Über Verantwortung
Michael Seibel • Michael Seibel (Last Update: 27.06.2017)
Wir sprechen von Verantwortung. Wir meinen damit, dass sich jedermann für seine Tat einem richterlichen Urteil zu stellen hat. Verantwortlich sein heißt, sich vor einer richterlichen Instanz rechtfertigen müssen. Was für ein Gericht das ist, wollen wir zunächst genauso offenlassen wie die Frage, um was für Taten es geht.
Die Idee der Verantwortung meint zunächst die Vorstellung einer bestimmten Form der wechselseitigen Einwirkung von Menschen aufeinander.
Entscheidung und Betroffenheit
Es wird gedacht, dass es jemanden gibt, der eine Entscheidung trifft, die für andere Menschen folgenreich ist, und dass es andererseits eine Instanz gibt, die dafür sorgt, dass das Verhältnis von Entscheidung und Betroffenheit keine Einbahnstraße ist. Die getroffene Entscheidung ist also vor einem Richter zu rechtfertigen. Dieser Richter, wer immer das auch ist, hat also ein Urteil über die vom Verantwortlichen getroffene Entscheidung zu fällen. Das richterliche Urteil hat die Entscheidung zu billigen und den Verantwortlichen gerecht zu belohnen oder sie ungünstigenfalls zu mißbilligen und den Verantwortlichen gerecht zu strafen. Die Idee der Verantwortung ist die Idee dieser Form. Genau genommen geht es nicht allein um eine Form, sondern darüber hinaus um den Gedanken, dass diese Form, ist sie erst einmal etabliert, auch bestimmte kausale Folgen für das 'gute' Zusammenleben der Menschen hat, das von sich aus nicht automatisch ein gutes ist.
Diese Spekulation auf bestimmte kausale Folgen bezieht sich wie jede Spekulation auf die Zukunft. Der Gedanke ist, dass sich Menschen dadurch steuern lassen, dass man ihnen Verantwortlichkeiten einräumt und nicht bloß Zuständigkeiten. Wird jemand als Zuständiger eingesetzt, so soll er im Prinzip mehr oder weniger gleichförmige Aufgaben, die sich im Bereich seiner Zuständigkeit ständig stellen, entlang eines Kanons von Vorschriften und Regeln lösen. Er ist danach zu beurteilen, ob er sich an die Regeln hält und sie umsetzt. Die Qualität der Regeln steht auf einem anderen Blatt. Reichen die Dienstanweisungen und Regeln nicht, hat der Zuständige neue Regeln und Anweisungen einzuholen. Man kann Menschen steuern, indem man ihnen Vorschriften macht und prüft, ob sie sich daran halten.
Verantwortlichkeit meint hingegen wesentlich mehr, nämlich etwas, was durch Zuständigkeit nicht abgedeckt ist. Verantwortlichkeit bezieht sich auf den Bereich, in dem Entscheidungen grundsätzlich frei sind, in dem Entscheider ja oder nein sagen können, ohne dass ihr Urteil irgendwelche relevanten negativen Folgen für sie selbst hätte, es sei denn per Zufall, wäre da nicht eine richterliche Instanz, der sie sich in jedem Fall zu stellen hätten. Verantwortung meint auf diese Weise nicht nur die Beurteilbarkeit freier Entscheidungen, sei dieses Urteil nun selbst wieder willkürlich oder nach irgendwelchen Regeln geleitet, sondern auch die Steuerbarkeit von Freiheit selbst.
Wenn die Idee der Verantwortung die selbe Reichweite haben soll wie die Idee der Entscheidung, dann heißt das, dass es keine Entscheidung geben darf, die nicht auch für den Entscheider selbst Folgen hat, und zwar solche Folgen, über die eine andere Instanz, nämlich eine richterliche, entscheidet. Damit direkt zusammen hängt die Vorstellung von Gerechtigkeit im Unterschied zur bloßen Willkür.
Das heißt zugleich: wer mit der Idee der Verantwortung etwas anfangen kann, der kann sich auch einen verantwortungslosen Zustand vorstellen, also auch eine andere, weniger kultivierte, willkürliche Form der Einwirkung von Menschen auf andere. Und gerade weil man sich auch das vorstellen kann, hat die Idee der Verantwortung Forderungscharakter. Sie fordert, dass sich niemand der Aufgabe entziehen darf, seine Entscheidungen vor einer richterlichen Instanz zu rechtfertigen.
