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Angegriffene Prinzipien der Menschlichkeit

Michael Seibel • Life, liberty and the pursuit of happiness   (Last Update: 02.04.2019)

Keine Frage! Seit der ersten industriellen Revolution hat sich die Welt in kürzester Zeit stärker verändert als zuvor in tausenden von Jahren. Nur die Welt oder auch der Mensch? Nach kürzester Zeit leben nicht mehr 1,3 Milliarden Menschen auf der Erde wie noch 1850, sondern heute mehr als 7,5 Milliarden. Wodurch wurde das möglich? Zweifellos sind technologische Veränderungen mitursächlich, neue Technologie zentriert um Kohle und Stahl, Transport, Maschinenweberei und Nachrichtentechnik. Das ist es ja, was man industrielle Revolution nennt. In ihrem Gefolge wurde der moderne Massenkonsum möglich, aber auch industriegestützte Kriege, die industrielle Massenvernichtung der Nazis und die Atombombe. Heute kommen Digitalisierung und Netze dazu. Die Globalisierung ist inzwischen eine Tatsache und dagegen und mitten darin die Neu- und Umdefinition von Grenzen aller Art. Was sind Nationalstaaten im Unterschied zu globalen Gebilden, wie steht es um die Grenze zwischen Mensch und Maschine, Wahrheit und Lüge?


Bei der philosophischen Abschätzung wollen wir exemplarisch auf folgende neue Techniken achten: Technologien der jüngsten Zeit wie artificial intelligence, kurz KI (künstliche Intelligenz). KI wird z.B. eingesetzt bei Optimierungsproblemen wie der Routenplanung im Schienenverkehr, beim Umgang mit natürlicher Sprache, etwa bei der Spracherkennung, maschinelle Übersetzung, bei Suchmaschinen im Internet oder social bots. KI revolutioniert die Signalverarbeitung etwa bei Bilderkennung, Gesichtserkennung, Mustererkennung usw. und wird bei humanoiden Robotern und autonomen Waffensystemen benutzt. Heute sind sich die Softwareingenieure mit den Mathematikern einig, dass sich die meisten technischen Fragen als Optimierungsprobleme formulieren lassen und damit in den Bereich der KI fallen.

Eine weitere wahrscheinlich ebenfalls revolutionäre Technik ist die Blockchain, eine Technologie aus kryptographischen Verfahren und Peer-to-Peer-Technologie für globale, dezentrale und manipulationssichere Netzwerke zwischen einander unbekannten Partnern zur Durchführung regelkonformer Transaktionen ohne eine zentrale Instanz. Die Blockchain ist als universelle Beglaubigungstechnik und zur Validierung von Identitäten einsetzbar. Virtuelle Güter wie Zertifikate, digitale Bilder, Musikstücke und alle anderen immateriellen Werte lassen sich verbindlich handeln, aber auch Zugangsberechtigungen. Für viele materielle Dinge wie Immobilien oder Autos ermöglicht die Blockchain eine sichere digitale Verbriefung. Die Blockchain verändert möglicherweise für die meisten von uns eine grundlegende Möglichkeit unseres sozialen Zusammenlebens ganz entscheidend, nämlich unsere Möglichkeiten zu lügen. Und Vorsicht: die Lüge ist trotz all der Verbote, mit denen sie im Lauf der Geschichte überzogen wurde, keinesfalls nur ein Destruktionselement, sie ist eine hoch entwickelte, oft genug Schutz bietende Kulturtechnik, ohne die die Wahrheit wahrscheinlich im Zoo der Sinnzusammenhänge dastehen würde wie ein gerupftes Huhn.

Eine weitere revolutionäre neue Technik ist crispr cas9. Man stelle sich ein Genome Editing vor, bei dem sich Gene gezielt schneiden und verändern lassen und möglicherweise im Lauf der Zeit so modifizierbar werden wie heute Texte.


