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Im Zoo der Bosheiten

Michael Seibel • Urteilsperspektiven auf Handlungen - das Böse, Teil 4   (Last Update: 17.11.2017)

Was bewertet die Zuschreibung böse eigentlich, Personen oder Handlungen oder einfach Geschehnisse?

Sortieren wir einige der traditionellen Bedeutungen ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Das malum metaphysicum meint traditionell die Vergänglichkeit des Menschen, das malum physicum oder naturale meint die naturgegebenen Übel, die Naturkatastrophen, die natürlichen Gebrechen, die somatischen und psychischen „Krankheiten“, den „natürlichen Tod“, das malum cosmicum bezieht sich auf die Vorstellung einer zweiten kosmischen Macht, die der Macht des Guten bzw. der Macht einer Gottheit entgegensteht, malum morale meint die „Schuld“, das individuelle „böse Handeln“, die „Laster“ als böse Gewohnheiten, die „Bosheit“ als Haltung oder Gesinnung sowie auch das „radikale Böse“ im Sinne Kants als „intelligible Tat“ bzw. als in einem bedingten Sinn „apriorischer“ Hang zum moralischen Bösen, das malum sociale wäre sodann das institutionelle, strukturelle, gesellschaftliche Übel, das malum theologicum wäre die Sünde als unmittelbar gegen einen personal verstandenen Gott gerichtete Handlung oder Gesinnung und das malum protologicum wäre die die Ursünde, das Urböse, das „Urübel“, dem auf der anderen Site der Geschichte das malum eschatologicum, das „endgültige Unheil“, die „endlose Hölle“, die „ewige Verdammnis“ gegenüberstünde. Und vermutlich sind noch eine ganze Reihe weiterer Arten des Bösen gedacht worden.

Einige dieser Fassungen des Bösen gehören dem religiösen Denken an, andere behalten auch ohne einen solchen Hintergrund Bedeutung. So bedarf es heute keines Gottesbegriffs mehr, um sich einen Herzinfarkt vorzustellen. Allen genannten Versionen des malum ist gemeinsam, dass sie transzendentale Geltung beanspruchen, das gilt auch für das malum physicum. Ob Menschen grundsätzlich gebrechliche Wesen sind, hängt nicht davon ab, ob bestimmte Menschen aktuelle Anzeichen von Gebrechlichkeit zeigen, selbst wenn sich junge Männer zwischen 18 und 21 bisweilen von dieser transzendentalen Bestimmung ausgenommen fühlen und also das malum physicum für eine empirische Bestimmung halten.


Keineswegs alle der genannten Versionen des Bösen sind prima vista geeignet, mit ihnen ethische Urteile zu fällen. Aber selbst das malum physicum erscheint im Rahmen der Theodizee in der Dimension der Frage nach einer möglichen Schuld Gottes.


Ich würde zu der Ansicht neigen, dass jede Erfahrung von Unheil oder Übel eine Erfahrung von Schwäche ist, wäre der Begriff der Erfahrung nicht selbst radikal geschichtlich, d.h. wäre nicht je im einzelnen bestimmungsbedürftig, was wie vor dem Hintergrund der schier unglaublichen Plastizität des menschlichen Erlebens als Übel erfahren wird und entsprechend, was schwach ist und was stark. Jedenfalls ist in unserem Kulturkreis, wie segmentiert sie auch sei, Unheilserfahrung wohl ohne jede Ausnahme auch Ohnmachts- und Schwächeerfahrung.

Gottesvorstellungen gehen als Allmachtsvorstellungen mit Unheils- und Ohnmachtserfahrungen um, indem sie sie ins Gegenteil verkehren. Von religiösen Ausprägungen des Begriffs des Bösen kann daher nicht abgesehen werden, auch wenn unsere Nachfrage primär Ethik thematisiert und nicht Religion. Selbst wenn der Begriff der Sünde der reinste Anachronismus und Gott mausetot ist, fehlt die Stärke nach wie vor, nach der Unheilserfahrung verlangt und die sie im Unheilsgeschehen als gegen sich gerichtet erlebt,1 eine Vorstellung, die einer der Hauptimpulse der Gottesfurcht gewesen sein dürfte. Die Vorstellung dieser erhofften Stärke ist aus der Erfahrung des Zusammenlebens in Gemeinschaft gewonnen. Es ist die des Austausches, der Liebe und Hilfeleistung.


Die diversen Begriffe des Bösen liegen aber allesamt auf einer anderen, abgeleiteteren Ebene als die Unheilserfahrung selbst. So schreibt Augustinus in der Epistola 166,16 an Hieronymus, er sehe sich trotz seiner philosophischen Überzeugung, dass er verstehe, was das Böse und das Übel sei, außerstande, eine Mutter über den Verlust ihres Kindes zu trösten. Das Übel entzieht sich insofern dem Verstehen. Eine Ethik, die das übersieht, verharmlost, was sie zu verstehen behauptet.


Ethiken versuchen dennoch, Unheilserfahrungen auf unterschiedliche Weise begrifflich zu fassen und umfassend zu verarbeiten. Die Frage nach Unheil oder Übel ist offenbar in den meisten, wenn nicht in allen Begriffen des Bösen mit einer Schuldfrage verknüpft, selbst dann, wenn diese unbeantwortbar bleibt.



Urteilsperspektiven auf Handlungen


Was wird eigentlich ethisch bewertet? Offenbar doch zunächst Handlungen. Kein Täter gälte je als böse ohne die böse Tat, die ihm zumindest unterstellt wird und an der sich seine Bosheit zeigen würde, vorausgesetzt, sie bedürfte überhaupt des Beweises. Beginnen wir also bei der Bewertung der Tat.


Handlungen sind auf vielerlei Art bewertbar. Die meisten Bewertungen sind keine ethisch-moralischen Bewertungen, sondern zweckrationale, technische, juristische oder politische, ästhetische und künstlerische. Nicht ethische Bewertungen sind im Alltagsleben häufiger als spezifisch ethische. In beruflichen Kontexten werden Handlungen viel öfter zweckrational beurteilt als ethisch. In Konsum-Zusammenhängen werden Handlungen meist danach beurteilt, ob sie gefallen, also ästhetisch. Oft genug kommen ethische Bewertungen gar nicht vor oder werden zumindest nicht offen ausgesprochen, falls sie zu Ungunsten des Beurteilten ausfallen. Ob die Trennlinien zwischen ethischen, zweckrationalen und ästhetischen Bewertungen stabil sind und wo sie genau verlaufen, ist kontroverses Thema der Philosophie.


Anmerkungen:

1 »Auch wenn man von einer an Gott orientierten Religion ausgeht, ist es nicht die Absicht Gottes, Furcht und Schrecken zu bereiten, sondern sein »heiliges« Wesen. Und außerdem ist Gott nicht das Schrecken erregende Ereignis selbst, er ist nur in ihm. In jedem Falle muß eine (wie immer paradoxe) Einheit angenommen werden. Die Rettung liegt in der Gefahr, die Erlösung in der Sünde. Seit dem 18. Jahrhundert hat man dafür auch die Bezeichnung »sublim« oder »erhaben« gewählt, um Konflikte mit der durch Theologen und ihren guten Gott domestizierten Religion zu vermeiden. Wie immer: das Heilige ist die Erscheinungsform eines Paradoxes.« (Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 11f.)



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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