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Freiheit – die Rahmenerzählung schlechthin

Michael Seibel • can't beat the fealing   (Last Update: 13.03.2019)

An der Philosophie interessieren ihre großen Problemtitel, ihre Begriffe des Guten, des Schönen und des Wahren. Sie wurden früh formuliert. Jede Generation muss sie neu entdecken, wenn sie lebendig bleiben sollen, oder besser gesagt, muss sie neu erfinden. Ich möchte mir nicht vorstellen, im Zusammenleben mit anderen ohne diese Dimensionen auskommen zu müssen. Es scheint, als mache sich heute längst nicht mehr jeder klar, was das heißen würde.


Gehts denn auch ohne? Zweifellos können alle Primaten, auch die nicht-menschlichen, genießen, erschrecken, etwas in Besitz nehmen und verteidigen. Sie können in ihren jeweiligen Gemeinschaften und deren Hierarchien Schutz finden oder Aggressionen ausleben. Dafür müssen sie keine Gründe nennen. Sie brauchen dafür weder Ethik noch Wissenschaft. Schimpansen kommen mit einer überschaubaren Anzahl Lautzeichen aus, wenn sie miteinander sprechen, was sie zweifellos tun. Um sich unter ihresgleichen aufgehoben zu fühlen, sich zu ernähren und fortzupflanzen, sind die Begriffe des Guten, des Schönen und des Wahren nicht nötig. Und auch ist die Menschheit ist hunderttausende von Jahren ohne sie ausgekommen. Evolutionsgeschichtlich sind wir in ziemlich kurzer Zeit aus der Mitte der Nahrungskette ganz an deren Spitze gewandert und haben uns über die Welt ausgebreitet. Erst seit wenigen tausend Jahren, also seit einer geistesgeschichtlich langen, aber evolutionsgeschichtlich extrem kurzen Zeit, sprechen wir über alles, was es gibt und sogar über das, was es nicht gibt, in Termen des Guten, Schönen und Wahren. Wir nutzen Wertbegriffe. Wir kooperieren vereint durch gemeinsame Mythen miteinander, die es uns möglich machen, Unternehmen mit tausenden von Mitarbeitern, Armeen mit hunderttausenden von Soldaten und Religionsgemeinschaften und Staaten mit Millionen von Mitgliedern und Bürgern zu bilden. Es sind die selben gemeinsamen Vorstellungen, in deren Namen wir allerdings auch die brutalsten Kriege gegeneinander führen, seitdem wir uns ihrer bedienen.


Menschliches Denken kennt keine Grenzen, bevor es sie nicht selbst aufrichtet, nicht einmal den Tod. Wo gedacht wird, wird immer auch gedacht, dass alles ganz anders sein könnte. Das ist die ratio essendi des Denkens. Denken unterscheidet generell und immer, alles von allem. Wo das nicht so ist, wird einfach nicht gedacht. Die Grundbegriffe des Guten, Schönen und Wahren bewahren dabei immer etwas nicht Endgültiges, etwas, das vom Unterscheidungsvermögen unterlaufen bleibt. Die Idee des Guten selbst bleibt in platonischer Ferne unerreicht. Nichts, was ist, ist völlig gut oder schön, kein Urteil ist voll und ganz wahr. Auch ans Schönste sind wir nicht gefesselt. Das ist kein Mangel des Schönen, als sei es nicht schön genug, um uns zu fesseln, sondern es ist das Denken selbst, das sich von allem abstößt und ständig differenziert. Ich bin, also denken ich. Das Denken überwuchert das Leben. Es ist einfach eine Selbstabstoßung des Lebens von seinen Ufern, bisweilen auch von sich selbst.


