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Das Böse
Menschheitserfolg und Menschlichkeitsversagen

Michael Seibel • Die scheiternde Homodizee - das Böse, Teil 1   (Last Update: 17.11.2017)

Reflexionen auf Ethik kommen am Begriff des Bösen nicht vorbei. Es ist der traditionelle Begriff, mit dem wir in unserer Kultur seit mehr als zwei Jahrtausenden auf das moralisch Verwerfliche zeigen, mittels dessen wir für jedermann das kenntlich machen, was es unter Menschen, die miteinander zusammenleben, nicht geben darf. Dem Begriff des Bösen kommt in dieser Funktion einer moralischen Qualität in unserer Kultur Exklusivität zu. Wir haben keinen anderen Begriff mit einer vergleichbaren deiktischen Funktion.

Es wäre freilich ein Irrtum zu meinen, wo vom Guten die Rede sei, müsse auch sehr bald das Böse in Erscheinung treten, denn dies sei einfach das Nicht-Gute. Das Böse ist mehr und etwas anderes als eine Formalie, eine Art Kippfigur des Guten. Und irrtümlich wäre es ebenfalls zu meinen, das Gute lasse sich ohne eine Vorstellung vom moralisch Bösen nicht finden.


Das Gute erzwingt nicht unbedingt Aufmerksamkeit, denn es droht nicht. Das Böse dagegen bringt auf, gibt Anlass zu Vorsicht und Vergewisserung, zwingt unmittelbar zur Bestimmtheit. Folgt man dem, was erzählt und geschrieben wurde, dann ist das Böse weit interessanter als das Gute. Und wahrscheinlich ist der Grund dafür die Vorsicht, die es abfordert. Während das Gute beruhigt, bringt das Böse auf.

Tut man überhaupt der Idee des Guten einen Gefallen damit, sie ständig der schlechten Gesellschaft des Bösen auszusetzen? Käme sie nicht besser ohne diesen fragwürdigen Begleiter aus? Ist das Gute ohne das Böse nicht zu haben?

Wenn das Böse Inbegriff des schlechthin Verwerflichen ist, wie es uni sono die mosaischen Religionen, das gesamte europäische Mittelalter und selbst die meisten unserer säkularen Zeitgenossen sagen, ist dann umgekehrt alles, was nicht böse ist, allein deshalb schon dagegen gefeit, moralisch verworfen zu werden? Wie steht es um die Kadavergehorsamen, um die Täter ohne bösen Willen und die Gruppierungen und Organisationen, in denen Verantwortung so gründlich fein verteilt und unkenntlich gemacht wird wie Dreck in Aktivkohle?

Und wie steht es um die Moral der moralischen Säuberung, des Verwerfens, des Ausgrenzens, der Verteidigung, des gerechten Krieges, der Vernichtung des Bösen? Stellt sich der Krieg nicht selbst einen ständig erneuerten Freibrief aus, jede Ethik zu vergessen, wenn er sich als Vernichter des verwerflichen aufspielt?


Bringen wir also das Gute gedanklich einen Augenblick lang um seinen Begleiter. Ohne das Böse ist trotzdem nicht alles gut. Davon verschwinden Krankheit, Hunger, Leid und Mord nicht. Aber wir können zumindest unsere Frage stellen: unter welchen Bedingungen wird Übel als Böse gedacht? Diese Bedingungen und was daraus wird wollen wir reflektieren.


Ethik macht heute den doppelten Eindruck der Ohnmacht und des schlecht Gedachten. Keine Ethik hat Auschwitz verhindert. Die technischen Fähigkeiten der Moderne realisieren sich als Massenvernichtung und gerade jetzt wieder als mörderische Verteilungsignoranz , statt individuelles Leid zu beenden oder es zumindest wesentlich einzugrenzen.


Dabei wird durch das hyperexponentielle Wachstum der Weltbevölkerung unübersehbar, dass das, was mit massenhaftem Leid der Individuen erkauft ist, bis jetzt jedenfalls ein Siegeszug der Menschheit als Gattung ist.

Die Menschheit als Gattung kann sich Auschwitz und die Toten der Kriege, Hungersnöte und Fluchten leisten. Die Menschlichkeit kann es nicht. Dies ist der Grundwiderspruch, vor dem heute jede Ethik steht, den man einen himmelschreienden nennen müsste, ginge es noch um Theodizee.

Man müsste es eine Homodizee nennen, worum es heute geht. Denn an der Perspektive ändert sich nichts.


Wäre die Menschheit als Gattung in ihrem Handeln am menschlichen Dasein orientiert, am Wohlergehen jedes einzelnen oder, wie Religionen es nennen, am Heil der Person, indem sie den Einzelnen auf Gott, die Familie, die Gruppe, die Polis, den Staat oder auf welche Erscheinungsformen des Anderen auch immer einschwört - , sie hätte in der Moderne vor Scham in den Boden versinken müssen. Die Menschheit als ganze ist völlig unfähig, sich zu schämen. Nur Einzelne schämen sich. Aber oft gerade dann nicht, wenn Grund dazu bestünde.


