sie aber in dem Bestreben ausgeführt wurde, der „Sprache
der Wahrheit“ näher zu kommen, ergänzt sie den
Gehalt, postuliert Derrida. Die Übersetzung ist „zweck-mäßig
für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen
zueinander“. Aus solcher Sicht versucht die Übersetzung
nicht, dieses oder jenes auszudrücken, diesen oder jenen Inhalt
zu vermitteln, diese oder jene Sinnlast mitteilend abzuladen, sie
versucht vielmehr, die „Affinität zwischen den Sprachen
bemerkbar zu machen, auszuzeichnen, ihre Markierung zu markieren;“
„sie versucht ihre eigene Möglichkeit auszustellen“
(143).
„Die Theorie der Übersetzung hängt also im wesentlichen nicht von einer Rezeptionstheorie (verstehenden Aufnahme) ab“(135).
„Übersetzen hat ein Mitteilen nicht zur wesentlichen Bestimmung“. Laut Benjamin besteht zwischen Original und Version „eine strenge Dualität“(135).
Die Übersetzung ist weder Bild noch Abbild („beim Übersetzen geht es weder um Rezeption noch um Kommunikation, noch um Repräsentation“) (136).
Im
Weiteren folgt Derrida dem Text Benjamins, der das „Werk“
(Original, Übersetzung?) als „unvergesslich“
bezeichnet (137). „Es wird unvergesslich gewesen sein.“
„Die Struktur des Fortlebens“ ist „ein A priori –
der Tod ändert nichts daran“(138). Mit der Bezeichnung
„Werk“ deutet Benjamin an, dass es sich nicht um einen
belanglosen Text handelt. Ein wirkliches „Werk“ überlebt
nicht nur seinen Urheber, sondern auch seine Übersetzer. „So
wie die Äußerungen des Lebens inniglichst zusammenhängen
mit dem Lebendigen, ohne ihm etwas zu bedeuten, sagt Benjamin, so
geht die Übersetzung aus dem Original hervor.“ Diesen Satz
können wir auch folgendermaßen übersetzen: So wie die
Sprache (die Idiome) inniglichst zusammenhängen mit der
Sprachlichkeit (es gibt Sprache), ohne ihr etwas zu bedeuten, so geht
die Übersetzung (in allen Sprachen) aus dem Original (der
Sprachlichkeit, bzw. Wahrheit der Sprache / reinen Sprache) hervor.
Dies bedeutet, dass alle Sprachen in einem gleichen Verhältnis
zur Sprachlichkeit an sich stehen, d.h. in gleicher Weise durch sie
bedingt sind und sich von ihr her bewegen, sie begründen sich in
der Möglichkeit von Sprache überhaupt.
Dieses Verhältnis
ist formal und in diesem Sinne spricht Benjamin von einem formalen
Gesetz, einer Struktur die bindend ist, die einem in der
Schuld-Stehen gleichkommt. Hierbei handelt es sich um eine Art von
Schuld, die nicht in dem Sinne von Strafe im Zuge eines
Schuldigwerdens zu verstehen ist, sondern um eine Verstrickung, genau
genommen um eine textuelle Verwebung, deren Anfang, deren Ursprung
sich der Exegese entzieht. Alles, was über diese textuelle
Verwebung gesagt werden kann, ist, dass sie einen aporetischen
Charakter aufweist, da sie zum einen die Möglichkeit von
Sprachlichkeit überhaupt erst gibt (verstanden als Gabe), zum
anderen jedoch damit nicht schon die Sprache(n) an sich vorgibt oder
bestimmt. Denn wir können zu jeder Zeit dem Lebendigen, d.h. der
Sprachlichkeit, keine Bedeutung zumessen, sie ignorieren oder sogar
negieren. Oder aber, so wie es im Mythos von Babel der Fall ist, an
die Stelle der Sprachlichkeit, des Lebendigen, die Verwirrung, bzw.
Gott setzen.
Doch wir sehen, dass auch die Setzung von Gott
dem double bind der Sprache nicht
entgehen kann, sondern anders gesagt Gott selbst der Sprachlichkeit
bedarf, indem er verwirrt,
macht er sich selbst unlesbar.
Wir werden hierauf im Folgenden zurückkommen.
Das Werk
entfaltet eine vom Autor unabhängige Existenz, ähnlich wie
die Sprache der Sprachlichkeit an sich nichts bedeutet, also
gewissermaßen unabhängig von ihr ist. In Anlehnung an
Hegel gibt es Leben dann, „wenn das ‚Überleben’
(der Geist, die Geschichte, das Werk) über das biologische Leben
und den biologischen Tod hinausgeht“. Dem Philosophen entsteht
„die Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem der
umfassenden Geschichte zu verstehen“(134). Aufgabe des
Übersetzers ist es, das Überleben der Werke sicher zu
stellen. Das ist mehr als Fortleben. Das Werk lebt nicht nur länger,
sondern „mehr noch und besser, über die Verhältnisse
seines Autors hinaus“(135). Damit besteht das Band der Schuld
nicht zwischen dem, der gibt, und jenem, dem etwas gegeben wird,
vielmehr zwischen den Texten (zwischen zwei Erzeugnissen oder zwei
Schöpfungen). „Wenn die Struktur des Werkes in einem
‚Überleben’ besteht, ist man nicht einem
vermeintlichen Subjekt etwas schuldig, das angeblich der Autor des
Originals ist“ – „Im Schulden verstrickt ist
vielmehr, was in der Immanenz des Originals das formale Gesetz
darstellt“(138). Derrida sagt dazu: „Wenn nämlich
die Struktur des Originals von der Forderung nach Übersetzung
markiert wird, so heißt dies, dass es, indem es das Gesetz
diktiert, auch gegenüber dem Übersetzer in ein
Schuldverhältnis gerät. Das Original ist der erste
Schuldner, der erste Bittsteller, es ist das, was zuerst fordert und
verlangt, es fängt an mit einem Verfehlen eines Ermangelns, es
beginnt damit, sich nach Übersetzung zu sehnen, um das Vermisste
zu trauern und zu flehen. Dieses Verlangen, Ersuchen, Erfordern lässt
sich folglich nicht allein dort ausmachen, wo die Baumeister oder
Konstrukteure des Turms sich einen Namen machen und eine
allumfassende, universale Sprache schaffen wollen, die sich selber
übersetzt; das Erfordern, Ersuchen, Verlangen übt seinen
Zwang ebenfalls auf jenen aus, der den Turm abbaut: auf den
Dekonstrukteur“(140).
