Gut und böse als Eigenschaften
Michael Seibel • nichts, das sich nicht sagen ließe - das Böse, Teil 6 (Last Update: 17.11.2017)
Verlassen wir für einen Augenblick die Ebene der Geschichten, also die Ebene eines Sprechens, dass sein Thema an den langen Faden der Zeit hängt und lassen uns auf die Ebene ein, von der wir zunächst nicht sagen können, ob eine ontologische oder die der Semiotik ist.
Viele philosophische Richtungen bestreiten, dass gut zu sein im selben Sinn die Eigenschaft einer Handlung sein kann wie es die Eigenschaft einer Hose ist, blau zu sein oder eines Dinges, eine Masse zu haben. Kant etwa meint, dass es nichts unzweideutig Gutes gibt außer einem guten Willen. Die Eigenschaft, blau zu sein, gehöre der Welt der Erfahrung und Naturnotwendigkeit an, in der ein Ding eine Masse hat, die Eigenschaft gut aber gehöre zur Welt der Kausalität aus Freiheit, in der es Verantwortlichkeit gibt und in der mithin allein sinnvolle ethische Urteile über Handlungen gefällt werden können. Die Kantische Unterscheidung setzt dabei den neuzeitlichen Unterschied von Naturkausalität und Freiheit als Ordnungsinstrument voraus, mit dem sich schlechthin alles, was unter Menschen verhandelt wird, durchkämmen lässt wie das Haar nach Nissen. Aber ein solcher Kamm musste zunächst einmal erfunden werden, bevor er sich nutzen ließ.
Wie immer man zu Kants Dualismus und zur Sein-Sollens-Lücke steht, in der Sprache sind gut und böse zunächst einmal, abstrahiert vom Begriff, Adjektive wie andere auch, wie gelb oder schwer. Wie ist die Handlung denn nun, richtig, falsch, gut, erschreckend, bösartig, verzeihlich, unverzeihlich, peinlich, sündig, rein, schuldhaft, huldvoll, unschuldig, großzügig, dumm, geeignet, intelligent, schlecht, übel, schädlich, unglücklich, unvollkommen, hässlich, unbrauchbar, geringwertig, defizitär, krankhaft, unangenehm, schlimm, unrecht, übel oder gelb und schwer? Warum gerade böse? Die Bezeichnung böse ist Bestandteil des Pools möglicher Eigenschaften. In diesen Pool kommt sie nicht anders als andere Eigenschaftsworte auch durch das Differenzierungsvermögen im alltäglichen Sprechen als Teil des Zusammenlebens mitsamt seinen Erfahrungen, Metaphysiken und Glaubenssätzen, sozusagen auf dem Niveau des späten Wittgenstein.
Offenbar benötigen wir, um zu beschreiben, was ist, eine beeindruckende Fülle subtil unterscheidender Eigenschaftsworte, die einfach differenzieren, ohne uns ständig fragen zu müssen, ob wir ein ethisches oder ein irgendwie anders geartetes Urteil fällen wollen, ohne all zu klar gegeneinander abgegrenzte Begriffe vorauszusetzen. Das Schmerzliche grenzt an das Ängstigende. Dies an das Schädliche. Das Schädliche grenzt seinerseits an das Unglückliche und dies wieder an das Ungute, aber es bedarf zunächst nicht per se einer Idee des Guten und noch weniger einer des Bösen, damit diese Übergänge funktionieren, die allesamt subtile Bestimmungen leisten und klar machen, was jemand meint, der sie benutzt. Die deutsche Sprache hat einen Wortschatz von mindestens 500.000 bis je nach Schätzung mehr als 5 Mio. Worte.1 Es genügt, zur Beschreibung eines Sachverhalts mittels Vergleichs eine Bezeichnung aus einem Bestand verfügbarer Wörter auszuwählen und gegebenenfalls eine neue Bezeichnung zu erfinden oder zu importieren, falls die vorhandenen nicht treffend genug sind, so wie das in hohem Maß in Fachvokabularen bis heute ständig geschieht. Der Bereich, den wir üblicherweise als den ethischen von anderen abzugrenzen versuchen, ist wie der ästhetische oder der technische voll von solchen Übergängen. Wir dürften kaum fehlgehen, wenn wir uns die schöpferische Flut sprachlicher Differenzierungen als Erfordernis der Verständigung mit dem Anderen vorstellen oder, was das selbe ist, als veranlasst durch den intersubjektiven Umgang mit den Gegebenheiten der Welt.