Unsere Erfahrungen sind nie der platte Stempel von Gewesenem, sondern immer hindurchgegangen durch das Differenzieren. Andernfalls wären es nicht Erfahrungen, sondern Traumata. So eben auch jede Erfahrung von Schönheit. Ein Leben unter Idioten, die sich dem Unmittelbaren verpflichteter fühlten als der Differenz, ein Leben, in dem wahr und unwahr ununterscheidbar geworden sind, in dem nichts Bedeutung hat, ein Leben ohne die Erfahrung von Schönheit, ein transzendenzloses Leben in purer Faktizität und unter Menschen, von denen man gerade dann permanent belogen würde, käme dem einigermaßen nahe, was man früher die Hölle genannt hat. Wahrheit ist ein grundlegender, nie ganz einlösbarer Anspruch auf Freiheit in der Welt, die ich mit anderen teile.


Denn rund um die Begriffe des Guten, Schönen und Wahren taucht beständig ein vierter Term auf, der eine Art Rahmenerzählung um diese drei Begriffe legt und der umgekehrt für sich allein ohne die anderen drei keinen Sinn machen würde: die Freiheit.


Würde das Gute, worin immer es bestehen mag, sich ohne menschliches Zutun verwirklichen, dann brauchte man es nicht groß zu bestimmen. Alles liefe von selbst. Wenn sich bestimmen lässt, worin das Gute besteht, was kontrovers genug ist, muss es sich auch anstreben lassen und kann es verfehlt werden. Ohne ein freies Streben sind das Gute, Schöne und Wahre nicht zu denken. Das allein sagt noch nicht, wer da strebt, eine Gemeinschaft, wenn ja, was für eine Art von Gemeinschaft, oder Individuen und wenn ja, alle oder nur ganz besondere oder weder Gemeinschaften noch Individuen, sondern Götter, Aliens, Einhörner oder irgendwelche anderen Vorstellungsgebilde.


Ein Hauptunterschied zwischen dem vormodernen und dem modernen Wissenschaftsverständnis ist, dass man bis zum Beginn der Moderne nicht davon ausging, dass Wissenschaften großartig viel Neues herausbekommen könnten. Alles Relevante stand nach christlichem Verständnis bereits in den heiligen Schriften, die nur richtig interpretiert werden mussten. Die Aufgabe, etwas genuin Neues über die Welt herauszufinden, bestand also gar nicht. Gäbe es außer dem schon Bekannten etwas grundsätzlich Neues von Relevanz, dann hätte Gott uns das offenbart. Das hat er aber nicht. Also gibt es das auch nicht. Die mittelalterliche Wissenschaft hatte kein wirkliches Problem des Nichtwissens, sondern sah sich selbst in der Gefahr des Missverstehens und er Fehldeutungen.


Das ist unbestritten der Hauptunterschied zum modernen Wissenschaftsverständnis. Und genau das wird ihm von allen Seiten hoch angerechnet. Es hat allerdings auch eine Kehrseite. Die modernen Wissenschaften haben sich mit dem Nichtwissen angefreundet. Alles Wissen ist prinzipiell falsifizierbar. Der Gedanke, dass Urteile, welche auch immer, nicht stimmen, ist aushaltbar geworden. Endgültige Wahrheit muss gar nicht erst angestrebt werden. Empirische Methode und mathematische Form sind die Invarianten, sozusagen die Heilige Schrift der modernen Wissenschaften.

Das hat bekanntlich dazu geführt, dass kein einziger der vier Begriffe, nicht einmal der des Wahren, heute irgendeinen wissenschaftlichen Nutzen verspricht, der sich technisch umsetzen ließe. So wird Philosophie heute aus zwei Richtungen gleichzeitig angegriffen. Als Philosophen leben wir seit längerem mit der Empfehlung, die Freiheit des Willens, Bewusstsein und Emotionalität als philosophisch unzugängliche Themen zu betrachten und Spekulationen darüber als ebenso metaphysisch belastet anzusehen wie religiöse Vorstellungen von der Existenz der Götter oder der Unsterblichkeit der Seele. Andererseits geht für den heutigen am einzelnen Menschen orientierten Humanismus das subjektive Empfinden über alles. Was sollten philosophische Begriffe darüber hinaus noch leisten? Sie wirken wie Hüllen, die mit den Zufälligkeiten des persönlichen Empfindens und Fühlens zu füllen sind. Selten traf Rousseaus Satz ein weiter verbreitetes Lebensgefühl als heute in kapitalistischen Konsumgesellschaften: »Alles, von dem mir mein Gefühl sagt, dass es gut ist, ist auch wirklich gut; alles, was mein Gefühl schlecht nennt, ist schlecht.«


Die Philosophie wird dann aber auch gleich vonseiten der Wissenschaften in die Zange genommen.

