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Freiheit als Selbst-Widerspruch des kleinen Gottes Mensch

Michael Seibel • Freiheit und Spieltheorie – Das Spiel als ernste Sache   (Last Update: 13.03.2019)

Wie kann es sein, fragt Augustinus, dass Gott allwissend und zugleich der Mensch frei ist? Er fragt das ziemlich verklausuliert im 5. Buch seiner 22 Bücher über den Gottesstaat. „An voluntatibus hominum aliqua dominetur necessitas“ Steht der menschliche Wille unter der Herrschaft der Notwendigkeit? Entwirren wir seine Argumentation also. Augustinus polemisiert gegen Cicero. Dieser habe die völlig unhaltbare Behauptung aufgestellt, es gebe kein Wissen von der Zukunft, weder bei Gott noch bei den Menschen. Augustinus ist geradezu außer sich. Wie kann man solch einen Unsinn nur behaupten! Klar, wenn man wie Cicero manche leicht zu widerlegenden Orakelsprüche nimmt, dann mag es so aussehen, aber es sei schlichtweg Unsinn, einen Gott zu bekennen und dessen Wissen um die Zukunft zu leugnen. Selbstverständlich sei Gott allmächtig und allwissend, sonst ist es kein Gott. Cicero hingegen sei der Meinung, dass aus dem Zugeständnis eines Wissens um die Zukunft mit logischer Notwendigkeit das Vorhandensein eines Fatums folge und dass damit der Mensch in seinem Handeln nicht mehr frei sei. Cicero argumentiere folgendermaßen: Wenn man um alles Künftige von vornherein wisse, kenne man genau die synchrone Ordnung der Dinge und ebenso die diachrone Ordnung ihrer Abfolge aufeinander. Nun gehe allem, was geschieht, eine bewirkende Ursache voraus. Steht aber die Ordnung der Ursachen fest, nach welcher alles geschieht, so geschieht alles mit lückenloser Notwendigkeit. Der Mensch habe demnach nichts in seiner Gewalt. Es gebe für den Willen keine freie Wahl. Wenn aber sowieso alles ein einziges Fatum sei, wozu dann noch Gesetze machen, Politik betreiben, wozu dann die ewige Mühe der Erziehung, wozu Lohn und Strafe, Arbeit und Anstrengung? Man muss sich entscheiden. Damit sich nicht diese unwürdigen und für die menschlichen Verhältnisse verderblichen Folgerungen ergäben, lehnt Cicero das Vorherwissen um die Zukunft ab. Ein durchaus moderner Vorbehalt übrigens. Sobald Menschen oder das Wetter im Spiel sind, kommt die Prognostik auch heute schnell an ihre Grenzen.

Cicero treibe, so kontert Augustinus, den religiösen Sinn derart in die Enge, dass er ihm nur die Wahl lasse, sich für eines von beiden zu entscheiden, entweder dafür, dass etwas in unserm freien Belieben steht, oder dass es ein Vorherwissen um die Zukunft gibt. Tertium non datur. Die Bejahung des einen ist die Verneinung des anderen. Es wird sogar noch etwas dramatischer: Wenn es einen freien menschlichen Willen gibt, wenn der Mensch in die Kette der Wirkursachen eingreifen kann, dann kann Gott unmöglich präzise die Zukunft vorhersehen. Cicero rette zwar die menschliche Freiheit. Der Preis dafür sei aber, dass er die Menschen zu Gotteslästerern mache, so Augustinus.


Wie kommt Augustinus nun aus dieser Zwickmühle heraus, die ihm Cicero serviert hat? Wenn Gott allmächtiger und allwissender Wille ist, wie soll der menschliche Wille dann frei sein? Und umgekehrt: Wenn der menschliche Wille frei ist, wie soll Gott dann wissen, was die Menschen, diese unberechenbaren Gestalten, in alle Ewigkeit vorhaben, schlimmer noch, wie soll er wissen, was sie im nächsten Augenblick vorhaben? Der Mensch würde zum blinden Fleck im Auge Gottes. Wenn Gott Börsenspekulant wäre, wäre er auf Glück angewiesen, um zu gewinnen.