Das Original unterliegt selbst dem in
ihm enthaltenen formalen Gesetz des Wandels. „Gegeben ist es in
der Veränderung; es gibt sich hin, indem es sich verändert,
so dass die Gabe nicht die eines vorgegebenen Gegenstandes ist. Das
Original lebt und überlebt in der Wandlung: Denn in seinem
Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht
Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich
das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte“
(138/139). Es ist die Nachreife eines lebendigen Organismus oder
eines Samens (139, AÜ.S.12).
5. Der Eigenname
Die
Thematik von Leben, Überleben und Fortleben führt Derrida
schließlich auf die Bedeutung des Eigennamens – denn „wo
die Handlung des Lebendigen, der sterblich ist, weniger ins Gewicht
zu fallen scheint als das Überleben des in Übersetzung
begriffenen Textes (des übersetzten und des übersetzenden
Textes), muss die Signatur des
Eigennamens sich davon
unterscheiden und darf sich nicht so leicht vom Vertrag oder von der
Schuld zurückziehen“(139). Und weiter: „Die Frage
der Eigennamen erweist sich hier als entscheidend und
wesentlich“(139). Zunächst fragt Derrida nach dem
sterblichen Autor des Textes und dem ebenfalls sterblichen
Übersetzer. Der Eigenname
überlebt beide, deswegen ist er wesentlich. Die Signatur des
Eigennamens, so Derrida weiter, muss sich von der Handlung des
Lebenden, der sterblich ist, unterscheiden, sie (die Signatur) dürfe
sich nicht vom Vertrag und von der Schuld
zurückziehen. Und dann erinnert Derrida noch, dass es seit und
in und mit Babel um den Überlebenskampf des Namens geht.
Was
ist damit gemeint? Der Eigenname „ist mehr“ als der
Autor; wenn wir nämlich nach einem Menschen fragen, wer er sei,
was sein Merkmal sei, seine „Persönlichkeit“, dann
mögen wir dieses und jenes aufzählen, aber „vollständig“
werden wir diesen Menschen nie beschreiben. Die ständigen
Veränderungen seiner „Persönlichkeit“, die
geheimen Winkel seiner Seele, und wer er hätte werden können,
dies alles gehört zu ihm, wird aber von den Anderen selten oder
nie erwähnt oder auch nur wahrgenommen. Im Eigennamen aber ist
all dies „aufgehoben“. Der Name wurde dem Namensträger
gegeben, es sind also schon Erwartungen Anderer in ihm an ihn
geknüpft; und auch die Verpflichtung, dem
gegebenen Namen gerecht zu werden.
Der Name lebt aber auch nach dem Tode weiter, und so verbindet sich
im Namen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Namen wird man
angesprochen und in die Mitte des Lebens gerufen, so fällt
niemand der Namenlosigkeit zum Opfer, zugleich aber kann man sich
seinem Namen bis ans Lebensende nicht entziehen, im Namen laufen alle
Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, verpassten
Möglichkeiten, Stolz und Freude an Erlebtes, aber auch alle
Schuld und alles Verfehlen wie in einem einzigen Wort zusammen. Und
genau deswegen steht der Eigenname für die Einzigkeit der
Person, er ist nicht reduzierbar auf einige wenige Merkmale und also
nicht übersetzbar. Der Eigenname trägt nicht nur ein ganzes
individuelles Leben, sondern trägt dieses Leben über die
Zeiten und Räume hinaus, er lebt noch nach dem Tod seines
Trägers in den Erinnerungen der Überlebenden. Sie aber
gehen schon mit dem Erinnern eine Verpflichtung ein, und zwar die des
Übersetzens – denn wie anders können sie der Gefahr
entgehen, sich des Namens der Anderen nur in ihrem Namen zu erinnern?
Dies hieße, Gewalt anzuwenden gegenüber denen, die sich
nicht mehr wehren können – die Schuld gegenüber dem
Namen muss das Erinnern prägen, sei es das individuelle oder
kollektive.
Besonders deutlich zeigt sich die Problematik /
Struktur des Eigennamens an den Namen jener Menschen, die durch die
Shoah um ihr Leben gebracht wurden. Ihre Namen leben weiter oder
präziser ausgedrückt, sie sind alles, was außer der
Asche zurückgeblieben ist. Sie sind Eigennamen, die nun für
eine Leerstelle stehen, sie überleben ihren Träger ewig,
sie können auf ewig vernommen werden, da, wo die Sprache an sie
erinnert, auf sie verweist, sie abstrakt „benennt“, ohne
je konkret etwas über ihre „Wahrheit“, ihr
„nächtlich Inneres“ (Benjamin) sagen oder übersetzen
zu können. Und dennoch trägt jeder „Stolperstein“
einen bestimmten Eigennamen, erinnern die „Murs des noms“
(Die Mauern der Namen) in der ganzen Welt an diese unübersetzbaren
Leerstellen, an diese Abwesenheit und damit an Leben und Über-Leben.