Revolutionen erwarten wir heute nicht mehr von Menschen, die auf die Straße gehen, sondern eher von Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen und neue Techniken einsetzen. Was die erste, zweite und dritte industrielle Revolution angetrieben hat, ist für die meisten Menschen keine offene Fragen mehr. Sie sind durch ihre Schulbildung so sozialisiert, dass sie ganz bestimmten Aussagen einfach nur zustimmen. Genau! Kohle und Stahl. So habe ich es natürlich auch gelernt. Ein solches Bevölkerungszuwachs in so kurzer Zeit, das ist erheblich! Und in der Tat ist es das auch. Ein solcher Eingriff in die Natur wie durch den Massenkonsum – war das nicht für jeden absehbar?


Trotzdem müssen wir mit einer kurzen methodischen Reflexion darauf beginnen, was wir eigentlich unter einer gravierenden Veränderung verstehen wollen. Wir sind auch der Meinung, dass da lax gesagt gerade riesige Veränderungen stattfinden, aber was macht eigentlich eine Veränderung zu einer riesigen Veränderung? Es gibt Leute, die fest davon überzeugt sind, es finde eine bedeutende Veränderung statt, weil ihre Tochter gerade zur Erstkommunion gegangen ist, weil in Südostasien ein Krieg ausgebrochen ist oder nur weil Apple ein neues iphone auf den Markt bringt oder BMW einen neuen 5er. Wenn jemand begeisterter Apple-Kunde ist oder wenn er für Apple beruflich tätig ist, wird er Gründe haben, das so zu sehen. Und auch bei den anderen Beispielen gibt es absolut plausible Gründe, sie als gravierende Veränderungen zu bewerten. Ein Liebhaber von Aquarien kann es für eine gravierende Neuigkeit halten, wenn sich der PH-Wert des Wassers verändert hat, in dem seine Fische schwimmen. Und besser wäre es, wenn es jedermann für relevant halten würde, dass sich die weltweit durchschnittliche Jahrestemperatur um nicht mehr als 1,5 Grad erhöht. Alle die eben genannten Einschätzungen sind von einer bestimmten Warte her gesehen plausibel. Auch jeder Historiker muss sich situieren. Das gilt für uns genauso. Andernfalls brauchen wir gar nicht erst anzufangen, uns über den Menschen 4.0 Gedanken zu machen.


Wir müssen also zuerst überhaupt einmal kenntlich machen, wann wir von einer bedeutenden Veränderung sprechen werden. Dafür wollen wir ein vielleicht etwas ungewohntes Vorgehen wählen. Wir wollen eine Art Längsschnitt durch die Natur- und Menschheitsgeschichte legen. Wir meinen, dass wir bessere Chancen haben, sichtbar zu machen, was wir unter einer bedeutenden Veränderung verstehen, wenn wir uns eine Perspektive verschaffen, in der z.B. ein ganz modernes Phänomen wie Bitcoins nicht wie gewohnt in der direkten historischen Nachbarschaft zu anderen traditionellen, aber ebenso modernen Währungen diskutiert wird, sondern neben dem scheinbar Entferntesten, z.B. neben den Bemühungen um den Jagderfolg eines Jägers und Sammlers im Paläolithikum vor 20.000 Jahren.

Außerdem würden wir dabei gerne eine qualitative Aussage darüber machen können, ob sich, wie wir Philosophen sagen, etwas Wesentliches ändert oder nur etwas Akzidentielles, nicht nur eine Technik, ein bestimmtes menschliches Verhalten, sondern der Mensch selbst. Dafür würden wir ebenfalls Kriterien brauchen. (Würde man z.B. einen biologischen Begriff des Menschen anlegen und müsste man erfahren, dass es sich nach und nach durchsetzt, mit einer Technik wie crispr cas9 das menschliche Genom technisch umzuschreiben, dann hätten wir Grund zu sagen, dass der Mensch wirklich den Menschen selbst verändert. Wir glauben diesbezüglich allerdings, dass man sich ein Stück Gedankenarbeit spart, wenn man bei der Suche nach essentiellen Entwicklungen ständig auf die biologische Evolution hinweist, sei es auf die biologische Entwicklung, für die die Natur Millionen Jahre benötigt oder auf die von Menschen gemachte. Was Mensch-Sein heißt, würde sich auch dadurch stark verändern, dass sich das durchschnittliche Alltagsbewusstsein im Lauf der Zeit wesentlich verändert.) Um das zu bemerken, eignet sich ein Längsschnitt natürlich auch besser als der Vergleich von Menschen, die im Abstand von nur wenigen Jahrhunderten in derselben Kultur leben. Veränderung würden sonst von einfachen synchronen Verschiedenheiten verwischt.