Für Fragen nach der Entstehung von Leben fühlen sich inzwischen die Biowissenschaften zuständig. Freiheit wird so leicht eingekocht auf ein subjektives Sich-gut-fühlen oder zerfällt von außen gesehen in einen Haufen statistisch einschätzbarer Zufälligkeiten. Als das bleibt die Beschäftigung mit ihr durchaus erlaubt und vielfältig operationabel. Die Idee der Freiheit selbst verkläre hingegen Disziplinlosigkeit. Sie störe den praktischen Betrieb und helfe heuristisch bei der Erkenntnisgewinnung nicht weiter. Man sei letztlich gezwungen, den Freiheitsbegriff als fortschrittshemmendes Zeugnis einer ungebremsten, sich der Erfahrung verweigernden Phantasie zu betrachten.


Für die Klassiker, für Rousseau, aber ebenso für Kant oder Schelling gibt es so etwas wie die Evidenz der Willensfreiheit. Es ist für sie einfach vollkommen klar, dass alle Menschen frei geboren werden. Es gibt für sie so etwas wie ein Erlebnis von Freiheit, ein Sich-frei-fühlen, das sich nicht über sich selbst täuscht. Und es gibt in allergrößter Nähe dazu die Erfahrung von Unfreiheit. Rousseau fasst es in einen Satz zusammen: »Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.«


Gemeint sind einerseits die Ketten der sozialen und politischen Verhältnisse, Knechtschaft und Sklaverei und andererseits die der Selbstfesselung des unaufgeklärten Denkens, Menschen, die sich nur aus dem einen und einzigen Grund kommandieren lassen, weil sie es sich nicht zutrauen, selbst die Antwort darauf zu finden, was zu tun ist. Die Rede ist damals von selbstverschuldeter Unmündigkeit. Als fehlten einfach einige Grundinformationen, die sich jeder leicht hätte beschaffen können, was so natürlich historisch nicht stimmen kann.1 Was für ein Bildungsoptimismus! Soviel stimmt: Die meisten Europäer waren von Reichtum und selbst von elementarsten Gütern ebenso ausgeschlossen wie von Bildung. Seit dem 18. Jahrhundert werden diese beiden Formen von Unfreiheit ideologisch in ein immer engeres Verhältnis gestellt. Und die Frage ist ja wirklich auch heute noch interessant: Wie kann man zugleich aufgeklärt und Untertan sein?