Das Problem wäre heute nicht mehr interessant, wenn es sich nicht auch ohne Gottesbegriff stellen würde. Wenn die Welt ein Kausalnexus aus Naturgesetzen ist, geschieht alles mit Notwendigkeit. Wie kann dann der Mensch in seinem Handeln frei sein? In den empirischen Wissenschaften argumentiert schon lange niemand mehr mit einem Gottesbegriff. Schon der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace bemerkte auf die Frage von Napoleon, wo denn in seinem Modell über die Natur Gott geblieben sei: „Diese Hypothese habe ich nicht benötigt“. Der methodische Atheismus ist in den Naturwissenschaften und selbst im Katholizismus längst akzeptiert. Nur ist mit dem Gottesbegriff auch der Begriff der Freiheit aus den empirischen Wissenschaften verschwunden. Über die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Menschen stolpert man in den Sozialwissenschaften und der Ökonomie, überall da, wo menschliche Praxis theoretisch untersucht wird. Aber auch dann stolpert man über die Freiheit nicht als Freiheit, sondern als ein Geflecht aus Regelhaftigkeit und statistisch beherrschbarem Zufall. Exemplarisch ist dafür die Spieltheorie.


Zurück zu Cicero. Das Argument: Wenn es eine lückenlose Ordnung der Ursachen gibt, geschieht alles mit Notwendigkeit. Dann gibt es keine Handlungs- und Wahlfreiheit des Menschen darin, sofern wählen können heißt, darüber zu entscheiden, selbst die Ursache der Verwirklichung der gewählten Option zu sein. Wenn sich beispielsweise Ciceros Gesetzgeber an all die Menschen wendet, die er dem Gesetz unterwirft, wendet er sich an sie als an frei entscheidende Menschen. Er legt ihnen klare Handlungsalternativen vor und benennt, was jemand zu erwarten hat, der sich an die Gesetze hält, und was jemandem widerfährt, der sich nicht daran hält. Die Alternativen sind deutlich. Nun entscheide du, welches Wertmaß du dabei auch immer anlegen willst. Du kannst alles mögliche tun, ganz unabhängig davon, wie gut oder gerecht die Gesetze sind. Gäbe es nur einen allumfassenden Kausalnexus, wäre eine solche Wahl, wie Cicero sie denkt, schlicht unmöglich. Gerade weil links der Lohn und rechts die Strafe steht, ist die Wahl frei. Wäre sie es nicht, man könnte sich den Aufwand schenken.

Freiheit und Spieltheorie – Das Spiel als ernste Sache


Die moderne Spieltheorie aber denkt heute ganz und gar nicht so. Das Wort Spiel bedeutet in der Spieltheorie gerade das nicht, was es für Schiller bedeutet hatte, einen Raum, in dem der Mensch ganz Mensch ist und sich frei fühlen kann. Entweder wird er als rational nutzenmaximierend gesehen, dann folgt er mit einer gewissen Unschärfe den Regeln des jeweiligen Spiels. In der Spieltheorie wird der Spieler nicht als Freiheit anerkannt. Es kann natürlich immer passieren, dass jemand, der extrem kurzsichtig ist, beim Schach eine Figur auf ein falsches Feld stellt, auch wenn er die Regeln genau kennt. Das ist nicht Freiheit, das ist Unschärfe. Die Spieltheorie untersucht Strategien, effektivere und weniger effektive, gewinnende und verlierende. Aber die Wahl der Strategie hat mit Freiheit nichts zu tun, sondern mit Kenntnis oder Unkenntnis der besten Strategie. Regeln sind das eine, Strategien das andere.1 Je komplexer die jeweilige Spielwelt ist, desto weniger weiß der Spieler naturgemäß zunächst über die gewinnende Strategie, wenn das Spiel gerade erst beginnt. Er kennt den richtigen Algorithmus noch nicht. Die Wahl zwischen einem besseren und einem schwächeren Algorithmus ist dann aber keine freie Wahl, wenn die Maxime, dass das Spiel gewonnen werden muss, von vorn herein unverrückbar feststeht. Er muss die bessere nehmen, sobald er sie kennt. Aber warum steht das eigentlich fest? Warum heißt ein Spiel spielen ganz automatisch, ein Spiel gewinnen wollen?