Drittens brauchen wir ein Kriterium, aus dem heraus wir die historischen Veränderungen, die wir beschreiben, überhaupt relevant finden. Das sind sie ja nicht einfach nur wegen ihrer Größe. Selbst wenn wir deutlich machen könnten, dass gravierende Veränderungen stattfinden, die den Kern des Menschseins selbst berühren, heißt das noch lange nicht, dass uns das auch tangieren müsste. Wenn man weit genug auf Distanz geht, wird bekanntlich aus der dramatischsten Veränderung ein statistisches Zufallsereignis ohne Bedeutung. Wir könnten uns danebenstellen, ohne Partei zu ergreifen. Das wollen wir aber nicht. Wir müssen also drittens auch das ethische Kriterium zum Thema machen, für das wir Partei nehmen.


Für uns ist das Jeffersons grandiose Formel von den drei Garantien Life, liberty and the pursuit of happiness. Es ist die Top-Formulierung der ideellen Grundlage des modernen Demokratiebegriffs.


In Life, liberty and the pursuit of happiness haben wir unsere notorisch unscharfen Kriterien, auf die es uns aber gerade ankommt. Wir betrachten sie als durchaus gefährdete, fragile Ideale. Wenn es dazu kommen sollte, dass man sie kaum noch wiedererkennt, würden wir also Alarm schlagen wollen.


Jeffersons Schwäche


Jeffersons Formel hat allerdings auch Schwächen, die begonnen haben, uns einzuholen und auf uns zurückzufallen. Gemeint ist in Jeffersons Formel jeder einzelne individuelle Mensch. Life, liberty and the pursuit of happiness, könnte ebenso gut für Büffel gelten, die millionenfach aus fahrendem Zug nur so zum Spaß abgeschossen wurden. Warum sollte nicht auch jedes Tier oder überhaupt jedes Leben geschützt sein? Es gibt ein generelles Abgrenzungsproblem. Wo hört Mensch auf und wo fängt Tier an? Ein vergleichbares Abgrenzungsproblem hatte der antike Demokratiebegriff nicht. Die Garantien galten dem Bürger, nicht dem Menschen. Wer Vollbürger war und damit vollwertiger Grundrechteträger, bestimmte die Polis. Autark war die Polis. Sie entschied, wer von den Fremden in der Stadt irgendwann kein Fremder mehr war, sondern Bürger. Rom fühlte sich dabei ebenso frei wie Athen.


Das Recht auf Leben zu garantieren, scheint den meisten von uns heute so selbstverständlich wie unverzichtbar. Wir merken kaum noch, dass darin ein Widerspruch liegt. Wäre das Lebensrecht des einzelnen Individuums wirklich so selbstverständlich, wie es uns zu sein scheint, müsste es nicht eigens formuliert und immer wieder erkämpft werden. Wir können uns durchaus Gesellschaften vorstellen, in denen ein Lebensrecht des Individuums unvorstellbar, unmöglich oder die Forderung danach schlicht überflüssig ist. Der Polis als sich selbst erhaltendes autarkes Gebilde, wie Platon und Aristoteles sie sahen, musste sich jedes individuelle Leben unterordnen und konnte durchaus kein bedingungsloses Recht für sich einfordern, ganz unabhängig, welche der drei idealtypischen Regierungsformen Königtum, Oligarchie oder Demokratie gerade angesagt war. Garantien sind Sache von Autarkie. Für Aristoteles waren Familie und Haushalt keine autarken Gebilde. Auch nicht das Dorf als Gemeinschaft von Familien, sondern erst ein Verband aus Dörfern, denen es als Polis gelang, sich nach außen wehrhaft abzugrenzen, aber im kontrollierten Verkehr mit dem Außen im Innern den Eigenbedarf zu garantieren. Ein Lebensrecht des Einzelnen kann es da nur geben, solange die Polis lebt. Es ohne diese Bedingung zu fordern, wäre sinnlos.


Ebenso sind nomadische Kleingruppen vorstellbar, die bei äußeren Konflikten anders als bäuerliche Bevölkerungen die Möglichkeit haben, auszuweichen und in denen der spezifische Schutzbedarf nach außen nicht notwendig entsteht.