Verantwortlich gemacht werden kann man natürlich nur, wenn der zu verantwortenden Tat eine Entscheidung zugrunde liegt, die man getroffen hat und die auch anders hätte ausfallen können. Verantwortlichkeit setzt Freiheit bei der Entscheidung selbst voraus. In einem zweiten Schritt grenzt sie aber die völlige Freiheit, die sie im ersten voraussetzt, dadurch ein, dass die Entscheidung zu verantworten ist. Die Entscheidung hat auf diese Weise in jedem Fall Folgen für den Entscheider und zwar gerade auch dann, wenn er ursprünglich nicht zu dem Personenkreis gehört, der von seiner Entscheidung betroffen ist. (Kein einziger der Entscheider über die Einführung des Mindestlohns in Deutschland bezieht Mindestlohn. Sofern alle Entscheider gewählte Parlamentarier sind, hat sich jeder von ihnen mit seiner Entscheidung dem Urteil der Wähler zu stellen.)
Demokratische Kontrolle
Die Idee der Verantwortlichkeit führt zunächst einmal jeden Entscheider vor seinen Richter. Dessen Urteil ist selbst zweifellos wieder eine Entscheidung, die also ihrerseits zu rechtfertigen ist, sofern die Idee der Verantwortung keine Ausnahmen gestattet. Praktisch politisch stellt sich die Frage danach, wer die Kontrolleure kontrolliert und die Richter richtet.
Die Idee der Verantwortung läuft rein gedanklich auf einen infiniten Regress hinaus. Der Entscheider hat sich vor dem Richter zu verantworten, der Richter wieder für seine richterliche Entscheidung vor einer übergeordneten Instanz u.s.w.
Überraschenderweise gerät man im politischen Raum keineswegs in diesen Regress. Sofern es bei der Idee der Verantwortung darum geht, dass sämtliche Entscheidung letztlich von den Menschen beurteilt werden, die von ihnen betroffen werden, schließt die demokratische Wahl den Kreis und macht den Wähler zur souveränen richterlichen Instanz, die frei und letztlich willkürlich entscheidet und die nicht selbst noch einmal durch eine weitere Instanz kontrolliert werden kann und muss.
Wenn man sagt, dass in der Demokratie letztlich immer die Wähler als Betroffene urteilen, so sieht das wie eine inhaltliche Lösung aus, die nichts zu wünschen übrig läßt. Dies ist aber seinerseits wiederum nur die Form, in der sich das Problem des Souveräns und der Gewaltenteilung innerhalb der Demokratie stellt. So wird das einmal gewählte Parlament vier Jahre lang nicht weiter vom Wähler kontrolliert. Die Parteien als inerte Institutionen entgehen der Kontrolle durch den Wähler gänzlich. Wähler sind über die Information und die ihnen gemachten Versprechungen, auf deren Grundlage sie entscheiden, hochgradig manipulierbar. Daran hat sich seit Aristoteles wenig geändert. Wir haben es immer noch mit den drei hochgeschätzten Fertigkeiten der Polis zu tun, der Kriegskunst, der Ökonomie und der Rhetorik.
Das Konzept der Verantwortung und das der demokratischen Kontrolle wird sinnlos, wenn die richterliche Instanz nicht ausgebildet wird.
Mit richterliche Instanz im Sinne der Idee von Verantwortung sind im wesentlichen drei Sachverhalte gemeint: Richteramt, die Gestalt des Souveräns (bei uns der Wähler) und individuelles Gewissen sind drei Verfassungswirklichkeiten. (Das Gewissen bedarf so sehr einer geistigen Verfassung, wie Richteramt und Souverän einer politischen.) Alle drei tendieren dazu, vom Anspruch des Entscheiders auf Unbetroffenheit hintergangen zu werden. Es sind zugleich die Grenzen, in welchen sich Freiheit durch Verantwortung kontrollieren läßt.
Vier Einwände gegen das Konzept der Verantwortung
Ich möchte abschließend vier Einwände gegen das Konzept der Verantwortung machen.
Den ersten Einwand habe ich bereits gemacht, die Lücke zwischen Wähler und Gewähltem läßt sich nicht wirklich schließen. Es ist letztlich nicht möglich, Parlamentarier für ihre Entscheidungen verantwortlich zu machen.
