Zunehmende Produktivität
Michael Seibel • Konsumautonomie • Lohnarbeit und Eigentum (Last Update: 24.07.2018)
Eine zweite Auffassung von individueller Selbstbestimmung ist heute wesentlich präsenter als die primäre Vorstellung vom Menschen als dem praktischen Veränderer, nämlich die Vorstellung von Wahlfreiheit als Kunde am Markt. Als das bezieht sich Selbstbestimmung nicht auf die gesamte Breite der kulturellen Verkehrsformen, sondern allein auf den Konsum als Teilbereich davon. Warum diese Beschränkung für die meisten plausibel ist, liegt auf der Hand. Im Arbeitsprozess weisungsgebunden, wird politische Autonomie periodenweise delegiert und lediglich im Konsum wird täglich frei gewählt, soweit das Einkommen eben reicht. Kein Wunder also, dass der sich selbst bestimmende Mensch vor allem als der Geld besitzende Konsument erscheint.
Das scheint mir auch die Stelle zu sein, an der die Erwartung geboren wird, ein bedingungsloses Grundeinkommen könne ganz generell die Autonomie des Einzelnen fördern und ihn nicht nur gegen Armut sichern. Es trifft zu, dass, wer über ein existenzsicherndes bedingungsloses Grundeinkommen verfügt, unattraktive Arbeitsangebote ablehnen kann und so Zeit gewinnt. Damit werden seine Chancen auf eine höherwertige Arbeit allerdings nicht per se besser. Das Geförderte ist zunächst nur die Freiheit des Einzelnen als Konsument.
Autonomie des Einzelnen ist die Fähigkeit, die eigenen Lebensverhältnisse als veränderbar zu denken und in Gesellschaft entsprechend zu handeln. Wenn man wissen will, wodurch sie sich fördern lässt, sollte man nachfragen, was sie behindert. Die wichtigsten Verhinderer: Ein Denken, das die eigene Lage nicht bestimmen kann, ein Denken, das sich selbst die Fähigkeit aktiv einzugreifen abspricht, ein Denken, dem die diskursiven und praktischen Fertigkeiten fehlen, die jeweils aktuell nötig wären, um selbstgesetzte Ziele überhaupt anzugehen, ein Handeln, das auf keine gesellschaftliche Resonanz trifft. Daraus ergibt sich umgekehrt, was Autonomie fördern würde. Diskursfähigkeit, Politikteilnahme, Bildung, Skills, eine Menge Arbeit und Erfahrung, und sicher auch Geld, aber eher das Geld, das ein Wahlkampf kostet, eine Unternehmensgründung oder bescheidener eine Ausbildung, Einflussnahme auf andere, also kein bedingungsloses Geld, sondern Geld unter den Bedingungen des jeweils spezifischen Vorhabens. Autonomie des Einzelnen hat demnach wenig mit Geldbesitz zu tun, der sein Maß an der persönlichen Subsistenz hätte.
Lohnarbeit und Eigentum
Kaum gestellt, verschwindet die Frage nach der Autonomie des Einzelnen und ihren Wirkungen auf das Gemeinwesen sofort wieder hinter der Frage der sozialen Absicherung des Einzelnen in Zeiten der Automatisierung.
Hat die Gesellschaft ökonomisch, aber auch kulturell etwas davon, wenn sie jeden Einzelne wählen lässt, ob er einer Lohnarbeit nachgeht oder nicht? Oder wird die Gesellschaft dadurch ärmer, fauler und gleichgültiger? Die Verweigerung der Autonomie bei der entscheidenden Frage der Arbeitsaufnahme wäre nachvollziehbar, wenn sie der Gemeinschaft wirklich schaden würde. Die Frage wird bis heute nicht auf dem Niveau und im Hinblick auf Kriterien gestellt, wie sie die Autonomiediskussion beibringt, nämlich nach Menschen, die aristotelisch gesagt, der Gesellschaft praxis statt poiesis zu bieten haben. Lohnarbeit wird als unantastbare Ertragsquelle genommen, das Maß ihrer freiwilligen oder unfreiwilligen Ausübung, – völlig egal ob aktuell unersetzbar durch Maschinenarbeit oder mechanisch und simpel – klärt als Wert an sich, ob die Gesellschaft etwas gewinnt oder verliert und sei es das BIP-Äquivalent des Mindestlohns.