Reduktionismus

Es ist klar, dass solche Hypothesen zu abstrakt und viel zu punktuell sind, um das Leben von Menschen in einer antiken Polis oder in einer steinzeitlichen Nomadensippe zu beschreiben und erst recht, um irgendeine empirische Aussage darüber zu machen. Aber erinnern wir uns an die ungeheure Reduktion, mit der Newton äußerst erfolgreich die Physik als Wissenschaft einläutet. Er greift aus dem gesamten Universum die Sonne, ein an sich schon äußerst komplexes Objekt und die Erde, ein ebenso komplexes Objekt heraus und macht daraus zwei Massenpunkte und nicht mehr. Eine rabiater Abstraktion und im Grunde auch ein größerer Fehler ist kaum vorstellbar. Die Vorhersagen waren dennoch nicht schlecht, und es erforderte die gesamte Geschichte der modernen Physik, Komplexität sukzessive hinzuzunehmen, sie modellhaft zu beschreiben und die Vorhersagen nachweisbar zu verbessern.

Wenn man über Veränderungspotentiale durch technische Entwicklungen etwas Sinnvolles aussagen will, ist man ebenfalls zu Reduktionen gezwungen. Geschichte wiederholt sich nun einmal nicht, und auch die bestgemeinte Ableitung aus dem Gegenwärtigen auf die Zukunft hin ist immer isolierende Abstraktion von etwas, von dem man jetzt schon weiß, dass es komplexer und fremdartiger sein wird, als sich gegenwärtig überhaupt vorstellen lässt. Mit anderen Worten: man muss mit dem Neuen rechnen. Es wäre falsch, einfach zu unterstellen, dass Menschen mit neuen Techniken einfach nur genau das gleiche weitermachen, was sie mit den Vorgängertechnologien immer schon gemacht haben, nur einfach effektiver. Interessanter wird es an den Stellen, an denen sie dadurch auch in unvorhersehbarer Weise ihre Verkehrsformen untereinander verändern und sich selbst bis hinein in ihre eigene Weltwahrnehmung. Also keine Angst vor Abstraktionen. Es wäre geradezu traumhaft, auf ähnlich erfolgreiche Abstraktionen zu stoßen wie Newton. Aber wenn die Zukunft nicht empirisch beobachtbar ist, einfach deshalb, weil sie in dem Augenblick, in dem sie sich beobachten lässt keine Zukunft mehr ist sondern Gegenwart, auf welche reduzierten Systeme lohnt es sich dann jetzt zu blicken? Was hat das Potential, bestehende Ordnungen nachhaltig zu verändern?


Menschenrechte als Preisgeld


In der Vergangenheit war die gesellschaftliche Geltung ethischer Prinzipien regelmäßig mit erwarteten oder bereits eingetretenen wirtschaftlichen und militärischen Nutzen-Effekten verbunden. Welche ethischen Normen innerhalb einer Gesellschaft als gültig anerkannt werden und Rechtsform bekommen, hat immer auch den Charakter eines Versprechens. Menschen versprechen sich etwas untereinander, weil sie sich in aller Regel etwas davon versprechen. Und meistens richteten sich ihre Versprechen nicht an alle, sondern nur an jeweils bestimmte Gruppen von Menschen, an Männer, nicht an Frauen, an freie Bürger, nicht an Fremde oder Sklaven, an Erwachsene, nicht an Kinder, an den Adel, nicht an Bauern, an Gläubige, nicht an Ungläubige. Das war historisch recht verschieden.


Die UN-Menschenrechtscharta sieht das heute anders, das Deutsche Grundgesetz ebenfalls. Menschenrechte werden heute als Rechte jedes einzelnen Menschen verstanden. Bei der Entwicklung, die dahin geführt hat, dürften die Nützlichkeit und die ethische Bewertung jedes einzelnen allerdings kaum zu trennen sein. Die Französische Revolution etwa brauchte jede verfügbare Hand im ersten 'totalen Krieg' gegen den vereinigten europäischen Adel, und das Frauenwahlrecht in Deutschland wäre ohne die durchgängig aktive Rolle der Frauen im ersten Weltkrieg kaum zustande gekommen.