Der alte Konstruktionsfehler der Moral ist die Dichotomie eines Innenraums, in dem ethische Regeln gelten und eines Außen, in dem sie nicht gelten, die Dichotomie von Freund und Feind, Gemeinde und Ungläubigen, Vasallen und Vogelfreien, Staatsbürgern und Ausländern, Ariern und Juden. Diese Dichotomie rechtfertigt sich in der Vorstellung vom Bösen. Es gibt milde Formen solcher Trennungen, und es gibt extrem rigide. Und es gibt Formen, die versuchen, das Innen gleichsam über jedes Außen hinaus auszudehnen wie der Kantianismus oder die Charta der Menschenrechte. Aber damit verschwinden das Außen und das dichotomische Denken nicht. Es wird nur weit weg verlegt, und es bleibt unklar, was passiert, wenn man ihm, dem Fremden, unerwartet doch begegnet. Der Rückgriff auf das Konzept des Bösen legt genau dann nahe, Trennungen einzuführen. Radikaler ist allein das Postulat der bedingungslosen Feindesliebe.1


Während sich Wissenschaft und Technik dramatisch entwickeln, kommt die Weiterentwicklung ethischer Maßstäbe und deren politische und rechtliche Durchsetzung nicht im selben Tempo voran.

Nun treten wir aber auch nicht gänzlich auf der Stelle. Fragen wir einfach: Ist der Übergang vom mittelalterlichen Fehderecht über den Landfrieden zum modernen Rechtsstaat nur eine Veränderung der Rechtsordnung oder nicht auch eine echter Weiterentwicklung ethischer Maßstäbe? Die meisten, denen man heute diese Frage stellt, werden sie vermutlich reflexartig bejahen.

Es scheint unleugbare ethische Vorzüge des Neuen gegenüber dem Alten zu geben, also Vorteile, die direkt jedem Einzelnen zugute kommen. Der moderne Bürger genießt Rechtssicherheit und ist vor staatlicher Willkür geschützt, weil der Staat sich rechtlich selbstverpflichtet hat. Aber verglichen mit dem archaischen Recht des Stärkeren fällt der Vorteil gering aus, wenn der Rechtsstaat global eher die Ausnahme ist, und die entwickelte Demokratie als Staatsform im Verdacht steht, ökonomische Voraussetzungen zu haben, deren Fortbestehen in einem Land möglicherweise davon abhängt, dass andere nationale Ökonomien das selbe Niveau nie erreichen.

Ließe sich fern ab von empirischen Bedingungen über Ethik reden, dann ließe sich Ethik in einen einzigen Satz fassen: Niemand füge einem anderen Menschen Leid zu. Ethik ist die ständige Neubestimmung dieses Satzes angesichts dessen, was ist. Ob der Rechtsstaat wirklich eine ethische Weiterentwicklung darstellt, wäre also global zu entscheiden. Oder ist die Bestimmung, in einem Rechtsstaat zu leben, letztlich doch nur eine neue Version von Privilegierung, eine modernisierte Version der Adelszugehörigkeit, eine modernisierte Version vom Recht des Stärkeren?


Man sieht, wie der Andere, der Fremde, der Rechtlose, derjenige, gegenüber dem sich niemand mehr ethisch verpflichtet fühlt, ein paar tausend Jahre lang immer weiter weggeschoben wurde. Weg von der Armlänge des Stärkeren, weg aus der Reichweite der Fürstenwillkür und inzwischen weg bis ins Mittelmeer. Beim Blick über diesen feuchten Rand gewinnt man allerdings den Eindruck, dass der Fortschritt sich in Rückschritt umkehrt. Am anderen Ufer hat man es plötzlich wieder mit Diktatorenwillkür zu tun und begegnet dem überwunden geglaubten Recht des Stärkeren, nunmehr im Besitz von Mobile Phone und Kalaschnikow, in krudester Form wieder. Wo ist da die Verbesserung?


Ein weiteres ethisches Vorzeigeprojekt: Ist nicht wenigstens die Abschaffung der Sklaverei ein echter, unleugbarer Fortschritt ohne schlechten Nachgeschmack? Das wäre wohl so, wenn das Abgeschaffte wirklich die Sache und nicht nur deren Namen wäre. Jemand wird zum Sklaven, wenn man ihn seiner Freiheit beraubt, ihn nötigt und aus seinem sozialen Umfeld herausreißt. Jemand wird zum Besitz und zur Ware. Jemand ist willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Der Übergang von der Sklaverei zur Zwangsarbeit und zur Berufsarbeit eines Wanderarbeiters, einer Näherin in Bangladesh oder eines arbeitenden Kindes auf einer Kakaoplantage ist fließend. Zum voll entfalteten Begriff der Sklaverei gehört allerdings auch, dass dieses Insgesamt in der öffentlichen Rede affirmiert und durch Sklavengesetze sanktioniert wird. Diese Affirmationen in Recht und Rede sind überall stark zurückgetreten und bei uns heute undenkbar. An die Stelle der platten und offenen Affirmation ist die massenweise verschwiegene Einrechnung von Willkür, die anderswo auf der Welt verübt werden, in unseren Vorteil getreten. Die Einzelbestandteile der Sklaverei haben überlebt. Die Ächtung der Sklaverei ist dennoch ein ethischer Gewinn, ein Gewinn in Form vom Rechtfertigungsentzug.


