Vom malum, das nicht böse ist
Michael Seibel • Soll man die Gründer verdammen? - das Böse, Teil 5 (Last Update: 17.11.2017)
Ob eine Bewertung ethisch gemeint ist, erkennt man in unserer Sprache offenbar daran, dass bestimmte Wertausdrücke wie gut und böse verwendet werden. Aber es reicht nicht, Billigung und Missbilligung auszudrücken. Billigend und missbilligend sind auch Adjektive, die mit ethischen Bewertungen nichts zu tun haben, sondern Unzulänglichkeiten, Mängel und Übel der unterschiedlichsten Art bezeichnen, zweckdienlich oder zweckwidrig, kompetent oder inkompetent, geschickt oder ungeschickt. Missbilligung ist also kein sicheres Kennzeichen ethischer Bewertungen.
Immer, wenn etwas von etwas anderem sprachlich unterschieden werden soll, müssen sich Differenzen ausdrücken lassen. Bei der Rede über Handlungen nicht anders als bei jeder anderen. Die entsprechende Bezeichnung muss beim Nachdenken über die infrage stehende Handlung und den Kontext, indem sie zu bewerten ist, passend erscheinen. Den antiken Beobachtern des völlig außer sich geraten Achill vor Troja war dessen »Verstrickung eines edlen Menschen in ein Zuviel, das zuerst berechtigt ist, dann aber auf ihn zurückfällt«, wie Schadewaldt es nennt. Die Übersetzung böse für kakon als in diesem Zusammenhang nicht passend erschienen.1
Formal besteht ein Urteil darin, dem im jeweiligen Kontext zu beurteilenden Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft zuzuweisen, wenn erschreckend das passende Adjektiv ist, dann erschreckend, wenn böse passend ist, dann böse. Böse und erschreckend sind insoweit zwei von vielen möglichen Eigenschaften von Handlungen. Wenn, wie Wittgenstein sagt, die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist, dann bedeutet bei Sokrates und Aristoteles he kakia zwar das Gegenteil von gut (agathon), aber deshalb noch lange nicht böse im Sinne von verwerflich. Wer Schlechtes tut, wer nicht tugendhaft handelt, schadet vielmehr sich selbst und dem harmonischen Zusammenleben der Gemeinschaft, in der er lebt. In der eudämonistischen Antike diskutiert man, wie Glück als das höchste Ziel allen menschlichen Handelns erreichbar ist: Durch ein Leben der Lust oder des Reichtums oder der Ehre und Macht oder eher auf ein sittlich-politisches oder auch ein wissenschaftlich-philosophisches Leben? Hier gibt es gute und schlechte Handlungen, aber letztlich keine bösen.
Interessant ist in dieser Hinsicht die mythische Beurteilung von Kulturheroen. Kain tötet Abel.2 Romulus tötet Remus. Solche Bruderkämpfe kommen in vielen Mythologien vor.
Ungewöhnlich an der biblischen Version ist jedoch, dass Kain später durchgängig in der Bibel als Mörder verurteilt wird und seine Nachkommen als Geschlecht eines Mörders dem Untergang geweiht sind. Nachdem hingegen Romulus und Remus in Streit darüber geraten sind, wer Rom erbauen soll, das Flugorakel zugunsten von Romulus entschieden hat, sich Remus über die von Romulus begonnene Stadtmauer lustig macht und Romulus ihn erschlägt, drohend, dass es künftig jedem Feind Roms so ergehen werde, kommt niemand auf die Idee, Romulus wie Kain einen Mörder zu nennen oder Rom vor dem baldigen Untergang zu sehen.
Es ist gänzlich ungewöhnlich, dass der mythologische Gründungsmord als böse verurteilt wird. Darauf hat René Girard hingewiesen.
Um zu beurteilen, ob eine Bezeichnung angemessen ist, bedarf es Kriterien. Eine Handlung z.B. unprofessionell zu nennen, kann aus verschiedenen Gründen scheitern. Entweder ist sie nach den angelegten Kriterien einfach nicht unprofessionell oder der Urteilende weiß, dass es Kriterien gibt, ist aber nicht in der Lage, sie anzuwenden, weil er selbst z.B. nicht sachkundig ist, oder er weiß schlicht nicht, was unprofessionell bedeutet. Dass beim Wort böse jemand mit der Wortbedeutung nichts anfangen kann, mag uns heute schwer vorstellbar sein. Platon etwa wollte beurteilen, ob eine Handlung einem gelungenen Leben förderlich sei und musste dazu die Eigenschaft böse nicht bemühen. Platon schätzte Homer als »ersten der Tragödienschreiber«3, obwohl er dessen Werk für nicht jugendfrei hält, da es künftige Krieger verängstigen könne. Wie sieht Homer die Wut des Achill? Der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt schreibt:
»Als den ›Zorn des Achilleus‹ hat Homer mit dem ersten Wort das Kerngeschehen der Ilias bezeichnet. Und diese Thematik hat er vom Anfang bis ans Ende seiner Ilias durchaus im tragischen Sinn durchgeführt: die Verstrickung eines edlen Menschen in ein Zuviel, das zuerst berechtigt ist, dann aber auf ihn selbst zurückfällt: ›Den Zorn des Peliden, den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden und den Vögeln zum Mahl … ‹
Drei
Momente sind es zumal, die dieses tragische Geschehen des Epos
bestimmen: einmal der Tod,
zum zweiten der Zorn
und
zum dritten der Ausgleich.
