Schaden und Schmerz
Michael Seibel • Anläßlich der Lektüre Nietzsches (Last Update: 24.02.2014)
Ich
möchte auch diesmal meinem Protokoll der letzten Sitzung die
Form eines Kommentars geben. Diesmal vor allem zur recht
rätselhaften Äquivalenz von Schaden und Schmerz und zum
Begriff des Tausches natürlich
mit Blick auf Nietzsche, aber vor allem auch auf Marx.
Die Äquivalenz
von Schaden und Schmerz
Wert ist eine (Un-)Gleichung. (Das ist so ziemlich das Schlimmste, was einem klassischen Logiker passieren kann. Aber es ist zugleich vollkommen alltäglich.)
Kein Tausch tauscht Gleiches, sondern Gleichwertiges.
Warum sollte jemand eine Sache gegen ein anderes Exemplar genau der
gleichen Sache eintauschen, wenn zwischen beiden keinerlei
erkennbarer Unterschied besteht? Ein solcher Tausch wäre
sinnlos. Wenn man fragt, was bedeutet eigentlich das Wort sinnlos,
dann scheint mir das eine ausgezeichnete Definition abzugeben.
Sinnlos ist, Gleiches zu tauschen.
Erinnert sei kurz an
Marx. Er unterscheidet Gebrauchswert und Tauschwert. Gebrauchswerte
lassen sich wie folgt vergleichen: Gleichen Gebrauchswert haben
zwei Dinge, die bei gleichartigem Gebrauch das gleiche leisten.
Gebrauchswert sagt nicht, dass bei dem, der über den
Gebrauchswert einer Sache urteilt, gegenwärtig auch Bedarf nach
der Sache besteht. Ich kann über den Gebrauchswert von etwas
urteilen, ohne es selbst gegenwärtig zu benötigen.
Damit ein Tausch
zustande kommt, muss es 1) genau zwei Tauschpartner geben (es gibt
keine „inneren Werte“, keinen „Wert an sich“,
außer für einen anderen). Es muss jeder der beiden
Tauschenden 2) über das Objekt verfügen, das er als Preis
abgibt, 3) muss er dafür gegenwärtig weniger Bedarf haben
als für den einzutauschenden Gegenstand. Diese drei Bedingungen
reichen bereits, wenn kleine Kinder tauschen.
Später wird der
Tausch in zwei Hinsichten komplizierter, denn eine erlernte und
ständig aktualisiert Wertabschätzung kommt hinzu. Man muss
4) den Angebotspreis für günstig oder zumindest für
fair halten, was wiederum einen Markt ohne Monopol voraussetzt, denn
für das Glas Wasser, dass ich jetzt unbedingt trinken muss,
hätte ich jeden Preis zu zahlen, wenn es nur einen Anbieter
gäbe. Außerdem ändert sich Bedingung 3) dahingehend,
dass keiner der beiden Tauschenden Bedarf nach der eingetauschten
Ware haben muss. Die Ware kann auch ins Lager wandern. Es reicht,
wenn sie für einen beliebigen dritten potentiellen
Marktteilnehmer Gebrauchswert hat.
Auf jeden Fall wird
bei Wertungen Ungleiches verglichen. Dabei stellt sich die Frage, wie
ungleich darf denn etwas sein, um es gerade noch miteinander
vergleichen zu können? Versuchen wir, sogleich die Antwort zu
geben: Es muss so ungleich wie überhaupt nur möglich sein
können, denn erst dadurch wird der Tausch universell, wenn es
Mengenverhältnisse gibt, in denen sich jegliches tauschen lässt,
wie unterschiedlich es auch sein mag. Interessant wäre es also,
für ein Verständnis des Tausches Dinge heranzuziehen, die
so verschieden sind wie nur irgend möglich. Nietzsche bringt da
etwas offenbar ganz besonders Ungleiches bei. Er spricht von einer
„Idee der Äquivalenz von Schaden und Schmerz“.
Diese Äquivalenz
ist schwer zu verstehen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass
man einen erlittenen Schaden als schmerzlich erleben kann. Ein fast
schon albernes Beispiel wäre ein Lackschaden am Auto. Das wird
von vielen Menschen unabhängig von jeder Schuldfrage als
schmerzlich erlebt.