Sinn ist ohne solche qualitativen Übergänge nicht zu denken, womit nicht beantwortet ist, was genau darüber entscheidet, was in was übergeht.
Der Buddhismus bietet ein besonders anschauliches Beispiel für eine ethische Bewegung, die sich nicht an Geboten und Verboten ausrichtet, sondern an qualitativen Übergängen benachbarter Vorstellungen. Die dritte der vier edlen Wahrheiten (cattāri ariyasaccāni) der buddhistischen Lehre besagt, dass durch das Erlöschen (nirodha) seiner Ursachen das Leiden erlischt. Das Upanisa Sutta bedient sich diesbezüglich des Bildes vom Regen, der am Ende den Ozean füllt und beschreibt den Zusammenfluss durch eine Reihung von Differenzen. Es gelte nämlich in selber Weise für das Entstehen aller Leiden:
Gestaltungen gehen aus Unwissenheit hervor,
Bewußtsein aus Gestaltungen,
Name-und-Form aus Bewußtsein,
sechs Sinnesträger aus Name-und-Form,
Berührung aus den sechs Sinnesträgern,
Gefühl entsteht aus Berührung,
Verlangen aus Gefühl,
Festhalten aus Verlangen,
Werden aus Festhalten,
Geburt hat Werden zur Voraussetzung,
Leiden habt Geburt zur Voraussetzung.
Eine Folge, die qualitativer Differenzen bei weitem mehr bedarf als eines organisierenden Gesetzes oder eines Signifikanten, um so und nicht anders zu verlaufen.
Diese Folge, so wird weiter
ausgeführt, sei jedoch umkehrbar, indem Vertrauen als
Anfangsglied in die Reihe eingesetzt werde. Sie verändere sich
dadurch wie folgt: Vertrauen antworte auf Leiden, Freude auf
Vertrauen, Verzücken entstehe aus Freude, Befriedigung aus
Verzücken, Wohl aus Befriedigung, Konzentration aus Wohl, wahres
Wissen aus Konzentration, Ernüchterung aus wahrem Wissen,
Nichtbegierde aus Ernüchterung, Befreiung aus Nichtbegierde,
Wissen von Enden aus Befreiung. Was ist das anders als eine Identität
von Kausalketten und Differenzreihen. Die Differenzen selbst sind
hier Grund der beiden Reihen. Wird eine bestimmte Qualität
verändert, Vertrauen statt Unwissenheit, ändern sich alle
Nachbarschaftsverhältnisse und dadurch der Verlauf der ganzen
Reihe. Wie man sind, sind es zeitliche Reihe, Reihen sukzessiver
Veränderungen des Entstehens und Vergehens von Leiden, eine
unter einer bestimmten Bedingung umkehrbare, anti-entropische Zeit.
Differenzierungsdichte
–
nichts, das sich nicht sagen ließe
Die Bezeichnung böse ist kein Robinson auf einer einsamen Sprachinsel, die dem Denken keine andere Wahl läßt, als es auszuwählen, weil andere Differenzen nicht verfügbar wären. Bevor es dazu kommt, dass vom malum außer dem Bösen nichts übrig ist, musste allerhand passieren. Ganz im Gegenteil. Es wimmelt nur so von möglichen Bezeichnungen in einem beliebig engen Netz an Differenzen. Verschaffen wir uns einen Eindruck davon, sonst bleibt im Grunde unverständlich, was das Böse organisiert, wenn es erst einmal erfunden ist.
