Alltägliche Überforderungen
Das Sisyphos-Christus-EGO
Michael Seibel • Das Leben und seine ständigen Überforderungen (Last Update: 07.12.2014)
Tragikomik
Fragen, die man falsch gestellt,
Schafft man nicht mehr aus der Welt;
Man verbringt dann seine Tage
Grübelnd über solcher Frage,
Und man kanns noch Gnade nennen,
Stirbt man ohne zu erkennen
Daß man sich umsonst geplagt,
Weil man eben falsch gefragt.
Dann vermacht man – Trost im Sterben! -
Jene Frage seinen Erben.
(Fritz Riemann)
Zu Beginn bekamen wir ein Gedicht in der Tonlage eines Wilhelm Busch über ungelöste Fragen mitgebracht. Sind es die falsch gestellten Fragen, die »an die nächste Generation weitergegeben werden«? Sind die Fragen, die nunc et semper die Leute zum Beben bringen, die »unlösbaren Fragen«?
Denkt mal drüber nach, welchen Fragen, die euch nicht zu lösen gelingt, euch umtreiben, und ob die eine oder andere davon Chancen hat, bei der nächsten Generation zu landen.
Überlegt euch, ob euch die Lösung attraktiv erscheint, die Fragen als falsch gestellt zu deklarieren. Bleiben sie euch damit erspart? Folgende kleine Szene geht mir durch den Kopf:
Die Dame fragt: „Liebst du mich auch wirklich?“
Der Herr antwortet: „Mir scheint, die Frage ist falsch gestellt.“
Oder die berühmtere Version der Szene:
GRETCHEN: Wie hast du's mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.
FAUST: Laß das, mein Kind, du fühlst, ich bin dir gut; Für die ich liebe, ließ' ich Leib und Blut, Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben. (...) Mein Kind, wer darf das sagen: Ich glaub einen Gott! Magst Priester, Weise fragen, Und ihre Antwort scheint nur Spott Über den Frager zu sein.
Von den Fragen, auf die ich mir persönlich bislang die Antwort versage, fällen mir drei sogleich ein:
1 Wie kann Legitimität zwischen Menschen – etwas Geistiges – materielle Wirkungen entfalten? Wie ist zum Beispiel zu verstehen, dass sich waffenstarrende Fürsten des Mittelalters mitunter der militärisch bereits geschwächten geistigen Macht des Papstes beugten?
2 Offenbar gibt es im Leid einen Zusammenhang von Sinn und Körper. Wie sonst kann seelisches Erleben körperliche Symptome erzeugen? Die Frage ist für mich trotz Psychoanalyse weiter offen.
3 Warum entwickelten sich die meisten Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 bei ihrem Einsatz 1942 in Polen zu Mördern, die mindestens 38.000 Juden eigenhändig exekutiert haben, während das nur bei einer Minderheit von allerhöchstens zwanzig Prozent nicht der Fall war? Allen aber war gemein, dass sie ihren Dienst vor dem Krieg als ganz normale Hamburger Schutzpolizisten begonnen hatten, deren Aufgabe es war, Kindern und alten Leuten über die Straße zu helfen.
Ich habe den Eindruck, dass diese drei Fragen sehr eng zusammenhängen.
Das wären drei meiner Kandidaten. Ich bin ziemlich sicher, dass sie sich der nächsten Generation ebenfalls stellen. Natürlich gibt es bei allen drei Fragen bereits Erklärungen. So bei der dritten: Manche der Männer mögen ihr Verhalten mit Chorgeist erklären. Andere mögen Karrieristen sein. Den einen oder anderen mag Mordlust getrieben haben. Manche vielleicht die Angst. Ich habe nicht den Eindruck, dadurch viel zu verstehen und möchte diese Erklärungen nicht als hinreichend gelten lassen. Mancher wird sagen: was fragst du noch! Und in der Tat habe ich mich zu fragen, was ich eigentlich mit verstehen meine. Das scheint mir nun eine Eigenart sehr basaler Fragen zu sein, dass die Suche nach einer Antwort zugleich die Suche nach einem veränderten Selbstverständnis des Fragenden ist. Reicht es, irgendwann die Tatsachen zu akzeptieren?
Wäre es nicht geradezu erlösend, wenn sich diese Fragen als die »falschen Fragen« herausstellen würden? Ich bezweifle, dass sie das werden. Was passiert mit solchen Fragen, wenn sie weitergegeben werden? Kann ihr Adressat gleichsam die Annahme verweigern? Ein Mangel an Antworten besteht ja nicht. Es scheint ja alles erledigt.
