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Der Mensch als Eigenschaft der Freiheit

Michael Seibel • Freiheitsbegriffe   (Last Update: 13.03.2019)

Wenn es jemanden gab, den es nicht interessierte, wovon sich jemand befreien will, der sich für frei erklärt, dann Heidegger. Genauso wenig interessierte sich Heidegger dafür, was einzelne Menschen in Freiheit konkret verwirklichen möchten, wozu sie eigentlich frei sein wollen. Er stellt sich nicht die Frage, ob Menschen frei sind oder nicht oder inwiefern und wieweit sie frei sind oder ob in einer Welt geschlossener Kausalbeziehungen Freiheit einen Platz hat. All das fragt er nicht.


Heidegger gehört zu denen, die von der Freiheit als von einem Faktum ausgehen. Ihm fällt schlichtweg auf, dass die Menschen, sobald sie auch nur einen klaren Gedanken fassen, damit beschäftigt sind, alles Mögliche zu begründen. Das ist bei ihm keine laxe Aussage. Er fragt, wie dieses Phänomen zu verstehen ist. Ein Zusammenhang, in dem modal von Möglichkeit die Rede ist und in dem Gründe gesucht werden, ist ein Zusammenhang von Offenheit, aber zunächst auch einer gewissen Vagheit und zugleich der Zuversicht in die Chance, Begründungen auch liefern zu können, anders gesagt, es ist immer schon ein Zusammenhang von Freiheit. In Möglichkeiten zu denken, heißt den Unterschied zum Wirklichen und zum Unmöglichen machen und schließt ein, dass auch so etwas wie ein Verfehlen von Möglichkeiten, dass nicht realisierte Möglichkeiten gedacht werden können. Aber das sind zunächst bloß formal-logische Überlegungen. Heidegger will wesentlich mehr. Er will sie ontisch und ontologisch vom Dasein her untermauern. Um so knapp wie möglich zu verdeutlichen, was er damit meint, halten wir uns hier an den Text Vom Wesen des Grundes von 1929, der fast parallel zu Sein und Zeit entsteht.


Jeder stimmt Leibniz zu, der sagt: Nihil est sine ratione. Nichts ist ohne Grund. Aussagen über Seiendes, die sich nicht begründen lassen, sind nach gängigem Verständnis schlicht und einfach nicht wahrheitsfähig. Sämtliche Aussagewahrheiten (der allgemeinen Form A ist B, Peter ist ein Mensch) stünden infrage. Nun weist Heidegger darauf hin, dass mit dem Satz vom Grund, der besagt, dass alles Seiende einen Grund haben muss, dass mit diesem oberstem Prinzip von Rationalität keineswegs schon klar ist, was ein Grund eigentlich ist.

Heidegger geht vom „Faktum des Daseins“1 aus und von den Phänomenen, die sich im Dasein zeigen. Wenn man diesen Ausgangspunkt wählt, wird man, so Heidegger, einen entscheidenden Schritt über die Aussagewahrheit hinausgehen können. „Die Satzwahrheit ist in einer ursprünglicheren Wahrheit (Unverborgenheit), in der vorprädikativen Offenbarkeit von Seiendem gewurzelt, die ontische Wahrheit genannt sei.“2 Warum? Bei Aussagewahrheiten handelt es sich um Vorstellungsverbindungen. Damit wird immer schon unausdrücklich vorausgesetzt, dass, was verbunden werden soll, überhaupt erst einmal offenbar ist. Dies Offenbar-sein ist ein, wie Heidegger sagt, triebhaftes und stimmungsmäßiges Sich-befinden.3 Um nun aber mit dem, was immer da auch offenbar ist, sei es ein Esel, sei es ein Einhorn, ein Roboter oder mein Nachbar, irgendetwas anfangen zu können, ist außer der ontischen Wahrheit, dass Seiendes in meinem Dasein offenbar wird, eine ontologische Wahrheit, ein elementares Seinsverständnis erforderlich4. Das Seiende muss sich in irgendeiner Weise dem Verstehen öffnen. Die Tatsache, dass etwas offenbar ist, muss irgendwie in einen Aussagesatz hineingeraten können. Das geht nur, wenn wir ein grundlegendes Verständnis für den Sinn der Kopula „ist“ in der Aussage „Peter ist ein Mensch“ oder „mein Nachbar ist kein Roboter“ mitbringen. Dabei reicht es gerade nicht, dass sozusagen jedermann ein Axiom verinnert und automatisch wiederholt, wenn er eine Aussage formuliert, wie es selbst jeder Blinde könnte. Vielmehr handelt es sich beim Seinsverständnis um das grundlegende Spannungsverhältnis jedes Daseins, das darin besteht, dass Offenbar-sein von Seiendem überhaupt nur im Verhältnis zu den Möglichkeiten des Daseins selbst auftauchen kann. „Enthülltheit des Seins ermöglicht erst Offenbarkeit von Seiendem.“5

