Nietzsche gegen Marx
Michael Seibel • Anläßlich der Lektüre Nietzsches (Last Update: 24.02.2014)
Ein anderes verfehlt Nietzsche
meiner Meinung nach allerdings völlig. Was hält die
Märkte in Gang? Marx hatte dafür eine klare Antwort:
Reproduktion des Lebens bedarf der Produktionsmittel. Diese sind
jedoch Eigentum weniger. Die meisten Menschen bringen nur ihre mehr oder weniger gut ausgebildete
Arbeitskraft in den Produktionsprozess ein. Der Markt, auf dem
Menschen ohne Reserven auf Menschen mit Reserven treffen, relativ
Ohnmächtige auf relativ mächtige, ist die gegenwärtig
einzige gesellschaftliche Struktur, die die Koppelung von
Arbeitskraft und Produktionsmitteln erlaubt. Märkte werden durch
die ständige Notwendigkeit dieser Kopplung in Gang gehalten.
Zumindest so lange, wie Gesellschaften keine anderen Strukturen,
keine anderen Kopplungswege für die Verbindung von
Arbeitskraft und Produktionsmitteln erfinden.
Die Marxsche Antwort
ist ziemlich plausibel. Vergleichen wir damit Nietzsches Antwort.
Nietzsche schaut sich das Verhältnis von Gläubiger und
Schuldner an und fragt nach den Voraussetzungen, unter denen jemand
ein (guter) Schuldner ist. Vollkommen richtig stellt er fest, dass der
Mensch ein recht vergessliches Tier ist und als ein guter Schuldner
zu allererst gelernt haben muss, seine Schuld nicht zu vergessen.
Dies nun sei eine Geschichte leidvoller Erfahrungen.
Dagegen hätte
Marx einzuwenden gehabt: nicht das Gedächtnis ist das Problem,
sondern die Zahlungsfähigkeit. Der Übergriff auf den Leib
ist kein unbegrenztes Leiden machen, sondern ein vorbehaltlich
weiterer gesellschaftlicher Regularien unbegrenztes
Arbeiten lassen als Ausgleich für Schuld(en).
Da sind Nietzsche
und Marx näher beieinander als man auf den ersten Blick
meinen könnte. Was sich deutlicher unterscheidet, ist die
Blickrichtung. Beide fragen nach dem Inhalt von Macht. Marx'
zentraler Begriff ist dabei der des Kapitals. Der Herr ist
Kapitalist. D.h. die affektive Seite des Tausches, der Gewinn an
Lust, Leidenmachen, Freude oder welcher Affekte auch immer, tritt bei
Marx völlig zurück. Der Kapitalist konsumiert nicht die
erzeugten Waren, sondern er akkommodiert universelles Äquivalent
zu Kapital. Er konsumiert keinen anderen Gebrauchswert als die Ware
Arbeitskraft durchaus nicht zum Zweck seiner Lust. Er genießt
sie nicht persönlich.
Auch der Ort von
Aktivität und Passivität ist bei Marx völlig anders
als bei Nietzsche. Bei Nietzsche ist der Herr der Aktive, bei Marx
der Arbeiter, also der Knecht. Bei Nietzsche ist Aktivität
Kriegskunst, bei Marx Arbeitskraft.
Der Markt, wie wir
ihn kennen, verspricht dem Kunden Bedürfnis- und
Affektbefriedigung. Der Kunde ist sowohl für Marx wie
für Nietzsche eine passive Gestalt.
Was kann man mit
Mitteln Nietzsches einer Erklärung näher bringen und was
nicht? Der Austausch zwischen Menschen als körperliches Ereignis
wird mit Nietzsches begrifflichen Mitteln meiner Meinung nach
wesentlich reichhaltiger beschrieben als von Marx. Was Tausch mit dem
menschlichen Körper zu tun hat, schnurrt bei Marx zusammen auf
dessen Bedürfnisbegriff, im Wesentlichen Nahrung und Wärme.
Was aus Sicht von Marx bei Nietzsche schlichter Quatsch ist, ist
Nietzsches Unterstellung, es sei der Mangel an Mut oder Vornehmheit,
ein Zurückschrecken vor der übergroßen Kraft des
anderen, die aus dem Knecht den Knecht macht.
Es ist der
persönliche Mangel an Produktionsmitteln, die gesellschaftlich
vorhanden, ihm jedoch nur in einer bestimmten Form zugänglich
sind, nämlich qua Verkauf der Ware Arbeitskraft. Der Mut, der
dem derart beschränkten Arbeiter fehlt, ist wie Marx meint,
vorübergehend der zu revolutionären Koalitionen und
Aktionen.
Nietzsche fehlt
anders als Marx jeder Begriff inerter, träger Strukturen. Damit
fehlt ihm m.E. etwas Entscheidendes, um Wertbemessung als
Preisstellung denken zu können. Dafür bedarf es eines
Marktes als stabiler gesellschaftlicher Institution. Der Markt
ist eine inerte Struktur, die in die Wertbestimmung einfließen,
weil er generell Werte über Preise nach oben begrenzt. Nietzsche
kann keine Wertbegrenzung erklären.
Es
bleibt vollkommen rätselhaft, wie zu bemessen ist, wenn
Nietzsche ausführt:
„Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des
Schuldners alle Arten Schmach und Folter antun, zum Beispiel so viel
davon herunterschneiden, als der Größe der Schuld
angemessen schien.“
Was
wird von wem wo an was gemessen?
Wie
viel soll das sein? Reden wir von purer Willkür? Der Begriff,
den Nietzsche hier schuldig bleibt, ist der Begriff der inerten
Struktur. Dennoch ist der Gedanke Nietzsches äußerst
interessant. Transportieren wir ihn in die Gegenwart. Ein Gläubiger
hat einen Schaden in Höhe von 200 € erlitten. Ein Gläubiger
soll ihn in Form von Schmerz zurückzahlen. Wie viel Schmerz wäre
das? Der sonst gut versorgte bundesdeutsche Durchschnittsbürger
wird nur wenig Schmerz für angemessen halten. Wenn die
Versuchsanordnung nicht so schrecklich unethisch wäre, wäre
es der experimentellen Psychologie ein leichtes, den aktuellen
Marktwert herauszufinden. Und es wäre ebenso leicht,
herauszufinden, dass ein durchschnittlicher Arbeiter in
Bangladesh bei weitem 'schmerztolleranter' wäre. In Wirklichkeit
läuft das unethische Experiment längst. Dass Schmerz und
Affekte zum Wertmaß werden können und es im Grunde längst
sind, macht Nietzsche für alle nachfolgenden deutlich. In
welchem Umfang, dafür hat er m.E. keine Begriffe.
Hier wird es
möglicherweise zur Schwäche des Programms von Nietzsche,
den Menschen (gegen Hegel) niemals vom Primat von Negativität
aus denken zu wollen. Sobald sich der Mensch in Saft und Kraft, also
in der Positivität, in der ihn Nietzsche sieht, auf einer
inerten Struktur abzeichnete, wäre er Negativität. Wenn es
keinen vorgängigen Unschuldszustand gibt, wäre diese
Negativität primär.
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