Der ersten Frage wird man in den Industrieländern wahrscheinlich noch länger mit einer Wohlstandsideologie begegnen, die Legitimität als Konsumchance denkt. Die zweite wird man vielleicht versuchen, noch stärker als bisher mit Psychopharmaka zu beantworten. Die Dritte wird man weiterhin verdrängen, wo das möglich ist, vielleicht beichten. Es wird sicher Antworten geben. Und insofern sieht sich, wer trotz der jeweiligen Antwort auf solchen Fragen besteht, durchaus ein Stück weit dem Verdacht ausgesetzt, er stelle die falschen Fragen.
Gibt es so etwas wie falsche Fragen überhaupt? Als Pädagogen haben wir Grund zu der Behauptung, es gebe keine falschen Fragen, sondern nur falsche Antworten. Wir wollen damit Fragende schützen, wenn sie in einer schwachen Position sind. Das sind sie keineswegs immer. Es kann vorkommen, dass die Position des Fragenden die stärkere Position als die des Befragten ist. Als markantes Beispiel eines starken Fragenden aus der Philosophiegeschichte haben wir kurz auf das Theodizee-Problem geschaut, wie es sich zu Beginn der europäischen Aufklärung stellt. Wir werden, etwas besser mit Material versehen, beim nächsten Mal genauer drauf schauen.
Zunächst nur soviel: Die Theodizee zerrt Gott vor den Richterstuhl der Vernunft, indem sie nach der Rechtfertigung des Bösen fragt. Offenbar beansprucht die Vernunft als die fragende Instanz eine äußerst starke Position. Die Vernunft, das ist nichts anderes als wir Menschen, sobald wir uns selbst aus der Möglichkeit heraus begreifen, die Welt zu verstehen. Dazu kommt, dass sie die Antwort nicht von Gott erwartet, sondern von sich selbst, denn die Vernunft ist zugleich Richter. Also eine sehr brisante Situation. Rechtlich im modernen Sinn äußerst fragwürdig.
Würde man, wenn's möglich wär, Lüge und Unwahrheit schlechterdings aus dem Menschenleben verbannen? Würde man die Unwahrheit unmöglich machen? Wäre das nicht ein großer Schritt in Richtung aufs „Gute“? Gedankliche Voraussetzung – auch der Theodizee - scheint so etwas zu sein wie ein Anspruch des Menschen auf Glück, der sich nicht weiter rechtfertigen muss. Aber, wie man weiß, heißt philosophieren, Selbstverständlichkeiten misstrauen, wo immer sie sich zeigen. Kaum wollen wir alle das gleiche, nämlich unser persönliches Glück, haben wir die schönste Konfusion.
Setzen wir nicht
unhinterfragt etwas Ähnliches voraus, wenn wir uns dem Thema
Überforderung stellen? So kamen wir denn über das
Fragen und die Theodizee zu unserem eigentlichen Tagesthema, der
Überforderung.
Es wurde gesammelt.
Und wie das beim Sammeln so ist, liegt am Ende manches Überraschende
im Körbchen.
… überfordert
sein bei Entscheidungen, … im Rahmen der Arbeit, … in
Beziehungen, … beim Versuch, die Erwartungen anderer zu
erfüllen, … in Liebesdingen, ... durch einen Mangel an
Kraft, … all zu früh einen Beruf wählen zu sollen, …
durch menschenverachtende Geschichten wie diese: auf der 1940 auf dem
Appellplatz angelegten Schuhprüfstrecke des KZ Sachsenhausen mit
unterschiedlichen Bodenbelägen mussten Häftlinge des
Schuhläufer-Kommandos durch Marschieren von bis zu 40 km am Tag
Sohlenmaterial für die deutsche Lederindustrie testen.
Weitere Einfälle:
Überforderung durch … Pflegesituationen in Altersheimen,
… durch eigene Ansprüche, … der Eltern in der
Erziehung ihrer Kinder, … der Kinder durch die Ansprüche
ihrer Eltern, … generell während der Pubertät, und
sogar Überforderung durch die Vielzahl guter Bücher, die
aus jeder Entscheidung für ein Buch eine Entscheidung gegen
hundert bessere macht.
Wir sehen, in
wenigen Minuten füllen freie Einfälle zum Thema ein ganzes
Becken der heterogensten Ideen.
Es macht Sinn zu
sortieren. Wer ist Fordernder, wer ist Geforderter? Wie
schauen in §241 BGB: „Kraft des Schuldverhältnisses
ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu
fordern.“ Wo liegt also ein Schuldverhältnis bei
der Rede von Überforderung vor? Schuldet der Geforderte dem
Fordernden irgendetwas? Besteht die jeweilige Forderung zurecht oder
zu unrecht?
Wir unterscheiden
sogleich Überforderung von Überlastung.
Eine Maschine kann nicht überfordert werden, sie wird höchstens
überlastet. Und werden die KZ-Häftlinge überfordert?
Worin sollte das Schuldverhältnis bestehen? Hier herrscht
nackter Zwang und tödliche, systematische Überbelastung.
Dann die Pubertät als eine an sich überfordernde Zeit?