Diese Behauptung Heideggers wirkt ziemlich tautologisch. Natürlich kann nur der sehen, der Augen hat zu sehen. Heidegger besteht darauf, dass die Aussage „Enthülltheit des Seins ermöglicht erst Offenbarkeit von Seiendem“ nicht tautologisch ist. Man brauchte den Text Vom Wesen des Grundes nicht weiterzulesen und könnte auch Sein und Zeit nach Seite 7 schließen, wenn das nicht so behauptet wäre. Wenn man das Denken Heideggers in ein Thema konzentrieren müsste, dann auf diesen Nachweis.


„Ontische und ontologische Wahrheit (…) gehören wesenhaft zusammen auf Grund ihres Bezugs zum Unterschied von Sein und Seiendem (ontologische Differenz). Das dergestalt notwendig ontisch-ontologisch gegabelte Wesen von Wahrheit überhaupt ist nur möglich in eins mit dem Aufbrechen dieses Unterschiedes.“6

Diese Aussage soll weder eine Tautologie sein (also gar keine Bewegung), noch eine Dialektik (eine logische Bewegung, die ihr ontologisches Fundament immer schon enthält). Zu sagen, dass das Dasein seinsverstehend ist, ist mit der Aussage gleichbedeutend, dass die Fähigkeit, unterscheiden zu können, (also die Faktizität der ontisch-ontologischen Differenz) selbst in der „Transzendenz des Daseins“7 gründet.


„Die Transzendenz bezeichnet das Wesen des Subjekts, ist Grundstruktur der Subjektivität. Das Subjekt existiert nie zuvor als »Subjekt«, um dann, falls gar Objekte vorhanden sind, auch zu transzendieren, sondern Subjektsein heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein.“8

Muss man das näher erklären? Die Aussage wirkt selbstverständlich: Wenn das Dasein als Subjekt existiert, dann unterschieden von Objekten, und das selbst dann, wenn gerade weit und breit keine Objekte vorhanden sein sollten. Subjekt-sein hängt also nicht davon ab, sich irgendwelchen bestimmten einzelnen Objekten gegenüberzusehen. Subjektsein heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein. Wenn jemand sich überhaupt intentional irgendwie bezieht, dann verhält er sich transzendierend. Dann ist die Grundstruktur Subjekt-Objekt immer schon aufgespannt, selbst dann, wenn noch gar kein konkretes Objekt in Sicht ist. Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit9. Nur im permanenten Überschreiten kann der Mensch in seinem Dasein unterscheiden, „wer und wie ein »Selbst« ist und was nicht.“10 Sofern ein Selbst ist, „hat das Dasein als existierendes die Natur immer schon überstiegen.“11

Das Wort Welt bezeichnet für Heidegger nichts anderes als die Ganzheit dessen, woraufhin transzendiert wird, allerdings eine Ganzheit, die dem Akt des Transzendierens nicht vorgängig ist. Heidegger bestimmt „die Transzendenz als In-der-Welt-sein“ des Daseins.12