Anders ausgedrückt: Auch wenn die politischen Ideen zuerst in den Köpfen von Philosophen formuliert wurden, war die gesellschaftliche Durchsetzung ethischer Maximen bisher regelmäßig ein Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse, der Anerkennung von Leistungen und einer kollektiven Selbstverpflichtung auf zukünftige Leistung. Wenn es den Menschen in stürmischen Phasen der Geschichte beliebte, bestimmte politische Ideen wie den Stern von Bethlehem vor sich her zu tragen, heißt das nicht, dass solche ethischen Wertschätzungen bereits deshalb auf Dauer Geltung behalten, weil sie einmal etabliert sind. Mit einiger Sicherheit dürfte alles erhebliches Potential haben, das Leben der Menschen und die Regeln ihres Zusammenlebens zu verändern, wovon abhängt, wer wem im arbeitsteiligen Zusammenleben zu was nützlich ist.


Heute spricht viel dafür, dass die Menschen zukünftig einen Großteil ihres wirtschaftlichen und militärischen Nutzens verlieren könnten, wenn auch nicht morgen, so doch übermorgen. Damit stellen sich eine Reihe von Fragen nach ihrem Zusammenleben. Es fragt sich, ob die Menschen nicht aufgeben könnten, sich untereinander unterschiedslos individuelle Menschenrechte zuzusprechen. In der Menschheitsgeschichte hatten sie dieses Bedürfnis fast nie.

Es fragt sich, ob sie, um das zu verhindern, nicht zu einer neuen Form von Selbstbewusstsein kommen müssen? Um Krieg zu führen, braucht man keine Millionen von Soldaten mehr. Und der Anteil der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen lag 1900 in Deutschland bei 38 Prozent (entsprechend ca. 10,5 Mio. Beschäftigten), heute liegt er nur mehr bei knapp 2 Prozent. Wir haben die Produktivitätsentwicklung an anderer Stelle detailliert beschrieben. Dagegen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Produktivitätsentwicklung nicht einfach nur zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt hat, sondern dass sie neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen geschaffen hat. Die Arbeitsplätze wurden zunehmend in den tertiären Sektor, in den Dienstleistungsbereich verschoben. Heute sind in Deutschland mehr Menschen berufstätig als jemals zuvor, obwohl seit langem die Körperkraft des Menschen beruflich nur noch in Ausnahmefällen gefragt ist. Aber bleibt es so, dass diese Entwicklung dennoch mehr Arbeitsplätze schafft, als sie an anderer Stelle einspart? Warum sollte das sicher sein?


Dafür, dass die Menschen zukünftig einen Großteil ihres wirtschaftlichen und militärischen Nutzens verlieren, dass sich ihre Verkehrsformen untereinander dramatisch verändern werden, dass sich stark verändert, was ganz normalen Menschen alltäglich bewusst wird, was von ihrer Außenwelt und von ihren Sozialbeziehungen sie überhaupt bemerken und woran sie sich ausrichten, stehen Infotech und Biotech Technologien der jüngsten Zeit wie künstliche Intelligenz, Blockchain oder crispr cas9 für das Editing von Gencode.