Die Gedankenverbindung von Arbeit und Einkommen steht fest wie eh und je.41 Vor den Wahlen hört man aus allen deutschen Parteien, jemand, der sein Leben lang hart gearbeitet habe, gemeint ist Lohnarbeit, dürfe im Alter nicht arm sein. Anstrengung und Einkommen gehören für die meisten Menschen zusammen. Lohnarbeitswilligkeit gilt als Kulturideal. Die selbstverständliche Reproduktionsleistung der eigenen Person und der eigenen Familie, der Königsweg zur Realisierung der persönlichen Erwartungen besteht in Lohnarbeit.
Bei 45 Mio. Berufstätigen in Deutschland ist diese Vorstellung bei so gut wie jedem zu finden. Sie ist das Abendgebet der säkularen Gesellschaft. Sie zu verändern dürfte Jahrzehnte dauern, selbst wenn sie nicht mehr ganz stimmig ist. Was noch stimmt: Wichtigste Einnahmequelle in Deutschland sind die Einkünfte aus Erwerbstätigkeit. Was aber auch stimmt: Die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung verfügt gerade einmal über 3% des Eigentums. Mit anderen Worten, die überwiegende Zahl der Gehaltsempfänger lebt sozusagen von der Hand in den Mund. Damit ist nicht gemeint, dass ihr Lebensstandard durchgängig zu gering ist, sondern, dass die Zeitspanne, in der man sich leisten kann, ohne Lohnarbeit den Lebensstandard zu halten, sehr kurz ist. Das reichste eine Prozent der Bevölkerung verfügt über ein Drittel des gesamten Eigentums und hat das Problem nicht.
Das heißt durchaus nicht, dass diese Vermögensverteilung per se ungerecht ist. Wenn die bestehende Vermögensverteilung ein Wirtschaftssystem repräsentiert, das es den meisten Menschen ermöglicht, diese wohlhabende Version des Lebens von der Hand in den Mund zu führen, ist dagegen zunächst nicht viel zu sagen. Zunächst spricht nichts gegen die Ansicht von John Rawls, dass Ungleichheit solange gerechtfertigt ist, wie es dem darin am schlechtesten Gestellten besser geht als unter Bedingungen von Gleichverteilung. Eine Situation, in der viele arm aber ungefährdet sind und nur wenige reich ist in der Tat einer Situation vorzuziehen, in der alle hungern. Das sagt zunächst einfach nur, dass man über Reichtumsverteilung nicht streiten sollte, wenn man keine weiteren Kriterien zu ihrer Beurteilung hat.
Trotz der Tatsache, dass Eigentum heute überwiegend nicht mehr durch Lohnarbeit erlangt wird, ist die Mehrzahl der Menschen bei uns der Meinung, dass es die wertschöpfende Qualität ihrer Arbeit ist, die sie berechtigt, bezahlt zu werden und dass unter Eigentum typischerweise das Auto oder die Eigentumswohnung zu verstehen ist, die aus Nettolöhnen bezahlt werden. Kaum angesprochen wird, dass der Prototyp des wirtschaftlich relevanten Privateigentums Kapitaleigentum ist. Dennoch wird in Formeln von Liberalen, die den Spitzensteuersatz zu hoch finden, gefordert, dass Arbeit sich wieder lohnen müsse, so argumentiert, als biete Lohnarbeit und nur diese die Aussicht auf persönlichen Wohlstand für jedermann. An traditionellen Lohnarbeitsvorstellungen hält ebenso eine Sozialdemokratie fest, die ein Recht auf Lohnarbeit fordert oder eine sächsische CDU-Regierung, bei der das Recht auf Arbeit Eingang in die Landesverfassung gefunden hat42.