Die Sprache stirbt nicht. Der erinnerte Eigenname kann die
Inkommensurabilität seiner eigenen Geschichte nicht gerecht
werden, sie nicht ausdrücken, sie nicht ansatzweise übersetzen.
Und dennoch ist er mehr als eine bloße Abfolge oder Kombination
von Buchstaben.
In diesem Sinne ist der Übersetzer dem
Eigennamen
gegenüber verschuldet. Was bedeutet das? Der zu übersetzende
Text ist mit einem Eigennamen signiert, der in jeder Übersetzung
eine neue Nuance bekommt, ohne sich dagegen wehren zu können.
Zum einen also gehört mir mein Name nicht, denn ich erlebe
zuweilen, wie mein Name von Anderen geschändet oder fehl
gedeutet wird. Zum anderen verfehle ich selbst oft die Verpflichtung,
die mir im und mit meinem Namen gegeben ist. Mein Name gehört
mir, und er gehört mir auch nicht, so wie die Sprache. Gerade
deswegen verlangt er nach Übersetzung, d.h. hier Überleben
und Fortleben. Wir werden zu
unseren Lebzeiten bestenfalls nur zu einem Teil die Verpflichtung
erfüllen, die uns mit dem Namen gegeben wurde. Deswegen bedarf
der Name des Fortlebens, damit sich manches an ihm erfüllen mag,
was zu Lebzeiten seines Trägers nicht gelingen mochte. In jedem
Eigennamen spiegelt sich so die Tragik des Namens Gott
wider – die Verwirrung, die Schwierigkeit und zugleich Aufgabe
des Übersetzens. Dass selbst Gott
diesem double bind nicht entkommt, kann nur darin münden, dass
wir alle gegenseitig gegenüber den Namen verschuldet sind, d.h.
verschuldet sind über den
Lebtag hinaus.
Derrida sagt:
„Zahlungsunfähig nach beiden Seiten hin, findet die
doppelte Verschuldung in einem Verhältnis zwischen Namen statt.
Sie übersteigt a priori die Namensträger, begreift man
diese als sterbliche Körper, die mit dem Überleben des
Namens verschwinden. […] die Schuld verpflichtet oder
(ver)bindet nicht lebendige Subjekte, sondern Namen am Rand der
Sprache; streng genommen geht es bei dieser Schuld um den Zug, der
ein zusammenbringendes und vertraglich verpflichtendes Verhältnis
stiftet, zwischen dem besagten lebendigen Subjekt und seinem Namen,
der sich am Rande der Sprache hält.“ Halten wir mit
Derrida noch einmal fest: die Schuld verbindet nicht lebendige
Subjekte, sondern Namen am Rand der Sprache. Das sprachliche Subjekt
ist also nicht direkt von der Schuld „betroffen“, wohl
aber ist es Träger eines Namens, d.h. es ist in der Sprache und
somit schon immer antwortend, in der Schuld,
antworten zu müssen, ohne gefragt worden zu sein. Für das
Verhältnis der Übersetzung bedeutet dies, dass nicht nur
die Signatur des Eigennamens des Anderen
übersetzt werden muss, sondern
zunächst auch der Eigenname an sich für einen jeden selbst
zu übersetzen ist. Wer also bin ich, wenn ich in meinem
Namen spreche? Kann ich in meinem Namen für oder über den
Anderen
sprechen, d.h. ihn übersetzen?
Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?
Bedeutet dies in Bezug auf
die Übersetzung von Texten nicht, dass der Übersetzer einen
Teil dieser vertraglichen Verpflichtung zwischen dem lebendigen
Subjekt und seinem Namen übernimmt? Wenn so alle untereinander
in ihrem und gegenüber ihrem Namen verschuldet sind, dann
entsteht damit ein Geflecht der Verpflichtung allen schon gestorbenen
und noch kommenden Geschlechtern gegenüber. Wie anders können
wir es einlösen als in der über-setzenden Arbeit am Text,
durch die er fortlebt, überlebt, wächst und nachreift –
wodurch schließlich das Fortleben, Überleben und
Nachreifen der in ihn eingeschriebenen Namen möglich wird.
6. Die Sprachlichkeit der Sprache
Es
folgt wiederum eine längere Passage der Kommentierung des
Benjamin-Textes, in dem es um die „Art des Meinens“, die
„Intention“ und schließlich die Affinität der
Sprachen in dieser Intention und dieser Art des Meinens geht. Damit
tastet sich Derrida an die „Sprachlichkeit“ heran, die
vor jeder – einzelnen – Sprache und damit vor den
Sprachen existiert. Die Rede ist von einer „Sprache“, die
sich nicht auf einen Inhalt bezieht, die also nichts abbildet, nichts
bezeichnet, also nicht Zeichen ist. Aber folgen wir ihm schrittweise,
beginnend mit der Affinität der Sprachen:
„Wo wäre
indes die ursprüngliche Affinität zu suchen…In jeder
Sprache wird etwas gemeint, was dasselbe ist, ohne dass eine Sprache
in ihrer Absonderung von den anderen Sprachen daran zu reichen
vermag. Die Sprachen können nur dann beanspruchen, es zu
erreichen und es sich selber als Versprochenes zu geben, wenn sie
ihre Meinungen, wenn sie die „Allheit ihrer einander
ergänzenden Intentionen“ gemeinsam entfalten.“
Derrida
behauptet also, dass jede Sprache „dasselbe meint“,
wenngleich sie dieses als eine von den anderen abgesonderte Sprache
niemals wirklich sagen kann. Nur dann werde dieses „Es“
tatsächlich „erreicht“ (d.h. benennbar), wenn alle
Sprachen sich gemeinsam – einander ergänzend – dahin
entfalten, dieses „Es“ auszusagen. Die spannende Frage,
die sich hier erhebt, lautet natürlich: was meint Derrida mit
diesem „Es“? Allzu leicht könnte man dazu verführt
werden, dieses „Es“ zu mystifizieren oder zu
verdinglichen – in jedem Fall hier einen Mythos, eine
ursprüngliche Wahrheit, eine Transzendenz oder Ähnliches
unterzuschieben, das sich nur aussagen ließe, wenn all die
unterschiedlichen „Arten des Meinens“ aus allen Sprachen
zusammengeführt werden. Wie soll dieses zusammenführen aber
aussehen? Sollen wir uns dies als Addition vorstellen oder als
Vermischung? Schon in dieser Frage erhellt die Unmöglichkeit
eines solchen Unterfangens, die Art des Meinens aus allen Sprachen
soz. „auf einmal“, in einem Akt zu denken oder
auszusprechen.