Die Idee der Verantwortung verbindet Entscheidung und Belohnung, bzw. Strafe miteinander, damit der Entscheider in jedem Fall auch zu denen gehört, die von seiner Entscheidung betroffen sind. Man könnte meinen, dies sei eine notwendige Voraussetzung, um Entscheidungen und Entscheider kontrollieren zu können. Aber das ist offenbar unrichtig. Kontrolle, selbst die von Freiheit, lässt sich auch ohne die Idee der Verantwortung ausüben. Ein Geschäftsbereich läßt sich z.B. am Vergleich von Soll- und Ist-Zahlen kontrollieren, ohne den Gedanken der Verantwortung überhaupt zu bemühen. Und dennoch ist es die Freiheit des Entscheiders, die auf die Weise kontrolliert wird, dass man ihn auffordert zu tun, was immer ihm persönlich richtig erscheint, um den Geschäftserfolg zu heben. Wird etwa der Leiter eines Geschäftsbereichs, der dort die operativen, wenn auch nicht die strategischen Entscheidungen getroffen hat, aufgrund schlechter Ergebnisse des Bereichs entlassen, für den er zuständig ist, stellt das keine Bestrafung dar, sondern eine Steuerungsmaßnahme, die sich auf den Geschäftsbereich bezieht und nicht auf die Person. Die Entscheidung, den Bereichsleiter zu entlassen, zielt nicht darauf ab, ihn zu jemandem zu machen, der von seinen eigenen operativen Entscheidungen betroffen wird, sondern darauf, den Geschäftsbereich durch einen kompetenteren Entscheider profitabler zu machen. Nur weil die Person von der Entscheidung, ihn zu entlassen, betroffen ist, wird aus der Entlassung keine Bestrafung, selbst wenn sie dem nunmehr Betroffenen so erscheint. Es ist durchaus unplausibel, den Vorgang seiner Entlassung so zu beschreiben, als sei er von seinen Vorgesetzten für die schlechten Ergebnisse seines Bereichs persönlich verantwortlich gemacht worden. Die Münze der Verantwortung kommt aus dem Prägestempel der Effizienz.
Dies wäre also der zweite Einwand: Nicht alles, was wie eine Strafe aussieht, ist auch eine. Oder anders gesagt: Wo mit dem Begriff Verantwortung Kausalverhältnisse beschrieben werden sollen, ist die Erklärung möglicherweise nur zufällig konsistent.
Es bestehen wesentliche weitere Beschränkungen der Idee der Verantwortung. Man kann sich drittens fragen, ob es, falls es die Funktion von Verantwortung ist, Freiheit zu kontrollieren, nicht auch andere Möglichkeiten gibt, die diese Funktion wirksamer übernehmen. Und offenbar gibt es (wie immer hochproblematische) Anreizsysteme, die sich in Begriffen der Verantwortung nicht denken lassen.
Eine vierte wesentliche Beschränkung betrifft das Unverantwortbare, wenn man darunter nicht einfach das Unverantwortliche versteht, also das, was von unseren drei Richterinstanzen, dem Richteramt, dem Wähler und dem Gewissen bestraft wird, sondern dasjenige, für das aus den unterschiedlichsten Gründen keine Verantwortung übernommen werden kann.
Beispiel: Atommüll-Endlager
Zum Beispiel das Problem der Endlagerung von hochradioaktivem Müll. Was kann es überhaupt nur heißen, wenn jemand anbietet, ihm die Entscheidung zu übertragen für die sichere Endlagerung zusammen mit der Verantwortung für die Entscheidung, die er treffen wird? Es ist öffenbar völlig abwegig, hier mittels eines Konzepts von Verantwortung Freiheit steuern zu wollen. Wann sollte man ihn auch im Mißerfolgsfall bestrafen? Es bedürfte einer einhunderttausendjährigen Gewährleistungsfrist, die jedes menschliche Maß überschreitet und also prinzipiell den Geltungsbereich von Verantwortung. Wenn überhaupt könnte man diejenigen wegen Betrugs 'zur Verantwortung ziehen', die im politischen Prozess suggerieren, es ließe sich in dieser Sache heute bereits ein verantwortbarer Zustand herstellen.