Dahinter mäandert der Gedanke, dass allein menschliche Arbeit Wert schafft und dass den Haushalten genau aus diesem Grund Einkommen aus Arbeit zufließen sollte.
Zunehmende Produktivität
Bei zunehmender Produktivität sagt die Anzahl der Arbeitsstunden praktisch nichts mehr über das Arbeitsergebnis aus außer der puren Summe. Bei geringer Produktivität ist es in der Tat ganz und gar die Leistung des Arbeitenden, die das Arbeitsergebnis erbringt. Bei hoher Produktivität steckt das Geheimnis der Produktivität nicht im Arbeitenden, sondern in den verwendeten Arbeitsmitteln und Produktionsprozessen.
Nach Angaben des
Deutschen Landwirtschaftsverbands lag der Anteil der in der
Landwirtschaft Erwerbstätigen 1900 bei 38 Prozent (entsprechend
ca. 10,5 Mio. Beschäftigten), heute bei nur noch knapp 2
Prozent. (oder ca. 0,8 Mio. Beschäftigten). Der Hektarertrag für
Weizen lag vor 100 Jahren bei 18,5 Dezitonnen. Heute (Durchschnitt
2006 bis 2011) liegt der Hektarertrag mit 73,9 Dezitonnen viermal so
hoch. Ein Landwirt erzeugte 1900 Nahrungsmittel, um etwa 4 Personen
ernähren zu können, 2010 sogar 131 Personen (ohne Erzeugung
aus Auslandsfuttermitteln). Trotz dieser starken
Produktivitätssteigerung blieb Deutschland stets ein
Nettoimportland an Agrar- und Ernährungsgütern. 1900 lag
der Selbstversorgungsgrad bei Nahrungsmitteln bei 87 Prozent. Am
Anfang des 21. Jahrhunderts (2010/11) liegt der deutsche
Selbstversorgungsgrad bei etwa 85 Prozent. 1900 gab es im damaligen
Reichsgebiet noch über 5,6 Mio. Betriebe mit gut 26 Mio. Hektar
landwirtschaftlicher Nutzfläche und 20 Mio. Großvieheinheiten
an Nutztieren. In dem heutigen Deutschland sind es 287.000 Betriebe,
die knapp 16,7 Mio. Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche
bearbeiten und in der Tierhaltung 12,5 Mio. Rinder, 27,7 Mio.
Schweine und 129 Mio. Stück Geflügel halten. Ihre
Gesamterzeugung liegt gegenüber dem weitaus flächengrößeren
Deutschland in den Grenzen von 1900 um fast das 3-fache höher.
Man wird nichts von einer Entwicklung wie dieser verstehen,
wenn man allein auf die Zahl der Beschäftigten schaut. Ganz im
Gegenteil wird man gerade beim Blick auf diese Zahl merken, dass es
etwas anderes sein muss, das den Produktivitätszuwachs antreibt
als die Beschäftigten selbst, denn die werden weniger und
weniger, bis sie am Ende fast ganz verschwunden sind. Irgendwann wird
es absurd zu meinen, was die Arbeit produktiv macht, sei der eine
Arbeiter, der am Ende noch auf dem Traktor sitzt. Wer mehr wissen
will, fragt wohl besser den Agraringenieur, der die Prozesse
kontrolliert und weiterentwickelt.
Anmerkungen:
41 „Denn wir haben nicht unordentlich bei euch gelebt, haben auch nicht umsonst Brot von jemandem genommen, sondern mit Mühe und Plage haben wir Tag und Nacht gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen.“ (Lutherbibel, 2. Thessalonicher)
42 Verfassung des Freistaats Sachsen: „Artikel 7 [Menschenwürdiges Dasein als Staatsziel] (1) Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und auf Bildung, als Staatsziel an.“
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