Derrida korrigiert deshalb seinen Begriff des
gemeinsamen Entfaltens (der einander ergänzenden Intentionen)
auch sogleich, indem er von Rückfaltung
spricht. Und zwar fordert er diese Rückfaltung für alle
Sprachen, wenn sie sich in ihren Intentionen ergänzen sollen.
Rückfaltung aber worauf-hin? Auf die „reine Sprache“,
wie Benjamin es sagen würde. Wie gesagt vermeidet Derrida diesen
Ausdruck, für ihn gibt es keine „reine Sprache“,
aber eine „Sprache der Wahrheit“. Er berührt
Benjamins Diktum womöglich insofern, als dass er an dieser
entscheidenden Stelle hervor-hebt, was wir oben bereits sagten: die
gemeinsame Intention aller Sprachen geht nicht auf ein „über
die Sprache Hinausgehendes, ein Transzendentes..“ sondern auf
die Sprache als babylonisches
Ereignis, auf die Sprachlichkeit
der Sprache. Diese Sprachlichkeit
nennt Derrida jene „Einheit ohne Selbst-Identität, die
bedingt oder bewirkt, dass es Sprachen gibt…“(ebd.).
Nochmals
unterstrichen: gesucht wird keine „Universalsprache im
Leibnizschen Sinn“, die gewissermaßen durch eine
bestimmte Formalisierung und strukturelle Reduzierung die
„Verständigung“ vereinfachte, sondern jenes Ereignis
und jene Verfasstheit der Welt, welche überhaupt Sprache möglich
– und nötig – macht. Das „babylonische
Ereignis“ besagt somit weitaus mehr als den Mythos des Turmbaus
zu Babel. Vielmehr meint es das ständig sich wiederholende
Ereignis der Verwirrung, Übersetzung und Namensgebung. Dieser
fort-laufende, nie sich erschöpfende Prozess des Sprechens und
Hörens, Fragens und Antwortens – ohne
je die eine Antwort zu erhalten (!)
– müsste die Menschen schier in den Wahnsinn treiben, wenn
dieser Prozess nicht lediglich die hörbare und sprechbare Seite
der reinen Sprachlichkeit wäre, die immer schon in der Welt
anwesend ist und in der die Welt überhaupt erst verfasst ist.
Dies also war mit dem „Es“ gemeint, mit dem „Selben“,
das alle Sprachen meinen, wenn sie sprechen. Sie wollen nicht etwas
aussagen, sondern die Sprachlichkeit – anders gesagt: die
verschiedenen Sprachen suchen danach, jenseits
der Bedeutungen ihrer Worte die
Sprachlichkeit als solche auszusagen. Wir stehen damit vor einem
neuerlichen Fragezeichen: was besagt das Wort „Sprachlichkeit“?
Zur
Beantwortung dieser Frage führt Derrida den Leser nochmals über
einige Klippen, indem er scheinbar sich mehrfach wiederholt und von
der „Harmonie“, der „Einstimmigkeit“ oder dem
„Akkord“ der Sprachen schreibt – immer wieder an
das Motiv der Ergänzung aller Sprachen zu einem Ganzen
anknüpfend, das nur in der Übersetzung der einen in die
andere ermöglicht werde. Dann aber tauchen plötzlich
Begriffe wie „Offenbarung“ und „religiöse
Schlüsselsprache“ auf. Das „unendliche Aufleben“
der Sprachen, das sich in der Übersetzung ereigne, sei keine
Offenbarung, sondern eine Ankündigung
und Verkündigung, ein Verbünden und Versprechen.
Tatsächlich ist nach jüdischem Verständnis bei der
Offenbarung nichts „gesagt“ worden, sondern etwas ist
undeutlich als Donnern oder Grollen vernommen worden. In diesem
Donnern hat sich „etwas“ angekündigt, ist „etwas“
versprochen worden – z.B. die Sprachlichkeit und die
Möglichkeit des Übersetzens. Aber: zugleich die Grenze der
Übersetzbarkeit, wie sie in der religiösen
Schlüsselsprache, im heiligen Text gezeichnet wird. Derrida sagt
dazu: „Als heiliges Wachstum der Sprachen kündigt die
Übersetzung das messianische Ziel, das messianische Ende an; das
Zeichen dieses Endes ist allerdings darin gegenwärtig allein als
Wissen um die Entfernung, um die Entfernung,
die den Bezug zum Ende stiftet.“ Dies bedeutet gleichzeitig,
dass das Wissen um Entfernung sich nicht auflöst, dass keine
Dialektik (Aufhebung), kein System die Entfernung beheben kann. Die
Entfernung zum Ursprung, zum letzten Wort, bleibt trotz aller
möglichen Übersetzungen. Dass diese Grenze, diese
Entfernung nicht als Verlust, sondern gerade als Chance und Bedingung
der Möglichkeit von Freiheit gelesen und übersetzt werden
kann, wird im Folgenden noch deutlich werden.