Freiheit – can't beat the fealing


Ich kenne weder unerträgliche Armut noch physische Unterdrückung aus eigener Erfahrung. Dennoch kenne ich wie jeder andere auch das Gefühl, mir gehindert durch die unterschiedlichsten Umstände Wünsche nicht erfüllen zu können oder etwas gegen den eigenen Willen tun zu müssen. Es gibt niemanden, der solche Befangenheiten im Kern nicht schon aus der Kindheit kennt. Was mich betrifft, waren das einigermaßen seltene Gefühle. Meistens waren Helfer da, an die ich mich wenden konnte. Ich war nie wirklich allein mit dem, was mich beschränkte und mit meiner Trauer und Wut darüber. Ich lernte das Gefühl eingeschränkt zu sein und raus zu wollen wie die meisten meiner Altersgenossen in der Pubertät näher kennen. Und in der Zeit auch das Gefühl, das die Romantik so eindrucksvoll heraus präpariert hat, mit meinen Wünschen auf unbestimmte Weise allein zu sein. „Fremd bin ich eingezogen...“ Im Wunsch frei zu sein steckt ein Stück Einsamkeit. Es gehört zu meiner persönlichen kulturellen Identität wesentlich stärker als besoffenes Gekuschel im Karneval. In der Pubertät fühlt sich fast jeder mehr oder weniger einsam. Die Bilder werden erkennbar, davon, wo man hin will, aber noch nicht ist. Man benennt, was man noch nicht kennt. Die Phantasie ist aufnahmebereit und sucht nach Anschluss. Neue Bilder von Leben und Schönheit bekommt man von überall her zugetragen. Alles regt an. Jeder macht sich auf ins Land der Entdeckungen, wenn auch weiß Gott nicht unter gleichen Voraussetzungen. Die meisten werden damit bekannt: Kaum etwas ist faszinierender als die Entdeckung fremder Haut. Und gleichzeitig bleibt es ein Rätsel, warum einen die Schönheit nicht noch stärker fesselt, als sie es nun einmal tut. Aber auch kaum eine Zeit, in der pure Gedanken mehr begeistern. Und nirgendwo ist das Wissen darum, was Gerechtigkeit bedeutet, klarer und geordneter als im geistigen Reisegepäck eines Jugendlichen, der ins Leben losrennt. Überall ist 'hinterm Horizont'. Und natürlich wird gegen alles Enge revoltiert, so als sei es ein und das selbe, was mich und was alle anderen beschränkt. „Komm! ins Offene, Freund!“ Die Phantasie beginnt, freien Raum zu fordern im eigenen Namen und gleich auch im Namen der Menschheit. Diese Freiheitsforderung ist bis heute ein nicht zu unterschätzender Antrieb, 'erwachsen', von alten Bindungen unabhängig zu werden. Ich kenne das Gefühl von Zwang dann auch aus den diversen Disziplinierungen der Ausbildung und natürlich aus dem Berufsleben. Das Gefühl von Ohnmacht oder Zwang droht in allen Konflikten und verlangt Kraft zur Veränderung. Alles mögliche kann schief gehen und geht auch schief. Die Schicksale des Freiheitswunsches fächern sich weit auf. Manche geben schneller als andere auf. Manche werden schnell zu Feinden jeder Veränderung, andere verstehen sich ihr Leben lang als Grenzüberschreiter. Manche definierten Unterwerfung als die beste Haltung gegenüber den Forderungen, die an sie ergehen. Der Wunsch frei zu sein wird fern ab von jedem Konflikt überhaupt nicht fühlbar. Es gibt den Wunsch nach Freiheit im Konflikt als den Wunsch aktiv agieren zu können. Aber es gibt auch ein Bedürfnis nach Freiheit vom Konflikt, den Wunsch, die Last des Konflikts loszuwerden.


Man hört, Glück vermittle das Gefühl von Freiheit. Ganz nachvollziehen kann ich das nicht. Im Gegenteil fühle ich mich gerade im Glück besonders gebunden, nämlich an das, was mich beglückt.2 Die Bilder dessen, wohin ich will, meine Hoffnungen, sind Bilder von Bindungen und nicht von Ungebundenheit. Was mir allerdings zu stimmen scheint: Unfreiheit macht unglücklich.


Geht man eigentlich als Philosoph mit solchen das Glück und die Freiheit verbindenden Querverweisen per se in die Irre? An Abgrenzungen von 'echter' Philosophie gegen Ratgeberliteratur besteht jedenfalls kein Mangel. Von ernst zu nehmender Philosophie wird verlangt, dass sie bleibende Wahrheiten herausarbeitet und nicht Zufälligkeiten als solche ausgibt. Macht sich Philosophie verdächtig, wenn sie auf Fragen des Glücks antwortet?




Anmerkungen:

1 Analphabetismus war gemessen an den Lese- und Schreibfähigkeiten von Rekruten erst zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland kein nennenswertes Problem mehr.

2 Ich bin mit dieser Haltung sicher nicht allein. So schreibt Nietzsche in den nachgelassenen Fragmenten: „Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radicaliter nöthig habe — Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß — ich als ebenso viel Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktionsapparat bin.“
(Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Hg.Giorgio Colli und Mazzino Montinari Bd 12, .S. 197)



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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