Aber was könnte
da Äquivalenz heißen? Das hieße vielleicht: Wenn der
Lackschaden repariert ist, ist der Schmerz erloschen. Offenbar sind
wir damit auf einer vergleichsweise kindlich archaischen Ebene des
Tausches. Immer noch leicht zu verstehen wäre die Umkehrung der
Formel Nietzsches der Äquivalenz von Schaden und Schmerz in eine
Äquivalenz von Gewinn und Freude. Hier hätten wir das
kleine Kind, das soeben eine wunderschöne schillernde Murmel für ein
bei weitem teureres Spielzeug eingetauscht hat, an dem es kein Interesse mehr hat.
Was für ein Gewinn in der Währung Freude. Es denkt sicher nicht an Wiederbeschaffungswert und
derlei.
Tauschakte dieser
Art annoncieren wir heute laufend auch jedem Erwachsenen. Geld gegen
Freude. Was für eine Gleichung und Ungleichung zugleich. Wenn
Geld gegen Freude eine gültige Gleichung ist, dann ist Schaden
gegen Schmerz auch eine.
Ich
denke, Nietzsche argumentiert durchaus auf dieser Ebene. Nun geht
Nietzsche noch einen Schritt weiter, indem er eine weitere Umkehrung
der (Un-)Gleichung einführt. Aus der Äquivalenz von Schaden
und Schmerz folgt für Nietzsche die Möglichkeit, sich am
säumigen Schuldner durch Leidenmachen schadlos zu halten.
Also
um es ganz deutlich zu sagen, »wenn ich das Schwein erwische, das mir
den Kratzer in den Lack gemacht hat, dem poliere ich die Fresse („die
Grausamkeit die große Festfreude der älteren Menschheit“)
. Und dann ist alles wieder gut«.
Ich muss zugeben:
Hier benötige ich eine Sekunde zum Nachdenken. Denn... Wer
bezahlt mir jetzt den Lackschaden?
Das sagt zunächst
nur so viel, dass mit einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz
allein noch kein funktionierender Markt geschaffen ist, dieser setzt
in der Tat Marktteilnehmer voraus, die ihre eigenen Bedürfnisse
und Affekte aufschieben können (also Menschen, die wie Nietzsche
sagt, „versprechen“ dürfen) und die Waren und
Freuden nicht selbst konsumieren. Aus Sicht Nietzsches die Menschen
des Ressentiments. Für Nietzsche wird im Priestertum und dessen
altruistischen Werten das Ressentiment selbst schöpferisch mit
der Erfindung des Nichts an Leben, des Paradieses. Mir scheinen der
Altruismus der Produktion, des Marktes, des gesamten ökonomischen
Feldes mindestens ebenso wichtig. Wie Max Weber sagte, war dafür
die religiös protestantische Erziehung möglicherweise eine
nicht unwesentliche Vorbedingung. Märkte beginnen mit
Altruismen. Vor die Befriedigung des eigenen Bedürfnisses setzt
der Markt die Befriedigung fremder Bedürfnisse.
Frage
wäre, ob damit eine Minderung der eigenen Lebensqualität
einher geht. Nietzsche sieht das so. „Mit
der Furcht vor dem Menschen“ also
der Tilgung der Rache aus den menschlichen Beziehungen
„haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die
Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt.“
Also
die Wertschätzung des Menschen als Kraft, unseren Sinn für
Körperlichkeit überhaupt.
Demnach wäre
die Angebotsseite im Markt die tendenziell depressive Seite, die
allerdings um mit Wagners Alberich zu reden, zu Macht ohne Maß
kommt, indem sie auf die Liebe verzichtet.
Der Kapitalismus
bietet dann ja bekanntermaßen als Ausgleich der Depression
altruistischer Dienstleistung Freude gegen Geld. Nur ist es eben ein
Unterschied, ob der Genuss, wenn er denn kommt, den traumatisierten
Menschen vorfindet oder den unverletzten. Mit Nietzsches Kategorien
scheint sich also Wesentliches der heutigen wirtschaftlichen
Wirklichkeit wiedererkennbar abbilden zu lassen.
weiter ...
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.