Benötigen wir nicht doch Kriterien dafür, wann zu viel
gefordert wird? Die meisten von uns kamen ja einigermaßen
unbeschadet aus der Pubertät heraus. Dann das Beispiel, sich
nicht für ein gutes Buch entscheiden zu können. Die es
einbrachte, muss schmunzeln.
Gibt es auch so
etwas wie eine unentrinnbare Überforderung? Offensichtlich ist
zumindest: es gibt innerhalb jeder Lebensgeschichte, wenn schon nicht
Überforderungs-, so
doch Überlastungssituationen, die unvermeidbar sind. So
geht die Motivationspsychologie
davon aus, dass Menschen das gesamte Leben lang danach streben, ihre
Nahumgebung
zu kontrollieren.
Sie nennt das ein Bedürfnis nach primärer
Kontrolle.
Die Möglichkeit, eine solche Kontrolle auch wirklich auszuüben,
besteht bei Geburt nicht. Sie erreicht irgendwo
in der Lebensmitte ein Maximum, um am Ende des Lebens wieder auf Null
zu gehen.
„Im
hohen Alter ergibt sich ein komplementäres Bild zur Kindheit
unter dem umgekehrten Vorzeichen des altersbedingten Abbaus. Der
alternde Mensch muss sich auf die Einschränkungen sozialer
Rollen (z. B. Auszug der Kinder, Verrentung, Verwitwung) und den
biologisch bedingten Funktionsabbau (z. B.
Herz-Kreislauf-Belastbarkeit, physische Kraft, Sensorik und
Gedächtnis) einstellen. Diese Erlebnisse von dauerhaftem
Kontrollverlust bringen Frustration, Hilflosigkeitserlebnisse und die
Gefahr von Verzweiflung und Depression mit sich und bergen die
Gefahr, dass der alte Mensch voreilig Kontrollpotenzial aufgibt und
sich in die Abhängigkeit von anderen begibt. Gegen einen solchen
Ausverkauf des primären Kontrollpotenzials können jedoch
alte Menschen im Unterschied zu den in der emotionalen und
motivationalen Selbstregulation noch unerfahrenen Kleinkindern,
Strategien der sekundären
Kontrolle einsetzen, durch die Selbstwert und
Erfolgszuversicht vor den zerstörerischen Folgen des erlebten
Kontrollverlusts geschützt und das verbleibende
Handlungspotenzial auf erfolgsträchtigere Ziele gerichtet werden
kann.“
(Aus:Heckhausen, Motivation und Handeln, Berlin Heidelberg New York 2010,
S.428)
Nochmals: Wer ist
Fordernder, wer ist Geforderter? Offenbar kann das dieselbe Person
sein. Und mitunter ist gerade diese fordernde Instanz ganz besonders
streng. Dem wollen wir nachgehen.
... und können
es gar nicht anders, als durch die beeindruckende Vorarbeit, die
Sigmund Freud zu diesem Thema geleistet hat.
Beim nächsten
Mal wollen wir uns gemeinsam einen Auszug aus Freuds „Neue
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
(1933), 31. Vorlesung“ vornehmen,
worin uns das Ich
im Dienste
dreier Herren vorgeführt wird, im Dienst der Außenwelt,
des Überich und des Es. Freud lässt uns verstehen, was in
dieser innerpsychischen Welt von Verlust und Identifikation
Überforderung heißen könnte.
Eine weitere Gestalt
haben wir jedoch beim letzten Mal bereits kurz kennengelernt, die man
leicht für die am massivsten überforderte Figur der
Weltliteratur halten könnte, wenn sie nicht von Albert Camus mit
aller Vehemenz gegen diese Einschätzung verteidigt würde.
Es handelt sich um Sisyphos.
Ödipus (die
Mythengestalt, auf die Freud rekurriert) versuchen wir, mit Sisyphos
gegenzulesen.
In christlicher
Tradition gibt es zudem eine ziemlich unüberbietbare
paradigmatische Überforderungssituation. Man erinnert sich:Um
die neunte Stunde rief Jesus: Eloï, Eloï, lema sabachtani ?
Das ist das vierte
der von der katholischen Kirche sogenannten Sieben Letzten Worte
Jesu, die ich hiermit in der Reihenfolge erinnere:
„Vater, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34) „Amen,
ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“
(Lk 23,43) „Frau, siehe, dein Sohn!“ und: „Siehe,
deine Mutter!“ (Joh 19,26-27) „Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46) „Mich
dürstet.“ (Joh 19,28) „Es ist vollbracht.“
(Joh 19,30) „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“
(Lk 23,46)
Es ist die uns
zugleich vielleicht aus unserer christlichen Prägung heraus
vertrauteste und doch zugleich eine der dunkelsten Engführungen
von Sinn und Leiden. Ob wir wohl auch hier ein wenig Licht
hineinbringen?
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