„Welt als Ganzheit »ist« kein Seiendes, sondern das, aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann. Dasein gibt »sich« aus »seiner« Welt her zu bedeuten, heißt dann: in diesem Auf-es-zukommen aus der Welt zeitigt sich das Dasein als ein Selbst, d. h. als ein Seiendes, das zu sein ihm anheimgegeben ist. Im Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinkönnen. Das Dasein ist so, daß es umwillen seiner existiert.“13

Die Transzendenz des Daseins kann, so Heidegger, das Wesen des Grundes verständlich machen.

Der Wille, dem es um das eigentliche Seinkönnen des Daseins geht, kann kein bestimmtes Wollen sein, „ein »Willensakt« im Unterschied zu anderem Verhalten (z.B. Vorstellen", Urteilen, Sichfreuen).“14 Jedes Verhalten ist in der Transzendenz verwurzelt, „bildet aber mit seinen jeweiligen partiellen Werten und Zwecken das Umwillen höchstens als gelegentliche Leistung. Man muss weitergehen: „Der Überstieg zur Welt ist die Freiheit selbst.15

Wenn die Freiheit von der Transzendenz her ausgelegt wird, behebt das auch eine Reihe von Schwächen des traditionellen Verständnisses von Freiheit als Spontaneität und als einer besonderen Form von Kausalität. Wenn Freiheit als ein Von-selbst-anfangen verstanden wird, sagt das traditionell nur, dass keine weitere bestimmende Ursache tiefer liegt, ohne dass damit bereits das Ursache-sein vom Dasein her verstanden wird. Wollte man das bestimmen, wäre die Selbstheit, die im Ausdruck 'von selbst' angesprochen wird, ontologisch zu klären und es wäre auf diese Weise zu klären, was beim Gründen eigentlich geschieht.


„Die Auslegung der Freiheit als »Kausalität« bewegt sich aber vor allem schon in einem bestimmten Verständnis von Grund. Die Freiheit als Transzendenz ist jedoch nicht nur eine eigene »Art« von Grund, sondern der Ursprung von Grund überhaupt. Freiheit ist Freiheit zum Grunde.“16

Heidegger fragt also nach den transzendentalen Ursprüngen dafür, dass es die Warum-Frage überhaupt geben kann und erklärt ausdrücklich: „Gesucht sind also nicht etwa die Veranlassungen dafür, daß im Dasein die Warumfrage faktisch aufbricht.“17

Heidegger nennt die im Transzendentalen wurzelnde (?) ursprüngliche Beziehung der Freiheit zum Grund ein Gründen. Er unterscheidet am Gründen drei Aspekte, das Stiften von Möglichkeiten oder mit einem anderen Wort, von Weltentwürfen, das Boden nehmen „im Durchwaltetsein von (...) umdrängenden Seienden“18 und das Begründen oder wie er auch sagt, den Ausweis. Möglichkeiten überschießen immer schon das im Dasein andrängende Wirkliche. Freiheit ist immer schon „Einheit von Überschwung und Entzug“19. Darin sieht Heidegger den transzendentalen Ursprung der Warum-Frage. Wer sie stellt, bringt bereits Seinsverständnis mit.

„Warum so und nicht anders? Warum dies und nicht jenes? Warum überhaupt etwas und nicht nichts? (…) Das Seinsverständnis gibt als vorgängigste Antwort schlechthin die erst-letzte Begründung. In ihm ist die Transzendenz als solche begründend.“20

Das nennt Heidegger die ontologische Wahrheit. Sein gibt es nur „in der Transzendenz als dem weltentwerfend befindlichen Gründen.“21