Der Rechtfertigungsentzug kann allerdings nur praktisch wirksam werden, wo Praxis überhaupt nach ethischer Rechtfertigung fragt. Das führt über zu einer zweiten Hauptschwierigkeit heutiger Ethik. Ethiken machen, kurz gesagt, Heil und Leid des Anderen zum Argument. Sie können also auch nur in Argumentationen eingreifen, in denen Praxen von der Teilnahme von Menschen abhängen, die ethische Rechtfertigungen verlangen. Das Leid des Anderen muss bei der Entscheidung für oder gegen die Übernahme einer praktischen Aufgabe überhaupt eine Rolle spielen. Hannah Arendts berühmte Reportage zum Eichmann-Prozess hat dargestellt, dass einem Eichmann zwar jederzeit sein eigenes Wohl, das seines Chefs und seiner Familie am Herzen lag, dass er allerdings völlig blind für das Leid der von ihm professionell Deportierten war. Nicht einmal aus Feindschaft. Er beurteilte seine berufliche Praxis selbst nicht ethisch, sondern technisch-rational. Das Wirtschaftsleben ist heute voll von ethische Forderungen ausblendenden Rationalisierungen, die nichts mit Faschismus zu tun haben. Es ist fraglich, ob der Kapitalismus überhaupt im klassischen Sinn ethische Rechtfertigungen benötigt, um zu funktionieren. Ethische Argumente hört man meist erst dann wieder, wenn in ihn eingegriffen werden soll, um ihm Sozialverpflichtung oder Mitbestimmung beizubringen oder Staatsausgaben zu begründen, die über die Bereitstellung von notwendiger Infrastruktur für das Wirtschaftsleben hinausgehen.


Die ethische Lücke scheint der Utilitarismus zu besetzen. Er versucht seit langem ohne viel Erfolg, Formen ökonomischer Rationalität unter dem Leitbild des Eigennutzes an ethische Überlegungen rückzubinden. Nicht zufällig kehrt im eigene Nutzen wieder, was schon eine Komponente des religiösen Begriffs des Bösen war. Die „glückliche Schuld“ eines Augustinus2 wird zur „unsichtbaren Hand des Marktes“ eines Adam Smith und „zur List der Vernunft“ eines Hegel.

Der Versuch, ökonomische Rationalität und Ethik über den Eigennutz zu vermitteln, ist gescheitert. Anreiz und Konkurrenz blenden schlichtweg qua Dogma eigenes und fremdes Leid bei der Teilnahme am Wirtschaftsleben aus, suspendieren damit Ethik. Selbst wenn Eigennutz das stärkste Motiv zur Teilnahme am Wirtschaftsleben in der bestehenden Form sein sollte, das es gibt, - was viel weniger selbstverständlich ist, als die meisten glauben, denn Geld ist, wie Freud einst feststellte, durchaus kein Kinderwunsch -, und selbst wenn wir nicht einmal theoretische Alternativen zum Kapitalismus haben, ist Eigennutz so gut wie nie ein Argument während der Arbeit selbst. Primär nützt die Arbeitskraft dem Unternehmen. Der eigene Nutzen ist zurückgestellt.

Was heute als Wirtschaftsethik umläuft, ist Ideologie. Dabei hat das bestehende Wirtschaftssystem diese Krücke nicht einmal nötig. Der Kapitalismus behauptet sich als technisch und struktural perfektioniertes Recht des Stärkeren, also als moderne Naturrechtsversion. Und dass der Kapitalismus Inbegriff von Gerechtigkeit sei, glauben nur Leute, denen eine leidlich privilegierte Position vergönnt ist.


Die Hartnäckigkeit unseres Festhaltens an der Vorstellung vom Bösen könnte einer der Gründe sein, die uns hindern zu erkennen, woran der äußerst schleppende ethische Fortschritt liegt. Wir fallen ständig in Freund-Feind-Bilder zurück. Das wäre die eine Position.

Oder geht es ganz im Gegenteil in Sachen Ethik gerade deshalb nicht weiter, weil dem Einzelnen der Unterschied von gut und böse im Alltagshandeln verloren geht? Woran liegt es, dass sich unsere ethischen Kategorien so schwer schärfen und alltagstauglich machen lassen?

Vielleicht muß man es noch weiter zuspitzen. Woran liegt es, dass sobald der Alltag beginnt, sich mit dem Wort böse nicht mehr all zu viel von dem bezeichnen läßt, was Menschen Leid zufügt?


Anmerkungen:

1 Mt 5, 44: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen“

2 O felix Adami peoeatum, quod tantum redemptorem meruit! - Welch glückliche Sünde Adams, die solche Versöhnung veranlassen konnte!



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de





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