Tod
und
Schmerz in seiner zehntausendfachen Form beherrscht das große
Geschehen des Epos. Der Tod erscheint in tausend Gesichtern:
entsetzliche Verwundungen, furchtbare Verstümmelungen, die ganze
Fülle des Sterbens und Untergehens in hartem Realismus in den
Gesängen, die die wechselvollen Schlachten mit Vordringen und
Rückschlägen beschreiben. Das steigt auf von unzähligen
Toden zu dem großen Tod der beiden Hauptgestalten des Hektor
und des Achilleus: des Hektor, der zwar um sein Ende wissend, aber
letztlich doch verblendet stirbt, und des Achilleus,der seit dem Wort
der Mutter: ›bald nach Hektor ist auch dir der Tod bereit‹
im Wissen seines Todes lebt.
Der Motor dieses entsetzlichen Geschehens ist der Zorn, man kann auch sagen: die Leidenschaft,das Getriebensein. Er kommt auf in Achilleus als der berechtigte Zorn wegen einer Ehrenkränkung durch den Heeresfürsten Agamemnon, der ihm sein Ehrgeschenk, die Jungfrau Briseïs, fortnimmt; worauf Achilleus die Teilnahme am Kampf absagt und durch seine Mutter Zeus bittet, das Heer der Achaier, das eigene Heer, zu schlagen.«4
Im 24. Buch der Ilias wird Homer die Götter beraten lassen, ob Achill den geschändeten Leichnam Hektors den Troianern ausliefern soll, damit sie ihn bestatten können. Bei dieser Beratung geht es allerdings nicht darum, die Grausamkeit Achills zu verurteilen, sondern darum, die Würde Hektors zu bemessen. Sie gründet auf seinen Kriegstugenden und sein durch Opfer gefestigtes Verhältnis zu den Göttern. Was Achill betrifft, ist Verstrickung in ein Zuviel der bessere Ausdruck, nicht Bosheit.
Anmerkungen:
1 Ilias, 22. Gesang:
daß ihm hindurch aus dem zarten Genick die Spitze hervordrang.
Doch nicht gänzlich den Schlund durchschnitt der eherne Speer ihm,
dass er noch zu reden vermocht' im Wechselgespräche;
Und er entsank in den Staub; da rief frohlockend Achilleus:
Hektor, du glaubtest gewiss, da Patrokleus' Wehr du geraubet,
Sicher zu sein, und achtetest nicht des entfernten Achilleus.
Törichter! Jenem entfernt war ein weit machtvollerer Rächer
Bei den gebogenen Schiffen, ich selbst, zurück ihm geblieben,
Der dir die Kniee gelöst! Dich zerren nun Hund' und Gevögel,
Schmählich entstellt; ihn aber bestatten mit Ruhm die Achaier.
Wieder begann schwachatmend der helmumflatterte Hektor:
Dich beschwör' ich beim Leben, bei deinen Knien, und den Eltern,
Lass mich nicht an den Schiffen der Danaer Hunde zerreißen;
Sondern nimm des Erzes genug und des köstlichen Goldes
Zum Geschenk, das der Vater dir gibt, und die würdige Mutter.
Aber den Leib entsende gen Ilios, dass in der Heimat
Troias Männer und Fraun des Feuers Ehre mir geben.
Finster schaut' und begann der mutige Renner Achilleus:
Nicht beschwöre mich, Hund, bei meinen Knien, und den Eltern!
dass doch Zorn und Wut mich erbitterte, roh zu verschlingen
Dein zerschnittenes Fleisch, für das Unheil, das du mir brachtest!
So sei fern, der die Hunde von deinem Haupt dir verscheuche!
Wenn sie auch zehnmal so viel, und zwanzigfältige Sühnung,
Hergebracht darwögen, und mehreres noch mir verhießen!
Ja wenn dich selber mit Gold auch aufzuwägen geböte
Priamos, Dardanos' Sohn; auch so nicht bettet die Mutter
Dich auf Leichengewand', und wehklagt, den sie geboren;
Sondern Hund' und Gevögel umher zerreißen den Leichnam!“
2 Genesis 4,3 - 4,8: Kain brachte dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.
3 Politeia X, 607a
4 Wolfgang Schadewaldt, Der Aufbau der Illias, Frankfurt 1975, S. 8 f.
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