„Die Freiheit ist der Grund des Grundes. Das freilich nicht im Sinne einer formalen, endlosen»Iteration«. Das Grund-sein der Freiheit hat nicht — was zu meinen sich aber immer nahelegt — den Charakter einer der Weisen des Gründens, sondern bestimmt sich als die gründende Einheit der transzendentalen Streuung des Gründens. Als dieser Grund aber ist die Freiheit der Ab-grund des Daseins. Nicht als sei die einzelne freie Verhaltung grundlos, sondern die Freiheit stellt in ihrem Wesen als Transzendenz das Dasein als Seinkönnen in Möglichkeiten, die vor seiner endlichen Wahl, d.h. in seinem Schicksal, aufklaffen. Aber das Dasein muß im weltentwerfenden Überstieg des Seienden sich selbst übersteigen, um sich aus dieser Erhöhung allererst als Abgrund verstehen zu können. Und diese Abgründigkeit des Daseins wiederum ist nichts, was einer Dialektik oder psychologischen Zergliederung sich öffnete. Das Aufbrechen des Abgrundes in der gründenden Transzendenz ist vielmehr die Urbewegung, die die Freiheit mit uns selbst vollzieht (...). Das Unwesen des Grundes wird sonach, nur im faktischen Existieren »überwunden«, aber nie beseitigt. (…) Solche Ohnmacht (Geworfenheit) aber ist nicht erst das Ergebnis des Eindringens von Seiendem auf das Dasein, sondern sie bestimmt dessen Sein als solches. (…) Das Wesen der Endlichkeit des Daseins enthüllt sich aber in der Transzendenz als der Freiheit zum Grunde.“22

Der Mensch ist ein „Wesen der Ferne“23.


Um doch noch einmal Sein und Zeit in Sachen Freiheit zu Wort kommen zu lassen:

„Das Dasein ist als wesenhaft befindliches je schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten, als Seinkönnen, das es ist, hat es solche vorbeigehen lassen, es begibt sich ständig der Möglichkeiten seines Seins, ergreift sie und vergreift sich. Das besagt aber: das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.“24

Ich habe bei Heidegger immer wieder grundlegende Verständnisschwierigkeiten, wenn er von Ganzheiten spricht oder davon, dass die Abgründigkeit des Daseins, die eine Urbewegung der Freiheit darstelle, psychologisch schlechterdings nicht deutbar sei. Die selben Schwierigkeiten habe ich mit Aussagen wie der, dass nicht die Veranlassungen dafür zu suchen seien, dass im Dasein die Warumfrage faktisch aufbricht, sondern deren transzendentale Ursprünge, als ob das zwei diametral entgegengesetzte, ganz unvereinbare Wege seien. Die unterschiedlichsten Philosophen, darunter auch Heidegger, neigen dazu, Sein und Ganzheit gleichzusetzen. Warum Ganzheit? Warum nicht Vielstimmigkeit, Partikularität? In Sein und Zeit argumentiert Heidegger mit der Sorge.25 , mit dem “Phänomen der Sorge in seiner wesenhaft unzerreißbaren Ganzheit“.26 „Im Wesen der Grundverfassung des Daseins liegt (...) eine ständige Unabgeschlossenheit. Die Unganzheit bedeutet einen Ausstand an Seinkönnen. “27
Ich kann nachvollziehen, dass jeder, der sich um etwas sorgt, seine Sorge als Sorge um dessen Ganzheit ausdrücken kann und dass ihm das Objekt seiner Sorge als etwas potentiell Zerstückelbares erscheint. Mir ist allerdings nicht plausibel, was damit gewonnen sein soll, von einem Verlust von Ganzheit statt einem Verlust von Sein zu sprechen. Erinnert sei an die Lösung im alttestamentarischen salomonischen Urteil. Zwei Frauen streiten sich um ein Kind. Salomon soll entscheiden.