Hier ist Vorsicht angesagt. Bereits die Frage nach Freiheit beim Spielen hat mit wilden Ausfällen von Seiten der Mitspieler zu rechnen. Bei jedem war schon einmal ein Mitspieler mit von der Partie, der das Spiel, das gerade gespielt wurde, nicht recht ernst nahm, noch nicht einmal, weil er die Regeln nicht kannte, sondern weil ihm der Respekt davor fehlte, weil es ihm um etwas anderes ging, um Geselligkeit oder um Selbstdarstellung, um was auch immer.


Die meisten Mitspieler sind in solchen Dingen fundamental humorlos. Dabei scheint es kaum etwas freieres zu geben als die Entscheidung für ein kleines Spielchen in gemütlicher Runde. Eine Partie Poker gefällig? Wer sich an einen Spieltisch setzt, muss allerdings seine individuelle Freiheit an der Garderobe abgeben und sie gegen eine kollektiv festgelegte Regel und eine sich daraus ergebende persönliche Gewinnchance, gegen ein nicht selbst bestimmtes Wertmaß eintauschen. Börsen sind heute solche Orte, an denen die Spieltheorie, aber auch all ihre Dilemmata real werden, Börsen aller Art. Hier erscheinen die Chance auf Gewinn, das Eingehen von Risiken, der bloße Glaube an die Möglichkeit, eine gewinnende Strategie identifizieren und Risiken wirksam begrenzen zu können als Freiheitsräume. In Wahrheit ist es ein ein ums andere Mal selbstgewähltes Sich-Überlassen an ein Spiel mit nicht selbstgemachten Regeln. Was die Spieltheorie untersucht und was an Börsen der Realwirtschaft, nicht mehr und nicht weniger als der weltweiten Reproduktion der Menschheit aufgepfropft wird, ist ein Schematismus menschlicher Interaktion ohne jeden Rest von Freiheit und damit das genaue Gegenteil dessen, womit Cicero rechnete. Man muss es so sagen: nicht nur die Natur-, sondern auch die Sozialwissenschaften kommen heute ohne den Begriff der Freiheit aus. Und zwar gänzlich. Sie scheinen dabei nichts zu vermissen. Auch nicht das, was Cicero für völlig unverzichtbar hielt. Um so spannender, was das denn jetzt genau ist. Cicero rechnet mit der Fragilität von Ordnungen. Man muss der Freiheit Gründe geben, Ordnung zu halten. Ordnungen leben von menschlicher Freiheit. Cicero sieht den freien Willen als verlässlichen Partner der Menschenerziehung.




Anmerkungen:

1 „A closer look at the world of chess might indicate where things are heading in the long run. It is true that for several years after Deep Blue defeated Kasparov, human–computer cooperation flourished in chess. Yet in recent years computers have become so good at playing chess that their human collaborators lost their value, and might soon become utterly irrelevant.
On 7 December 2017 a critical milestone was reached, not when a computer defeated a human at chess – that’s old news – but when Google’s AlphaZero program defeated the Stockfish 8 program. Stockfish 8 was the world’s computer chess champion for 2016. It had access to centuries of accumulated human experience in chess, as well as to decades of computer experience. It was able to calculate 70 million chess positions per second. In contrast, AlphaZero performed only 80,000 such calculations per second, and its human creators never taught it any chess strategies – not even standard openings. Rather, AlphaZero used the latest machine-learning principles to self-learn chess by playing against itself. Nevertheless, out of a hundred games the novice AlphaZero played against Stockfish, AlphaZero won twenty-eight and tied seventy-two. It didn’t lose even once. Since AlphaZero learned nothing from any human, many of its winning moves and strategies seemed unconventional to human eyes. They may well be considered creative, if not downright genius.
Can you guess how long it took AlphaZero to learn chess from scratch, prepare for the match against Stockfish, and develop its genius instincts? Four hours.“
(‘Google’s AlphaZero Destroys Stockfish in 100-Game Match’, Chess.com, 6 December 2017; David Silver et al., ‘Mastering Chess and Shogi by Self-Play with a General Reinforcement Learning Algorithm’, arXiv (2017), https://arxiv.org/pdf/1712.01815.pdf; see also Sarah Knapton, ‘Entire Human Chess Knowledge Learned and Surpassed by DeepMind’s AlphaZero in Four Hours’, Telegraph, 6 December 2017.)
(aus: Harari, 21 Lessions for the 21th century)



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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