Diese Entfernung
könne man erahnen, und nur sie lasse uns in ein Verhältnis
zur „Sprache der Wahrheit“ treten. Anders gesagt: die
Ankündigung einer „Sprache der Wahrheit“, die
Erfahrung der Grenze von Übersetzbarkeit, die wir im Übersetzen
der heiligen Texte machen und die sich in jeder Übersetzung auch
literarischer Texte widerspiegelt, geben uns mehr als „nur eine
Übersetzung“. Sie geben uns die Erfahrung der Entfernung
zwischen der „Sprache der Wahrheit“ (oder der
Sprachlichkeit) und dem tatsächlich gesprochenen, geschriebenen
und übersetzten Wort. Sie geben uns – wenn wir mit
Rosenzweig, Cohen oder Adorno sprechen – die Erfahrung des
unaufhebbaren Restes, des Übersinnlichen, des zusätzlichen
Hauchs oder des unbestimmten Hofs, von denen jedes Wort umschwebt
wird. Hier wird nichts mystifiziert – im Gegenteil: Derrida
nennt es das Vorgefühl oder die Gestalt einer Ahnung des
Abwesenden. Eine
Mystifizierung dieses Abwesenden geschieht dann, wenn wir es benennen
– mit Worten wie Gott, Transzendenz oder Jenseitigkeit. Mit
diesen Worten glauben wir „es“ aufzuspießen und wie
eine Trophäe mit nach Hause zu tragen. Derrida aber vermeidet
jede Jagd nach Trophäen, indem er uns jenseits der Grenze der
Übersetzbarkeit „nur“ die Sprachlichkeit erfahren
lässt. Schlimm genug für Ontologen, Metaphysiker, Logiker,
Idealisten und andere „Denker“, die ständig auf
Trophäen-Jagd sind und dabei Ideen, Logos, Nous, Vernunft etc.
mit zur Strecke bringen möchten. Vergesst diese Jagd nach den
Gespenstern der griechischen Welt, so könnte man Derrida lesen!
Wenn ihr nach der Sprachlichkeit fragt, türmen sich genug Fragen
auf. Und so versucht Derrida selbst, die Frage, was denn
Sprachlichkeit an sich sei,
zu beantworten: im heiligen Text
ließen sich Sinn und Wörtlichkeit nicht mehr auseinander
halten. In diesem heiligen Text
fehle jeder Sinn außerhalb der Wörtlichkeit – d.h.
das Wort bezeichnet nicht etwas anderes, es ist kein Zeichen für,
es bedeutet nicht. Vielmehr sei der heilige Text der absolute Text,
„weil er in seinem Sich-Ereignen nichts mitteilt, nichts sagt,
was außerhalb des Ereignisses sinnvoll wäre oder Sinn
machte. Das Ereignis vermischt und deckt sich vollkommen mit einer
Sprachhandlung – etwa mit der Prophezeiung.“(ebd.). Das
Ereignis ist Sprachhandlung, ist Prophezeiung, unmittelbar.
Hier
also findet jede „Übersetzung“ ihre Grenze, da es
nichts zu übersetzen gibt, nichts, das ein Sinn wäre, der
sich vom Wort ablösen ließe. Buchstabe und Wort werden
„frei gelassen“, sie werden nicht mehr in das Korsett
eines Sinns oder einer Bedeutung gepresst. „Der Buchstabe
übersetzt sich nun aus sich – in sich selbst…“
Und dennoch werden wir gerade diese „Worte ohne Sinn“,
diese Ankündigungen und Prophezeiungen weiterhin zu übersetzen
versuchen – zwar nicht im Sinne einer Übertragung des
Sinns von einer Sprache in die andere, aber als Frage, die uns immer
„am Rande des Abgrunds, des
Wahns und des Schweigens“
(wie Derrida sagt) balancieren lässt.
Noch etwas anderes
lässt sich jedoch aus Derridas „Babylonischen Türmen“
lernen, auf das bereits Sprachdenker wie Franz Rosenzweig und Eugen
Rosenstock-Huessy aufmerksam gemacht haben: im und durch das Sprechen
setzt sich der Mensch in Beziehung zu Mitmensch, Gott und Welt. Die
Wirklichkeit wird bewirkt im Aufeinanderwirken und Zusammenwirken des
Sprechenden und Hörenden, des Fragenden und Antwortenden. Dieses
in Beziehung-Setzen, dieses Be-wirken dessen, was wir dann
Wirklichkeit nennen, ereignet sich sprachlich. Die Worte, die dabei
gesprochen werden, mögen zwar auch etwas bedeuten, in erster
Linie aber liegt ihr Sinn im Ereignis des Sprechens, das zugleich ein
Offenbaren, ein Sich-Ereignen und ein Bewirken des Wirklichen zu
nennen wäre. Wenngleich auch dieses „Ereignis“ in
entsprechender Entfernung vom heiligen oder absoluten Text
stattfindet, so spiegelt sich die Sprachlichkeit oder Sprache der
Wahrheit dennoch in diesem Ereignis des Sprechens wider. Alles
„Nicht-Verstehen“, alle Relativität, Vorläufigkeit
und Unentscheidbarkeit des Gesagten und des Sagens spielt sich vor
dem Horizont dieser Sprache der Wahrheit ab, von der uns dennoch ein
Abgrund trennt, der sich am ehesten im Schweigen sagen lässt.