Da begann der König: „Diese sagt: 'Mein Kind lebt, und dein Kind ist tot!' und jene sagt: 'Nein, dein Kind ist tot, und mein Kind lebt.'“ Und der König fuhr fort: „Holt mir ein Schwert!“ Man brachte es vor den König. Nun entschied er: „Schneidet das lebende Kind entzwei, und gebt eine Hälfte der einen und eine Hälfte der anderen!“28
… mit der bekannten Folge, dass die echte Mutter verzichtet. Der Richterspruch läuft über einen bewusst gemachten Kategorienfehler. Wenn etwas ein Ganzes ist, dann lässt es sich teilen. Also zweiteile man das Kind und gebe jeder Frau die Hälfte, damit ist der Gerechtigkeit genüge getan. Aber das Kind ist dann natürlich tot. Es ist eben nur zum Behuf einer List ein Ganzes. Heidegger wiederholt den Kategorienfehler, den der biblische Salomon listig macht. Ich verstehe allerdings bei Heidegger die List nicht so ganz (oder anders gesagt, mir scheint, als wiedererwecke Heidegger im Grunde nur Hegels List der Vernunft, die den Übergang von Sein zum Denken bewirken soll und ihn auch gleich als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ geltend macht), und ich verstehe nicht, warum seit nun hundert Jahren sich kaum ein Heidegger-Interpret an diesem Kategorienfehler stört.

Ich kann mir ferner nicht vorstellen, dass ohne Veranlassungen jemals eine Warum-Frage gestellt werden könnte. Ich kann den Einwand nicht gelten lassen, dass eben die Freiheit aus sich heraus darauf kommt, Warum-Fragen zu stellen. Ich möchte nicht bestreiten, dass, wenn überhaupt etwas die Warum-Frage stellt, es die Freiheit ist, aber ich würde bestreiten, dass sie tut ohne etwas, nach dessen Grund sie fragt und das etwas anderes ist als ihre eigene Möglichkeit.

Ich stimme mit Heidegger völlig darin überein, dass Möglichkeiten da aufhören, etwas bloß formal-logisches zu sein, wo jemand Möglichkeiten als seine eigenen bestimmt, als Möglichkeiten, die seine Existenz prägen. Es ist dabei noch nicht einmal gesagt, dass er vorhat, sie zu verwirklichen. Dass z.B. eine Frau ein Kind bekommen kann, macht für sie die Möglichkeit, schwanger zu werden, zu einer konkreten, existentiellen und durchaus nicht „uneigentlichen“ Möglichkeit, die alles andere als bloß formal-logisch ist, egal ob sie sich ein Kind wünscht oder nicht und ob sie der alleinige Autor all der Bedenken und Erwartungen ist, die sie damit verbindet. Die Möglichkeit, ein Kind zu bekommen, beleuchtet sozusagen – oft für eine ziemlich lange Zeit – ihre Existenz. Dieses Licht kann dabei auf sie wirken wie das plötzliche Schlaglicht in einem Horrorkabinett, aber auch wie das milde Licht der aufgehenden Morgensonne. Aber ohne bestimmtes Thema leuchtet da gar nichts, ohne Kind oder in ganz trivialen Fällen ohne die nächste Gehaltserhöhung oder den nächsten Sommerurlaub, oder in elementareren Fällen das nächste Essen. Ohne solche geschichtlichen Lichter sieht man im Höhlenlabyrinth der Existenz nichts. (Man sagt, Isolationshaft habe früher oder später in etwa diese Wirkung. Aber Isolationshaft ist nicht gerade der locus amoenus der Erkenntnis.) All das sind mehr oder weniger helle Lichter und mitunter ziemlich trübe Funzeln, gewählt, um die eigene Existenz auszuleuchten. Dieser Umstand wird bei Heidegger übergangen. Heidegger reflektiert so gut wie nicht, welche – möglicherweise vorgeschobene – Schwarzwald-Idylle ihm selbst leuchtet. Er meint, dass bei hinreichend konzentriertem und geduldigem Nachdenken sich das Dasein in Sachen Freiheit auch selbst ausleuchten kann, sich selbst seine „erst-letzte Begründung“ liefert. Aber die Freiheit leuchtet sich möglicherweise nicht selbst. Sie muss hochgehalten werden. Das ist jedenfalls der Eindruck, der entsteht, wenn man Denkmälern wie der Freiheitsstatue glaubt. Dazu später.