Wie weit geht die Differenzierungsfähigkeit? Lässt sich alles, was getan werden kann, sprachlich lückenlos differenziert ausdrücken? Leibniz als Linguist? Die Frage scheint so etwas zu fordern wie eine sprachliche Infinitesimalrechnung oder eine Monadologie der Sprache. Wozu sonst der riesige Katalog der Fachvokabulare, diese geschätzt gut 5 Mio. Worte des Deutschen im allerweitesten Sinn? Ist es z.B. möglich, sich frei von jeder Ambiguität über die Spielweise eines Pianisten zu unterhalten und – vielleicht noch schwieriger – über eine seiner Interpretationen, sagen wir die Interpretation eines Werkes von Schostakowitsch durch Swjatoslaw Richter ? Damit ist nicht gemeint, den ultimativen, schlechterdings erschöpfenden Essay über dieses Thema zu schreiben. Den kann und wird es nicht geben. Aber wenn es nicht möglich wäre, beliebig fein differenziert über das Klavierspiel zu sprechen, wie ließe sich dann verstehen, dass sich Pianisten überhaupt ausbilden lassen, dass offenbar jeder einzelne Ausbildungsschritt anleitbar und korrigierbar ist? Auch die subtilste Differenz muss sprachlich markierbar sein, um perfektioniert werden zu können. Offenbar muss die Sprache nicht selbst Instrumentalklang werden, um diesen zu bezeichnen. Die Sprache muss mit dem, was sie bezeichnet, in keiner Weise identisch sein, sie muss kein Abbild, keine Kopie des Seienden sein. Aber sie kann klären, was zu üben ist, was noch nicht stimmt und was das nächste Ziel ist. Und selbstverständlich gehört zum Klavierunterricht, dass der Lehrer gelegentlich aufhört zu sprechen und am Klavier vormacht, was er meint. Training ist kontrollierte Wiederholung. Im Falle des Pianisten bedarf es eines ausgebildeten Gehörs und einer Sprache, die so präzise differenziert, bis keine weitere ästhetisch relevante Differenz mehr hörbar ist. Meßinstrumente würden immer noch Differenzen feststellen, die in anderen Diskursen Relevanz entwickeln könnten, bei denen es nicht um die Ausbildung eines Pianisten geht, z.B. in Fragen der Akustik. Sobald sich in der Wiederholung so etwas wie eine neue Möglichkeit ankündigt, eine bislang ungenutzte Spielweise, eine feine Nuance, ein Timbre, ein akustischer Kniff, eine Soundvariante, muss sie dem Anderen zu Gehör gebracht werden und fordert, um Signifikanz und damit Permanenz zu gewinnen, die Erfindung einer neuen sprachlichen Differenz. Man muss sogar mehr sagen: Ein sprachlicher Ausdruck muss gefehlt haben, sonst wäre die Nuance nicht neu. Wie auch immer: man wird die Differenz sprachlich markieren, durch neue Worte oder durch neue Wortverbindungen, durch Stilmittel, durch grammatische oder rhetorische Figuren oder durch Tropen. Man wird darüber sprechen. Man wird mehr oder weniger glücklich versuchen zu bestimmen, was denn nun genau Swjatoslaw Richters Schostakowitsch-Interpretation ausmacht. Wen wundert's? Es ist ein hochspezialisiertes Geschäft. Aber auch kaum einer wäre in der Lage, einen Richter oder Gilels zu unterrichten, sich also mit ihm an die Grenzlinien des Differenzierens zu begeben oder mit einem Heisenberg an die Grenzen der Physik, dorthin, wo weitergearbeitet wird. Abgesehen davon wäre der Anspruch, eine Schostakowitsch-Interpretation von Richter an einem Ort, in einem Essay, einem Artikel, einer Rede, was auch immer, beliebig differenziert beschreiben zu können, so zu sagen die ganze Wahrheit in eine Nußschale zu bekommen, vergleichbar mit dem für einen Pianisten abwegigen Anspruch, sie auf einer einzigen Probe zu erarbeiten. Daraus zu schließen, das letztlich Bestimmte lasse sich nicht sagen und das Sagen sei der Musik zu überlassen, ist unsinnig. Die Musik redet nicht, sie erklingt.
Anmerkungen:
1 Die Dudenredaktion schätzt den Umfang der deutschen „Alltagssprache“ auf etwa 500000 Wörter. „In einem Textkorpus der deutschen Gegenwartssprache, das eine Milliarde Textwörter lang ist, kommen etwa 5,3 Millionen lexikalische Einheiten – also Wörter, so wie sie im Wörterbuch stehen – vor.“ (vgl. Wolfgang Klein, Von Reichtum und Armut des deutschen Wortschatzes)
zurück ...
weiter ...
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.