7. Statt einer Zusammenfassung: Sprache ist Offenbarung – Offenbarung ist Sprache
Versuchen
wir, Derridas Kommentar von Benjamins Text, wenn nicht
zusammenzufassen, so doch von den berührten Fragestellungen aus
noch einmal der Bedeutung der Sprachlichkeit auf anderem Wege näher
zu kommen.
Wie wir gesehen haben ist das sogenannte Original nicht
autonom seiner Übersetzung gegenüber, vielmehr bedarf es
ihrer, erfüllt es sich erst mit ihr. Demnach ist die Übersetzung
Teil
des Originals, unmittelbar mit ihm verbunden. Fassen wir also
zusammen, dann ist zunächst jeder Text ein Original, da kein
Original irgendeinem Ursprung näher
wäre, d.h. mit sich selbst identisch ist und für sich
allein sprechen oder stehen könnte. Damit wird es obsolet, von
Original zu
sprechen. Weiterhin bedarf ein jeder Text, ein jedes Original seiner
Übersetzung, gerade weil er/es nicht für sich selbst
sprechen, bzw. stehen kann. Wäre das Zusammenfallen von Text und
Übersetzung möglich, dann wäre es in einer
Unmittelbarkeit, die sich nicht vernehmen ließe, in einer
absoluten Stille,
die keiner Vermittlung, keiner Zeichen bedarf. Die Übersetzung
ist also dem Original, dem text inhärent. Beide implizieren sich
gegenseitig, sind im double bind gebunden. Gebunden in einem formalen
Gesetz, wie Benjamin sagt, d.h. in der „Ankündigung“,
der „Verkündung“, dem „Versprechen“, der
„Wahrheit der Sprache“ näher zu kommen. Sie ist das
Gesetz, die Pflicht, das Soll, die Schuld, „von der man nicht
mehr loskommt, die man nicht mehr begleichen kann“, wie Derrida
sagt. Daraus folgt schließlich, dass Text und Exegese
zusammengehören, wie zwei Seiten einer Medaille, dass sie nur
scheinbar
oder künstlich
(in der Kunst) getrennt von einander sind. Die Struktur dieser
Verschränkung lässt sich dann auch so deuten, dass ein
Stillstand, in Form einer Dialektik oder Aufhebung, immer nur
scheinbar,
bzw. vorübergehend eintreten kann. Denn aus der Notwendigkeit
der Übersetzung, der Exegese, der Erklärung heraus, müssen
verhandelbare, fixierbare und verpflichtende Aussagen gemacht werden
können,
da ansonsten eine Verständigung, und sei sie noch so minimal,
gar nicht möglich wäre.
Der double bind der Sprache
beschränkt und öffnet also zugleich. Er „verhindert“,
dass das eine letzte Wort fällt, das in einer Sache gesprochen
werden kann, ebenso wie er die unabschließbare Auslegung,
Interpretation, Analyse befördert. Mit anderen Worten: die
Konstruktion von Sinn und seine Dekonstruktion fallen zusammen.
Dekonstruktion passiert nicht aktiv von außen
an einem intakten Korpus (der Sprache), sondern aus dem Inneren der
Sprache selbst – Faltung und Rückfaltung. So dass
letztlich die Frage aufkommt, ob nicht den Bewegungen an sich, den
Aporien von „Sinnentfaltung“ und Übersetzung mehr
Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte als der Vorstellung eines
letzten und wahren Sinns, der „Restitution des Sinns“.
„Der
Übersetzer ist verschuldet, er wird seiner selbst als Übersetzer
bewusst, er erscheint sich selber als ein Übersetzer unter den
Umständen einer Verschuldung; seine Aufgabe besteht in einem
Wieder- oder Zurückgeben“, „der Restitution des
Sinns. Er muss erstatten, was erst gegeben werden musste“ sagt
Derrida. Wie können wir aber etwas erstatten, was erst gegeben
werden musste? Wie können wir den zweiten vor dem ersten Schritt
gehen? Wie können wir glauben, etwas zu übersetzen, was
sich letztlich der Übersetzung entzieht? Sicherlich nicht, indem
wir die „Aufgabe des Übersetzens“ (Benjamin)
„aufgeben“ – sinnigerweise kann das Wort „Aufgabe“
genau in diesen beiden diametralen Bedeutungen gelesen werden. Denn
dieser Aufgabe können wir uns gar nicht entziehen, wir sind ohne
Unterlass gezwungen, Sinn/Bedeutung zu finden und zu stiften, gerade
weil es keine Unmittelbarkeit von Sinn und Übersetzung gibt, die
zusammenfielen und die Sprache aus ihrer Aporie erlösen würden.
So schreibt Derrida dann auch: „Der Übersetzer muss
erlösen und auflösen, indem er versucht, sich selber
loszukaufen von seiner Schuld, die im Grunde die gleiche Schuld ist
wie die des Originals – eine Schuld ohne Grund. Jene reine
Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen,
die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe
des Übersetzers.“(145,AÜ,S.19).
Die Übersetzung
ist die Umdichtung. Und wir können ergänzen, sie kann nur
Umdichtung sein und zwar in einem positiven Sinne, dass die
Übersetzung eines unmittelbaren, einzigen Sinns weder möglich
noch zulässig ist. Daraus folgt jedoch nicht zugleich, dass eine
jede Übersetzung „beliebig“ erfolgen könnte
oder sollte. Vielmehr ist gemeint, der Sprache Rechnung zu tragen,
d.h. zu erkennen, wie die Sprache mit der Sprachlichkeit, Benjamin
würde sagen das Leben mit dem Lebendigen auf das Innerste
zusammenhängen. Und demnach ist auch eine (literarische)
Übersetzung an ihren zu übersetzenden Text formal und
inhaltlich gebunden.