Für mich als Nachkriegskind war es immer ein äußerst befremdliche Vorstellung, mir vorzustellen, mit Mördern an einem Tisch zu sitzen. Nicht nur mit einem, sondern sogar gleich mit einer ganzen Reihe. Man braucht nur nachzuzählen, wie viele deutsche Männer als Soldaten im Krieg waren und wie viele Tote sie hinterlassen haben. Ich muss also im Lauf der Zeit mit einer ziemlich großen Anzahl von Menschen am Tisch gesessen haben, die schon einmal jemanden erschossen haben. Aber genau hier, wo es Anlässe gibt und das Licht konkreter Entscheidungen leuchtet, abzudrücken oder nicht, hat meine Generation erlebt, dass das Schweigen beginnt. Man berief sich auf Pflicht, Zwang und Unfreiheit, und fast jeder Soldat hätte fast jeden anderen Soldaten darin bestätigt. Man hätte also das Licht der Entscheidung dazu benutzt, um sich hinter den Gehorsam und die Fassade des Formalen zurückzuziehen und durchaus nicht dazu, der eigenen Freiheit auf die Finger zu sehen. Auch das ist ein kollektives Privatissimum, in dem sich das Dasein am liebsten ohne fremde Zeugen von sich selbst beleuchten lassen würde und wo das, was geschehen ist, unterschlagen wird.

Wenn man Heideggers Unterschlagung des Empirischen bis zuende mitgeht, bleibt vom Transzendentalen nichts übrig als die sprachlose Erinnerung ein Verschwinden. Was bleibt z.B. vom Terminus Zuhandensein, wenn man daraus die Vorstellung von einer Hand streicht? Und was stammt an der Metapher der Hand noch aus der Hand, die jemand gesehen, geschweige denn mit der er bei einer bestimmten Tätigkeit nach etwas gegriffen hat? Die Metapher der Hand ist am Ende verzichtbar, weil sie bereits als Metapher die Erfahrung homöopathisch verdünnt, der sie entstammt. Das so recht Erdige ist bei Heidegger nur gruseliger Bauernkitsch. Die Sorge verdient ihren Namen nicht mehr, die sich bilderlos nur mehr um das eigenste Seinkönnen sorgt. Dies Bilderlose ist keine abgeklärte fundamental-ontologische Position, sondern Gegenstand psychiatrischer Klinik. Dort wäre nachzufragen gewesen.