Heute erwarten wir mit größerer Berechtigung eine Antwort auf die Frage der Endlagerung von den Naturwissenschaften. In diesem Zusammenhang wäre eher von der Zuständigkeit als von der Verantwortlichkeit eines Naturwissenschaftlers zu sprechen, auch wenn Naturwissenschaftler im Allgemeinen in sich selbst lieber den freien Geist sehen als den Befolger von Regeln. Verantwortlich wären sie demnach eher für ihr Procedere als für das Ergebnis ihrer Forschungen, dafür, dass es echte Ergebnisse sind und keine Fälschungen. Aber auch dadurch wäre die Frage der Endlagerung nicht endgültig gelöst und selbst dann, wenn sie es wäre, wäre die Lösung nicht in Termen von Verantwortung verständlich. Es bedürfte neuerlich eines Gottesbegriffs, um am Konzept der Verantwortung festzuhalten. Aber Gott unterwirft sich nicht dem Gericht der Menschen.
zugunsten der Verantwortung
Das letzte Wort aber muss ein Statement zugunsten der Verantwortung sein. Wir haben oben die Idee der Verantwortung als Idee einer Form des Zusammenlebens verstanden. Was diese Idee fordert, fordert sie kategorisch, und doch handelt es sich bei Verantwortung um eine Form, die sich nicht schließen läßt und lückenhaft bleibt. Richterliche Instanzen kommen ins Spiel, die weder politisch noch individuell ununterbrochen wirksam sind, um Willkür zu regulieren. Persönliche Integrität ist begrenzt. Wenn Beziehungen – hier die von Entscheider zum Betroffenem – eine bestimmte Form – hier die der Verantwortung – nur manchmal annehmen und manchmal eben nicht, so macht es dennoch Sinn, auf das Moment des Funktionierens zu insistieren. Es ist und bleibt ein Unterschied, ob Menschen verantwortlich miteinander umgehen oder nicht, selbst dann, wenn dieser Umgang fragil ist und der zufällige Effekt von etwas sein sollte, das dabei unbenannt und vielleicht sogar gänzlich unerkannt bleibt.
Mit Sprache, Geld und Verantwortung haben wir es mit drei Formationen des Sozialen zu tun, die allesamt nur offen, unfertig und fragil funktionieren. Sprache schließt die Möglichkeit des kompletten Mißverstehens und der Sprachlosigkeit ein wie inhaltlich Wahrheit und Lüge, indem sie andererseits unbegrenzt modulationsfähig und offen für neue Bedeutungen ist, indem sie sich bis zur Unverständlichkeit erweitern lässt. Geld konfrontiert all seine Verwender mit der permanenten Möglichkeit von Inflation und völliger Entwertung, aber es ist gerade deshalb ein enorm flexibles Mittel der Umverteilung von Ressourcen. Geld und Sprache halten uns in genau dem Moment in Bewegung, in dem wir uns durch sie absichern. Verantwortung nur als ein festgefügtes Gebäude unverbrüchlicher Verpflichtung zu sehen ist wahrscheinlich ebenso abwegig, wie im Geld den gleichbleibenden Wert und in der Sprache nur grenzenloses Verstehen zu sehen. Und dennoch, soweit es funktioniert, genau so weit funktioniert die Möglichkeit, sich mit dem Anderen zu verständigen, mit ihm knappe Güter auszutauschen und sogar die, in geordneten Grenzen vom Anderen abhängig zu sein und sich Entscheidungen des Anderen zu überlassen, mit ihm Betroffenheiten auszutauschen.
Verantwortung heißt Aufschub. Das Verantwortungsprinzip ermöglicht es, Entscheidungen zunächst einmal zuzulassen und erst später im Nachgang über sie zu urteilen, es macht sozusagen vorläufige Entscheidungen möglich. Es bringt Tempo in Entscheidungsprozesse. Wenn den „Actual Entities“, dem ontologisch Fundamentalen, den Monaden oder wie immer man es nennen möchte, ihre wahren Bestimmungen von jedermann unmittelbar ablesbar wären, bedürfte es dieses beschleunigenden Aufschubs nicht.
Sprache, Geld und Vertrauen sind jederzeit politisch zu verstehen. Es sind Mittel der Polis und historisch veränderliche Formen von Souveränität.
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