Die Umdichtung findet daher in einem gewissen
Rahmen statt, der durch das jeweilige sprachliche Feld, die
jeweiligen Sprachen gebunden und auch erweiterbar ist. Genauso
verhält es sich auch mit der Übersetzung des heiligen
Textes, mit der wir es hier zu tun haben. Denn die Erzählung vom
Mythos zu Babel ist ein Text aus dem Buch Genesis. Hören wir
Derrida: „Die reine und schlichte Übersetzung ist die des
heiligen Textes, in der sich Sinn und Wörtlichkeit nicht mehr
auseinander halten lassen und so ein einzigartiges, unübersetzbares,
unübertragbares Ereignis verkörpern. […]. Doch
aufgrund der Ununterscheidbarkeit zwischen Sinn und Wörtlichkeit
kann sich das rein Übersetzbare als Unübersetzbares
ankündigen, hingeben, darstellen, übersetzen lassen. Von
dieser Grenze aus, die eine innere und zugleich äußere
Grenze ist, nach innen und nach außen begrenzend, erhält
der Übersetzer alle Zeichen der Entfernung, die ihn auf seinem
unendlichen Weg leiten, am Rande des Abgrunds, des Wahns und des
Schweigens“(161).
Was wir also bisher über den
(literarischen / poetischen) Text an sich gesagt haben, gilt
insbesondere für den heiligen Text. Genauer gesagt, setzt der
heilige Text die ganze aporetische Struktur von Sprache und
Übersetzung in Szene. Indem Sinn und Wörtlichkeit
zusammenfallen, also auf nichts außerhalb ihrer selbst
verweisen und demnach gerade nicht transzendental zu lesen sind,
sondern als das sprachliche Ereignis an sich, stellen sie eine
Parabel der Unübersetzbarkeit dar. In der Offenbarung ihrer
Erzählung, d.h. in der Narration (im Text) selbst sind sie
unteilbar: Original und Übersetzung fallen zusammen. Der Text
ist Ereignis oder wie Derrida sagt: „Es geht an dieser Stelle
um genau das, was Babel heißt: um das von Gottes Namen
auferlegte Gesetz. Indem es die Grenze anzeigt und
entzieht, schreibt es das Übersetzen vor und verbietet oder
untersagt es zugleich. Doch geht es hier nicht nur um das
babylonische Verhältnis, es geht nicht nur um eine Szene oder
Struktur. Es geht auch um Status und Ereignis des Babelschen Textes,
um den Text der Genesis,
heilig und in dieser Hinsicht einmalig. Dieser Text untersteht dem
Gesetz, von dem er beispielhaft berichtet und den er beispielhaft
übersetzt.“ (S.162).
Mit anderen Worten: der heilige
Text reflektiert sich selbst, er spricht von seiner eigenen
Möglichkeit, setzt sich selbst in Szene. Babel handelt von dem
„von Gottes Namen auferlegte(n) Gesetz“, nicht Gott
hat das Gesetz gegeben, sondern von
seinem Namen aus wurde es gegeben. Gott
ist hier als der potenzierte Eigenname zu verstehen, als von der
Sprache Gegebenes.
Es gibt Gott
in der Sprache, Sinn und Wörtlichkeit fallen auch in ihm, in
seinem Eigennamen zusammen. Er geht nicht über seine
Buchstäblichkeit hinaus, er ist innere und äußere
Grenze zugleich und gerade durch diese Grenzziehung ist er
unübersetzbar übersetzbar.
Der Eigenname Gott
bedarf der Übersetzung, einer Übersetzung, die doch niemals
die Schuld zu tilgen vermag. Der Eigenname macht die Übersetzung
erforderlich, d.h. der Mensch „muss“ Gott
verstehen, ihn deuten, ihn
übersetzen. Und damit ist Gott
selbst in Gefahr, selbst im double
bind gefangen. Er hat sich durch Babel, durch die Verwirrung, die er
gestiftet hat, selbst in Gefahr gebracht, denn nun muss er übersetzt
werden, kann nicht für sich allein stehen. Ziehen wir an dieser
Stelle Sholems Betrachtungen mit ein, sehen wir, dass das
babylonische Ereignis als Offenbarung gelesen werden kann:
„Was
eigentlich kann Gott offenbaren und worin besteht das sogenannte Wort
Gottes, das den Empfängern der Offenbarung zukommt? Ihre Antwort
(die der Kabbalisten K.F.) lautet: nichts anderes als sich selbst, wo
er Sprache und Stimme wird. Dieser Punkt aber, an dem die göttliche
Kraft sich in einem Ausdruck, sei er auch noch so innerlich und
verborgen, niederschlägt, ist der Name Gottes. Er ist das, was
in Schrift und Offenbarung, unter welchen Hieroglyphen immer, zum
Ausdruck gelangt, zur Sprache kommt. […] Jene geheimen
Signaturen [Rischumim], die Gott in die Dinge gelegt hat, sind
freilich im selben Maße Verhüllungen seiner Offenbarung
wie Offenbarung seiner Verhüllung. […] So ist also die
Offenbarung eine solche des Namens oder der Namen Gottes, die etwa
die verschiedenen Modi seines tätigen Seins sind. Die Sprache
Gottes nämlich hat keine Grammatik. Sie besteht nur aus
Namen.“3
Wenn
also „die Offenbarung eine solche des Namens“ ist, dann
können wir von einer sprachlichen Offenbarung ausgehen, von
einer Offenbarung, die eigentlich Gabe, bzw. Ereignis ist. Am Anfang
war das Wort, nicht weniger und nicht mehr. Sinn und Wörtlichkeit
fallen zusammen. Das Wort ist das Ereignis. Sprache und Offenbarung
fallen zusammen, sie sind nur scheinbar
in Sinn und Übersetzung zu
„teilen“.