Ich halte das für eine Schwäche der Heideggerschen Daseinsphilosophie. Geschichtslos trotz Zeitlichkeit wird die ontisch-ontologische Differenz zur Verweigerung jeden Inhalts. Ohne das Unwesentliche am Einzelnen, ohne haecceitas, ohne das Erstaunen und den Schrecken, die Heidegger treffend als ontisches Gewahrwerden beschreibt, erlöscht das Licht der Erkenntnis ebenso wie ohne quidditas, ohne das von Heidegger einseitig favourisierte und in der Sorge sedimentierte Wesen. Was Heidegger meines Erachtens verpasst, ist die unbeschreibbare, irrationale Einmaligkeit des begegnenden Seienden gerade in dem Gedanken, der sie – und darin ist Heidegger wirklich einmalig – wahren soll, dem der ontisch-ontologischen Differenz. Es ist, als brauche man über das, was erscheint, von dem Augenblick an nicht mehr zu reden, in dem man bemerkt, dass es sich dem Denken entzieht. Und es stimmt. Manchmal hilft es an dieser Stelle zu schweigen. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall. Dann müsste man reden, und zwar mit dem Anderen, der bei Heidegger nur als Mit-Sein und damit nur als Seinsart des eigenen Daseins vorkommt. Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen kommt vom Anderen ins eigene Dasein. Menschsein heisst nun einmal, an den Lippen des Anderen zu hängen. Selbst die undifferenzierte Rede über „Zeug“ und „Zuhandenes“ ist noch einer Vielfalt abgewonnen, deren Entstehungsort weit außerhalb des eigenen Daseins liegt, das bei Heidegger hinter der Demarkationslinie des Uneigentlichen liegt, eben weil es dort, wie er richtig ahnt, nicht um die Seinsmöglichkeiten des eigenen Daseins geht. Diese zweite Bedeutung von Transzendenz ist bei Heidegger nicht Thema. Zu reden wäre über die einzelnen Dinge, um die es in den menschlichen Beziehungen jeweils geht. Der Computerhandel mit Finanzderivaten sagt heute nicht weniger über das menschliche Dasein als die „Werkwelt des Handwerkers“, die Heidegger in Sein und Zeit als Beispiel heranzieht. Nur was sie sagt, sagt sie sicher nicht in Sein und Zeit. Es führt zu nichts außer zum Verschweigen, wenn man die vielen kleinen Lichter des Besonderen ontologisch auspustet. Sartre hat anders als Heidegger gezeigt, dass man diesen Fehler nicht machen muss.


Am Besonderen und nur da verstrickt sich die Freiheit in die Welt der Anderen. Sie kommt überhaupt nur dort vor. Bis dorthin kommt Heideggers Freiheitsverständnis erst gar nicht. Selbst in der Welt eines Solisten macht der Freiheitsbegriff ohne den Anderen keinen Sinn. Denn auch die Freiheit, die sich ein Virtuose nimmt, braucht die Komposition, um sich von ihr abzuheben, die sich von Zeitgeschmack abhebt, der sich von der Tradition abhebt, die sich …

Die Freiheit ist – und da kann ich Heidegger wieder nur zustimmen – einer fundamentalen Begründung nicht fähig, mit seinen Worten gesagt, sie ist vom Verhältnis des Daseins zum Werden her verstanden Grund und Abgrund zugleich. Aber weiter führt die Fundamentalontologie nicht.


Anmerkungen:

1 „Die Tatsächlichkeit des Faktums Dasein, als welches jeweilig jedes Dasein ist, nennen wir seine Faktizität.“ (Heidegger, Sein und Zeit (192), GA 2, 75)

2 Heidegger, Vom Wesen des Grundes (1929), GA 9, 130

3 Ebd., 131

4 „Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis. Aus ihm heraus erwächst die ausdrückliche Frage nach dem Sinn von Sein und die Tendenz zu dessen Begriff. Wir wissen nicht, was »Sein« besagt. Aber schon wenn wir fragen: »was ist ,Sein'?« halten wir uns in einem Verständnis des »ist«, ohne daß wir begrifflich fixieren könnten, was das »ist« bedeutet. Wir kennen nicht einmal den Horizont, aus dem her wir den Sinn fassen und fixieren sollten. Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.“ (Heidegger, Sein und Zeit (192), GA 2, 7)

5 Ebd.

6 Ebd. 134

7 Ebd. 135

8 Ebd., 137

9 Ebd., 138

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Heidegger, Vom Wesen des Grundes (1929), GA 9, 157

14 Heidegger, Vom Wesen des Grundes (1929), GA 9, 163

15 Ebd.

16 Ebd., 164f.

17 Ebd., 168

18 Ebd., 169

19 Ebd., 172

20 Ebd. 169

21 Ebd., 172

22 Ebd., 174f.

23 Ebd., 175

24 Heidegger, Sein und Zeit. GA2, 191

25 „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologisch-existenzial gebraucht wird. “ (Heidegger, Sein und Zeit. GA2, 256)

26 Heidegger, Sein und Zeit. GA2, 257

27 Heidegger, Sein und Zeit. GA2, 314

28 1 Kön 3,16-28



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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