Wirklich brisant werden diese Techniken künftig deshalb, weil beim inzwischen erreichten Stand der Digitalisierung immer mehr von dem, worauf Menschen aus welchem Grund auch immer überhaupt achten, digitale Protokolldaten liefert, angefangen bei ihren eigenen körperlichen Zuständen und Prozessen, sei es eine behandlungsbedürftige Krankheit, ihr eigener Körper beim Joggen oder nur der Ausdruck einer momentanen Emotion auf der Aufnahme einer Überwachungskamera. Automatisch protokolliert werden die Aufenthaltsorte eines jeden Handynutzers, aber auch von immer mehr Dingen zu jeder Zeit, seien es digitale Protokolle der Zustände von Dingen in einer Lieferkette, seien es Protokolle jeglicher Konsumtion von der Fahrkarte bis zum Stromverbrauch, die private, berufliche und politische Kommunikation untereinander, das gesamte Wirtschaftsleben, der ganz überwiegende Teil der Verpflichtungen, die Menschen untereinander eingehen und die gesamte private und staatliche Verwaltung im Hintergrund. Institutionalisieren und kontrollieren ließ sich seit den ersten Hochkulturen Mesopotamiens oder Ägyptens vor vielleicht 6000 Jahren immer schon der Teil der Realität, der sich schriftlich fixieren ließ, z.B. als Landbesitz oder Steuerpflicht. Es lässt sich – eine aufwändige staatliche Verwaltung mit funktionierendem Kataster vorausgesetzt – schon lange sicher prüfen, ob ein bestimmtes Stück Land einer bestimmten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt gehört hat oder nicht, aber es ließ sich bisher nicht sicher sagen, wem seine möglicherweise untreue Geliebte zum selben Zeitpunkt ihr Lächeln geschenkt hat.Eine entsprechende Beobachtung wäre zwar möglich, aber viel zu aufwändig gewesen. Wir bewegen uns tendenziell in eine Richtung, in der selbst solche sehr persönlichen Lebensäußerungen digitale Spuren hinterlassen und wissen nicht, wie wir das finden sollen. Eine immer engmaschigere Erfassung, Speicherung und Verarbeitung digitaler Protokoll-Daten praktisch beliebiger Aktivitäten und Zustände von Menschen und Dingen mit immer kürzere Reaktionszeiten ist möglich geworden, die autonomes Fahren, ferngesteuerte Medizineingriffe oder die vernetzte Industrieproduktion ermöglicht.


All das sind Fähigkeiten, die im einzelnen unglaublich kostengünstig, in der Summe jedoch nach wie vor extrem ressourcenintensiv sind. Die Digitalisierung tendiert dazu, beliebig umfassend zu werden, was die Vielfalt der protokollierten Sachverhalte und die regionale Ausdehnung der Erfassung angeht.


Innehalten und nachdenken


Über einen Nomaden in Mali sind zur Zeit so gut wie keine Daten bekannt, jedenfalls extrem viel weniger als über einen Rechtsanwalt in New York oder einen selbstfahrenden Staubsauger in Berlin. Menschen und Dinge sind Gegenstand des selben Dateninventars. Wir verfügen bisher kaum über Kriterien, um zu beurteilen, ob der malische Nomade weiterhin eine Chance behält, in der Welt vorzukommen, wenn er nicht auch in den Daten über die Welt vorkommt. Das ist nicht nur eine Gefahr für den malischen Nomaden, sondern wirft auch ein Licht auf den möglicherweise schwachen Stand unserer eigenen Grundwerte. Die Daten sind das Kataster der Welt. Die inzwischen erreichte Datendichte verändert das menschliche Zusammenleben drastisch, je nach dem, was man mit den Daten technisch anfangen kann und politisch und ökonomisch wirklich damit anfängt. So groß die Wüste ist, der Platz für Nomaden ist bereits in der Vergangenheit knapp darin geworden. Diese Tendenz könnte noch zulegen. Einiges vom neuen Tempo lässt sich heute bereits absehen. Technisch scheinen einige gut erkennbare Schwierigkeiten lösbar zu werden, die die Datenverarbeitung und die Integrität der Daten betreffen.


In den 40er Jahren standen wir schon einmal an einem solchen Punkt, an dem technische Lösungen in Los Alamos mit einem Mal politische und moralische Grenzen verschoben haben und es besser gewesen wäre, ruhig drüber nachzudenken, statt die Bombe zu zünden. Aber die Zeit war damals keine ruhige und ist es auch heute nicht.


Man kann sich eine sehr statische Datenverarbeitung vorstellen, die nichts dazu lernt, ob sie mit Hunderttausenden von Datensätzen arbeitet oder mit Milliarden.

Man kann sich eine Datenverarbeitung vorstellen, die nur so aussieht, als ob sie aus der Arbeit mit großen Skalen lernt, die aber immer nur ein und dasselbe Ziel verfolgt, nur eben perfekter.

Und man kann sich eine Datenverarbeitung vorstellen, die sich lernend verändert, die also wirklich lernt und bei der Arbeit mit großen Skalen und vor allem mit immer vielfältigeren Daten wirklich auch ihre eigenen Bewegungsmuster weiterentwickelt. Darüber wird heute nachgedacht.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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