Derrida schließt seine Betrachtungen
mit einem Zitat von Maurice de Gandillac: „Denn in irgendeinem
Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber
die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung.
Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal
aller Übersetzung“(S. 163). De Gandillac spricht von einer
virtuellen Übersetzung, die sich interlinear, also zwischen den
Zeilen finden ließe. Damit wäre demnach weniger Sinn und
Wörtlichkeit an sich gemeint als vielmehr das, was sich im Text
ereignet, was noch mal auf einer anderen Weise nicht zu übersetzen
ist. Und hierbei handelt es sich wohl nicht um die Restitution eines
Sinns sondern um das Verhältnis zur Sprache an sich, um das in
der Sprache Sein. Bleiben wir einen Moment bei dieser Idee der
„Interlinearversion“ des heiligen Textes, dann können
wir nochmals Sholem heranziehen:
„Es wurde sogar ein altes
Wort des Midrasch, wonach die präexistente Tora vor Gott mit
schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben gewesen sei,
esoterisch dahin gedeutet, das weiße Feuer sei die schriftliche
Tora, in der die Form der Buchstaben noch gar nicht hervortritt,
vielmehr solche Form erst durch die Kraft des schwarzen Feuers
erhielte, welches die mündliche Tora ist. Das schwarze Feuer sei
wie die Tinte auf dem Pergament der Tora-Rolle. Damit wäre also
impliziert, dass, was wir auf Erden schriftliche Tora nennen, selber
schon durch das Medium der mündlichen Tora gegangen ist und
darin eine sinnliche Form angenommen hat. Nicht die Schwärze der
von der Tinte umrissenen Schrift, die selbst schon eine Spezifikation
ist, sondern die mystische Weiße der Buchstaben auf dem
Pergament der Rolle, auf dem wir überhaupt nichts sehen, ist die
eigentliche schriftliche Tora.“4
Diese
Anschauung würde also einer kompletten Umkehrung gleichen und
die Frage aufwerfen, was und wie außerhalb der Wörtlichkeit
an sich, des Buchstabens an sich zu lesen wäre. Würde uns
die Weiße des Papiers weniger erzählen können als
ihre Schwärze, in Anbetracht dessen, dass die Schwärze
unübersetzbar übersetzbar bleibt?
Anmerkungen:
1 Der
etymologische Ursprung des Wortes Babel ist indes nicht eindeutig
herzuleiten. Die Bezeichnung Babel tritt im Genesis Text zwei Mal
auf: ha ir we ha migdal babel (die Stadt und der Turm zu Babel) und
in der verbalen Form von balal (verwirren und verwirrt). Mit der
Stadtbezeichnung „Babel“ wird im hebräischen Text
an zwei Stellen ein Wortspiel veranstaltet, das auf den ähnlichen
Klang der Wurzeln bbl, also bet bet lamed, (im Namen „Babel“)
und bll (im Verb „verwirren“) aufbaut:
Gen 11,7:
הָבָה
נֵרְדָה וְנָבְלָה
שָׁם שְׂפָתָם
אֲשֶׁר לֹא
יִשְׁמְעוּ
איִשׁ שְׂפַת
רֵעֵהוּ׃
Gen
11,7: hāvāh nērdāh wənāvlāh šām
śəfātām ăšer lo yišməū
īš śəfat rēēhū
Gen 11,7:
Wohlan, lasset uns hinabsteigen, und dort verwirren (wə-nāvlāh)
ihre Sprache, daß sie nicht verstehen Einer die Sprache des
Andern. (Verbalform: Kohortativ pl. < bll)
Gen 11,9: עַל־כֵּן
קָרָא שְׁמָהּ
בָּבֶל כּיִ־שָׁם
בָּלַל יְהֹוָה
שְׂפַת כָּל־הָאָרֶץ
Gen
11,9: al-kēn qārā šmāhh bāvel kī-šām
bālal YHWH śəfat kāl-hā-ārez […]
Gen
11,9: Darum nannte man ihren Namen Babel (bāvel), weil dort der
Ewige verwirrte (bālal) die Sprache aller Erdbewohner, […]
(Verbalform: Perfekt 3.Sg.masc. < bll)
(Deutsch nach
L.Zunz)
Man muss dazu wissen, dass im Hebräischen das
punktierte Bet wie B und das unpunktierte Bet wir V ausgesprochen
werden. Der Name Babel lässt sich jedoch nicht nur auf die
hebräische Verwendung zurückführen, sondern auf das
Akkadische bāb-ilim, was „Tor der Götter“
bedeutet. Jedoch muss auch hier eingewendet werden, dass die
Ur-Etymologie des akkadischen Namens nicht unstrittig ist, da die
akkadische Bezeichnung auf einen älteren nichtsemitischen Namen
zurückgehen könnte.
2 Jakobson zur innersprachlichen Übersetzung: Die intersprachliche Übersetzung deutet sprachliche Zeichen mittels einer anderen Sprache. Die intersemiotische Übersetzung ist eine Paraphrase, ein rewording, eine definierende Deutung (128).
3 Vgl. Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Suhrkamp, Frankfurt, 1970, S. 106.
4 Ebd. S. 108.
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